FYI.

This story is over 5 years old.

The Fashion Issue 2013

Katastrophen Made in Bangladesh

Warum sterben immer noch arme Leute für unsere billigen T-Shirts?

Hasan Raza/AP

Wir wissen zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht genau, wie viele von Swapnas Kollegen am 24. November in der Fabrik von Tazreen Fashions ums Leben kamen. Sie nähte gerade an ein Paar Shorts—oder „Halbhosen“, wie sie in Bangladesch genannt werden—als auf dem Boden liegende Garn- und Acrylreste zu brennen begannen. Swapna war erst seit Kurzem schwanger, ihr Mann Mominul arbeitete in derselben Fabrik als Qualitätsprüfer. Als die Feuersirene losging, befahlen die Abteilungsleiter den Hunderten von Arbeitern und Arbeiterinnen unter lautem Geschrei, sich wieder hinzusetzen. Es sei alles in Ordnung. Als die Sirene Minuten später wieder losging, war es zu spät. In drei Treppenhäusern stieg Rauch auf; die Lichter gingen aus. Es gab keine Notausgänge. Swapna wäre lieber gesprungen, als lebendig zu verbrennen, aber alle Fenster waren durch Eisengitter versperrt. Mominul hatte, nachdem das Licht ausgegangen war, die Suche nach seiner Frau aufgegeben, und rannte in eine Ecke auf seiner Etage, wo es einigen Männern gelungen war, das Gitter von einem der Fenster zu reißen. Bauarbeiter hatten versehentlich ein wackliges Bambusgerüst an einer Außenwand stehen lassen und etlichen Arbeitern gelang es, aus dem Fenster runter auf das Dach eines nahegelegenen Schuppens zu klettern. Als er auf dem Schuppendach stand, konnte er zusehen, wie das Feuer die acht Stockwerke der Fabrik hochkletterte. Einige Arbeiter rissen Abluftventilatoren aus den Fenstern und sprangen über 30 Meter in den Tod. Plötzlich krabbelte eine kohlschwarze, schreiende Gestalt das Gerüst herunter auf das Dach des Schuppens. Laut schreiend griff die Gestalt nach ihm. Erst als sie sich beruhigte, erkannte Mominul, dass es sich um seine Frau handelte. Die Arbeiter und Arbeiterinnen der Tazreen-Fabrik im Industriegebiet Ashulia bei Dhaka in Bangladesch hatten T-Shirts, Jeans und Shorts unter anderem für die Walmart-Eigenmarke Faded Glory, für Sears und M. J. Soffe, ein Bekleidungsunternehmen der US-Marine, genäht. Das Geschäft mit der Herstellung und dem Export von Konfektionskleidung wird von Unternehmensberatern, westlichen Geschäftsleuten und Regierungstypen mit „Ready-Made Garments“, kurz „RMG“ bezeichnet, während man in Bangladesch schlicht „Bekleidung“ sagt—so wie in „vor der Bekleidung waren all diese Leute Bauern“. Es begann in den 1980ern, als eine winzige Branche unter der Führung einer Gruppe ambitionierter kleiner Geschäftsleute anfing, von den Standortvorteilen zu profitieren, zu denen unter anderem Kinderarbeit und ein extrem niedriger Mindestlohn gehörten. Doch die Bedingungen sollten sich über die Jahre langsam bessern. Zum Teil war dies darauf zurückzuführen, dass westliche Textileinkäufer wie Walmart und Nike zum Ziel unablässiger Aktivistenkampagnen wurden, in denen die Ausbeuterbedingungen angeprangert wurden. Firmen, die sich auf derartige Infrastrukturen verließen, reagierten, indem sie Standards einführten, die Kinder- und Sklavenarbeit und andere offensichtliche Formen von Missbrauch in Fabriken beseitigen sollten. 1992 veröffentlichte Walmart ein Dokument mit zwölf Standards für Zulieferer, in denen generelle Prinzipien festgehalten wurden, die von einheimischen Fabriken in Bereichen wie Lohn („Zulieferer müssen ein faires Entgelt zahlen“), Gefängnisarbeit („darf nicht geduldet werden“) und das Recht auf den Zusammenschluss in Gewerkschaften (Zulieferer haben dieses Recht zu tolerieren, „solange derartige Gruppierungen in ihrem eigenen Land legal sind“) einzuhalten sind. Ein weiterer Aspekt ist die Sicherheit: „Walmart geht keine Geschäftsbeziehung mit Zulieferern ein, die eine ungesunde oder gefährliche Arbeitsumgebung bieten“. Richtlinien wie diese Vereinbarung von Walmart sind ein Grund, warum das Feuer bei Tazreen Fashions Ende 2012 weltweit für Schlagzeilen sorgte und warum es von allen, von der Redaktion der New York Times bis hin zur US-amerikanischen Arbeitsministerin Hilda Solis, mit dem entsetzlichen Brand der Triangle Shirtwaist Factory von 1911 verglichen wurde: Es hatte etwas von einer anachronistischen Tragödie, wie sie eigentlich nur in einem früheren Zeitalter passieren konnte, als es noch keine „Lieferantenstandards“ gab. Das einzige Problem an dieser Geschichte—welches vielen Mainstream-Zeitungen und anderen Beobachtern entgangen ist—ist, dass es sich dabei um ein Märchen handelt. Das Feuer von Tazreen war nämlich nicht wirklich außergewöhnlich. Seit 2006 sind in Bangladesch 500 Arbeiter bei Fabrikbränden ums Leben gekommen. Regelmäßig werden Arbeiter, die versuchen, Gewerkschaften zu gründen, von staatlichen Sicherheitskräften verprügelt und festgenommen. Die Bangladesh Garment Manufacturers & Exporters Association (BGMEA) hat zusammen mit der Regierung eine neue Einheit geschaffen, die sogenannte Industriepolizei, der Menschenrechtsgruppen vorwerfen, Arbeiter zu schikanieren und einzuschüchtern. Mindestens ein Aktivist wurde entführt und ermordet. Aufstände sind an der Tagesordnung. In dem Monat, nachdem es Swapna und Mominul gelungen war, Tazreen zu entkommen, brachen mindestens 17 weitere Feuer in Kleiderfabriken in Industriegebieten aus.

Anzeige

Hosni Ara Begum Fahima hält ein Plakat mit dem Bild ihres Mannes hoch. Aminul Islam war ein Aktivist und wurde im April 2012 ermordet.

Im Januar flog ich nach Dhaka. Ich wollte mir einen Eindruck verschaffen, was nach dem Feuer in der Tazreen-Fabrik getan wurde und ob es tatsächlich einen Wendepunkt hinsichtlich der Verbesserung der Sicherheitsbedingungen in der globalen Bekleidungsindustrie gab, wie es sich Beobachter erhofft hatten, ähnlich wie nach dem Triangle-Shirtwaist-Brand in der amerikanischen Bekleidungsindustrie. Bangladesch ist mit 5.500 Textilfabriken, die Kleidung für Unternehmen wie H&M und Walmart produzieren, der zweitgrößte Exporteur von Kleidung weltweit. (Auch du trägst wahrscheinlich gerade ein Kleidungsstück, das in Bangladesch hergestellt wurde. Oder deine Mutter.) In Bangladesch leben 150 Millionen Menschen, das sind pro Quadratmeter dreimal soviele wie in Deutschland. Millionen Arbeiter haben die überfüllten ländlichen Regionen verlassen, um Arbeit in einer der Fabriken rund um die Hauptstadt zu finden. Bangladesch hat die niedrigsten Lohnkosten aller textilherstellenden Länder weltweit, mit einem Mindestlohn von rund 30 Euro pro Monat. Ich wollte direkt nach meiner Ankunft zur Tazreen-Fabrik und so holte mich mein einheimischer Verbindungsmann, Syed Zain Al-Mahmood, am Hotel ab. Wir fuhren 24 Kilometer raus aus der Stadt, dann auf einer unbefestigten Straße bis direkt vor die Fabriktore. Es hatte gerade einen Unfall gegeben—ein Einheimischer war mit seinem Motorrad mit einem Polizeilaster zusammengestoßen—und die Sache wurde auf dem Fabrikgelände geregelt. Ich fragte Zain, wer all diese tough aussehenden Männer in Anzügen seien. „Das“, so Zain, „ist die Industriepolizei.“ Von außen schien das Gebäude größtenteils intakt zu sein, und ich brauchte eine Weile, um mir bewusst zu machen, dass wir uns am Schauplatz einer Katastrophe befanden. Die umliegende Gegend sah nicht wirklich heruntergekommen aus. Die Fabrik war umgeben von Bananenstauden und Gemüsebeeten, mit herumlaufenden Ziegen und Kindern. Die Wohnbaracken aus Schlackenbeton, welche die Arbeiter von Privateigentümern (nicht den Fabrikbesitzern) mieten können, waren alles andere als armselig. Sie waren meist alle vier Meter in reinlich gehaltene Räume unterteilt und von ganzen Familien bewohnt, mit einer Stahltür als Eingang. Zain, der auch als Freelancer für das Wall Street Journal arbeitet, hatte mich einigen Überlebenden vorstellen wollen, die er direkt nach dem Feuer interviewt hatte. Aber als wir aus dem Wagen ausstiegen und einige Jungen, die uns wegen Trinkgelds verfolgt hatten, fragten, wo wir diese Überlebenden finden könnten, meinten diese, dass die meisten in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt seien. „Oder sie haben gerade einen Job in anderen Fabriken gefunden und sind auf der Arbeit.“ Zain fragte die Jungs noch etwas anderes auf Bengalisch—eine Bitte, von der ich froh war, dass ich sie nicht selbst stellen musste: „Junge, bring mich zu jemandem, der das Feuer überlebt hat, das etwa 110 seiner Nachbarn ums Leben gebracht hat und der davon vermutlich auf unbeschreibliche Weise gezeichnet worden ist.“ Und los ging’s, wir waren eine Delegation aus Jungen, Hunden und Journalisten, die in einen kleinen Hof zwischen drei Baracken trotteten. Dort stellte uns eine Frau mittleren Alters mit einem gelben Kameez zwei Plastikstühle hin, damit Zain und ich sitzen konnten. Die Überlebenden, die wir hier treffen sollten, wurden gerufen. Neugierige Kinder kamen herbei und scharten sich um uns. Wir lernten zwei junge Frauen kennen, die sich im dritten Stock befunden hatten, als das Feuer ausbrach. Eine von ihnen, Sakhina, war forsch und gesprächig. Sie erzählte uns, dass sie nach dem Feuer einen Job bei einer Fabrik namens Knit-Asia gefunden habe, aber heute nicht zur Arbeit gegangen sei. Die andere, Mahmooda, hatte noch immer zu viel Angst vor Feuer, um wieder in einer Fabrik zu arbeiten. Wir baten sie, uns zu erzählen, was passiert war, was sie taten, und aus den Informationen aller Bewohner setzte sich langsam ein Bild dessen zusammen, was an besagtem Tag im dritten Stock geschehen war, wo man 69 Leichen geborgen hatte. Am Tag des Brandes waren über 1.100 Leute zur Arbeit gegangen. Sakhina und Mahmooda hatten beide ihre Dörfer auf dem Land vor sieben Jahren verlassen, um bei Tazreen zu arbeiten. Sakhina war bis vor acht Monaten als Verwalterin für die Baracken angestellt gewesen, entschied dann aber, dass sie in der Fabrik mehr Geld verdienen könne. Am Abend des Feuers hatte sie die Arbeit einen Moment lang unterbrochen und die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Ein Abteilungsleiter sei dann zu ihr gekommen, erzählt sie. „Er fragte mich: ‚Sakhina, betest du? Oder schläfst du?‘“ Dann ging die Feuersirene los. „Wir hatten einige Tage vorher eine Brandschutzübung gehabt. Das hat mir das Leben gerettet.“ Ich dachte, sie mache einen Scherz. „Ich hatte vorher noch nie in der Textilbranche gearbeitet!“, fuhr sie fort. „Ich hätte nicht gewusst, was die Sirene zu bedeuten hat. Der Abteilungsleiter hat die Arme gehoben und uns aufgefordert, uns hinzusetzen. Wir sollten drinbleiben. Aber ich sagte ihm, wenn es kein Feuer ist, komme ich gleich zurück. Und ich bin die Treppe runtergegangen. Als ich zurückkam, war alles voller Rauch und die Leute sprangen aus den Fenstern.“ Mahmooda war unterdessen geblieben. Als das Feuer die Lampen zerstörte, schaltete sie die Taschenlampe an ihrem Mobiltelefon ein, um damit zum Fenster und dem Bambusgestell zu finden. Als das Feuer zum größten Teil gelöscht war, schafften Feuerwehrleute die Leichen nach draußen, um sie auf Fahrradrikschas mit Pritschen, wie sie in Bangladesch für den Transport kleinerer Mengen Baumaterials verwendet werden, abzutransportieren. Später dann veröffentlichte die Feuerwehr die Zahl der Toten: Es sollen genau 100 gewesen sein. Als ich später die einheimische Arbeitsaktivistin Kalpona Akter auf diese Zahl ansprach, lachte sie. „Wie dumm! Es sollen insgesamt genau 100 gewesen sein? Wer soll denn das glauben?“

Anzeige

Ein Junge hält Bestell-formulare von Kmart hoch, die er in den Überresten eines Feuers in der Ashulia Industriezone außerhalb von Dhaka, Bangladesch. gefunden hat.

Am nächsten Tag ging ich zu einer Pressekonferenz der Journalistengewerkschaft im Zentrum von Dhaka. 53 nicht identifizierte Opfer waren nach dem Feuer in einer Zeremonie begraben worden, aber die endgültige Opferzahl stand noch nicht fest (von der „offiziellen“ Zahl der Feuerwehr abgesehen). Eine Gruppe Anthropologiestudenten aus verschiedenen Landesteilen hatte Busse für die Angehörige der Arbeiter organisiert, die nicht gefunden wurden. Der Konferenzraum war voller Reporter, aber da Zain mich an jenem Tag nicht begleiten konnte, war ich nicht ganz sicher, was vor sich ging. Ich wusste, dass die Studenten die Gegend um die Fabrik beobachtet und mindestens 68 Familien gefunden hatten, die angaben, die Leichen ihrer Angehörigen nicht gefunden zu haben; ihre Untersuchungen deuteten darauf hin, dass die tatsächliche Anzahl der Opfer bei 131 lag. Die genaue Anzahl der am Unglücksort gefundenen Leichen ist eines der vielen Rätsel bei diesem Feuer, obwohl sich die New York Times, wie die meisten Medien, auf 112 festgelegt hat. Ich habe mit einer Frau namens Rukiya Begum gesprochen, deren 19-jährige Tochter gerade im vierten Stock arbeitete, als das Feuer ausbrach. Ihre Leiche wurde nie gefunden, sodass Rukiya keinen Anspruch auf die 5.600 Euro hat, die von der Regierung, der BGMEA und einigen ausländischen Firmen als Entschädigung für Angehörige von Verstorbenen angeboten werden. Offenbar warten noch zahlreiche Familien nicht identifizierter Arbeiter auf Entschädigung oder auch nur auf eine offizielle Anerkennung der Tatsache, dass einer ihrer Angehörigen bei dem Inferno ums Leben kam. Ein Mann in einem lilafarbenen Hemd und einem Synthetikblazer kam zu mir. Wir gaben uns die Hand und er fragte mich in gutem Englisch nach meinem Namen. Weil er mir ein wenig seltsam vorkam, sagte ich ihm, ich hieße Jim. Er fragte, warum ich in Bangladesch sei. Es gibt kaum Tourismus in dem Land, also konnte ich nicht behaupten, ich würde Urlaub machen, ohne Verdacht zu erregen. Wenn man als Ausländer in einem Hotel in Dhaka eincheckt, wird man nach dem Namen seiner Firma gefragt—es wird einfach vorausgesetzt, dass niemand je dorthin reisen würde, ohne dafür bezahlt zu werden, und um ehrlich zu sein, ich hätte es sonst auch nicht getan. Unsicher, was ich erzählen sollte, murmelte ich etwas von „nur zu Besuch“. „Wen besuchen Sie?“ „Freunde.“ „Freunde woher? Woher kommen Sie?“ „Aus Kanada.“ „Was machen Sie in Kanada?“ „Ich bin … Künstler.“ „In welchem Hotel wohnen Sie?“ An diesem Punkt der Unterhaltung kam ein Mann mit weißem Hemd und Blazer zu uns rüber und sagte dem Mann im lilafarbenen Hemd etwas auf Bengalisch. Er drehte sich zu mir um und fragte mich, ob ich Tee wolle. Ich sagte ja und er forderte mich auf, mit ihm zu kommen. Wir gingen. Er führte mich zu einem kleinen Garten, wo Journalisten an Plastiktischen saßen und Tee tranken. Er erzählte mir, er sei beim Fernsehen. „Der Mann eben war von der Sondereinheit“, sagte er mit Verweis auf meinen Vernehmer im lila Hemd. „Sie beobachten Diplomaten, Journalisten und Ausländer. Sie schützen sie auch vor Ärger. Sie müssen sich also absolut keine Sorgen machen.“ Dann stellte er die gleiche Frage wie der vorgebliche Mitarbeiter der Sondereinheit: „In welchem Hotel wohnen Sie?“, und ob ich ein Journalistenvisum besäße. Sondereinheit und Industriepolizei sind nur zwei Einheiten einer beeindruckenden Palette an Polizeikräften in Bangladesch. Es gibt noch die thana, die Dorfpolizei; die Kriminalpolizei in Zivil; eine für den Zoll und die für Flughäfen zuständige Abteilung der Sondereinheit; ein paramilitärisches Rapid Action Battalion; und den Geheimdienst National Security Intelligence (NSI), der gelegentlich Arbeitsaktivisten unter Beobachtung hält. Der NSI dient, zu einem gewissen, unbekannten Grad, den Interessen der Regierung. Regierende Partei ist die sogenannte Awami-Liga unter Ministerpräsidentin Sheikh Hasina. Nachdem Bangladesch 1971 seine Unabhängigkeit von Pakistan erlangt hatte, entwickelte sich die politische Praxis im Land langsam zu einem Wettstreit zwischen den korrupten Seilschaften um Hasina und um eine andere Frau, Khaleda Zia, die jetzige Vorsitzende der Bangladesh National Party. Die beiden Parteien haben nur wenige Unterschiede. Wer an der Macht ist, bereichert sich und seine Freunde durch Korruption; die Verlierer warten, bis die Bürger den Status quo leid sind und die Regierung abwählen. Mit Unterstützung der Regierung haben die bengalischen Textilhersteller sich zu einer unternehmerischen Oberklasse entwickelt. Der Bangladesh Garment Manufacturers & Exporters Association (BGMEA) zufolge, beschäftigt die Bekleidungsindustrie 3,5 Millionen Arbeiter und die Anzahl der Kleiderfabriken hat sich seit 1999 nahezu verdoppelt. Die Bekleidungsindustrie sorgt für 80 Prozent der gesamten Exporteinnahmen und bildet quasi die einzige Industrie des Landes. Die Regierung, der nicht daran gelegen ist, eine ihrer wenigen bedeutenden Einnahmequellen zu verschrecken, hat ein doppeltes Interesse daran, die Forderungen der Arbeiter zu ignorieren. Zunächst einmal liegt es im Interesse der Bekleidungshersteller, die Kosten gering zu halten, weil die Preise, die westliche Käufer bieten, so niedrig sind, dass sich damit kaum eine anständige Gewinnspanne erzielen lässt. Zum anderen geht es der Regierung darum, den ausländischen Markt zu halten. „Sie hat das generelle Ziel, Arbeitsaktivisten an ihrer Arbeit zu hindern, die darin besteht, die Löhne zu erhöhen und die Sicherheitsstandards zu verbessern, was letztendlich dazu führen könnte, dass Bangladesch nicht länger der billigste Bekleidungshersteller wäre“, erklärte mir Theresa Haas vom Workers Rights Consortium, einer amerikanischen NGO, die die Arbeitsbedingungen in Bangladesch überwacht. „Das ist ihre Entwicklungsstrategie.“ Die Leiche von Rukiya Begums Tochter Hena, die am 24. November 2012 bei dem Brand in der Fabrik von Tazreen Fashions ums Leben kam, wurde nicht gefunden. Ihre Mutter befürchtet, dass sie zu Asche verbrannt ist.

Bei unserem nächsten Reportagetrip besuchten Zain und ich die Witwe eines ermordeten Arbeitsaktivisten namens Aminul Islam. Sein Fall ist bei Aktivisten und Offiziellen im Westen mittlerweile ziemlich bekannt und wir fuhren 80 Kilometer bis zu dem winzigen Dorf Hijolhati im Norden der Hauptstadt, in dem Aminul gelebt hat. Bei unserer Ankunft fragten wir auf dem Dorfbasar nach dem Weg zu Aminuls Haus. Der Mann, der uns Auskunft gab, erwies sich als der Imam der Moschee, in der Aminul gebetet hatte. Wir erzählten ihm, warum wir gekommen waren, und er meinte, es sei gut, dass wir da seien. „Er war ein rechtschaffener Mann“, sagte er. Wir fuhren eine halbe Stunde eine Schotterpiste entlang und der Imam erzählte uns, dass Aminul, wie viele andere Textilarbeiter in der Gegend, auch jeden Tag den gleichen Weg genommen hatte wie wir; nur war er die Schotterpiste zum Basar zu Fuß gegangen und dann in einen Bus gestiegen. Es muss Stunden gedauert haben. Aminuls Haus war eine unscheinbare kleine Baracke wie die, die wir bereits bei Tazreen kennengelernt hatten. Seine Witwe, Hosni Ara Begum Fahima, schien unwillig, mit uns zu reden, weil ich Ausländer war und Zain zur Oberschicht gehörte. Aber der Imam bestand darauf, dass sie mit uns sprach. 1998 war Aminul mit Hosni und ihrer gemeinsamen Tochter von Hijolhati aus dem Distrikt Sherpur etwa 160 Kilometer weiter im Norden hierhergekommen, weil er in der Textilbranche arbeiten wollte. In der Fabrik, in der er Arbeit fand, wurde er zum Vorsitzenden eines Arbeitervereins gewählt; als solcher war es seine Aufgabe, die Fabrikverwaltung auf Löhne und Sicherheit anzusprechen. Als er aufgrund seiner Aktivitäten entlassen wurde, klagte er gegen den Fabrikbesitzer und gewann, doch anstatt ihn wiedereinzustellen, sperrte der Fabrikant ihn aus und zahlte ihm lediglich seinen monatlichen Lohn weiter. Schließlich erregte er die Aufmerksamkeit des Solidarity Center, einer vom US-amerikanischen Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO unterstützten Gruppe für die Rechte von Arbeitern in Dhaka. So gelangte er in Kontakt mit lokalen Aktivisten. Er wurde von einer bengalischen NGO eingestellt. „Danach kam die Dorfpolizei“, erzählte seine Witwe. „Sie machten die Runde und fragten die Leute, was er für ein Mensch sei, und alle sagten: ‚Er ist ein guter Mann.‘ Und dann kamen sie her und drohten damit, ihn wegzuschaffen.“ Im März 2010 wurde Aminul von der Polizei aufgegriffen. „Er war in Dhaka bei einem Meeting“, erzählte Hosni. „Ich bekam einen Anruf von jemandem, der behauptete, Textilarbeiter zu sein. Ich habe nicht geahnt, dass es die Polizei sein könnte, also erzählte ich ihm, dass Aminul bei einem Meeting sei.“ Beamte stürmten das Büro und brachten ihn nach Mymensingh, einer Stadt etwa 130 Kilometer weiter nördlich. „Sie haben ihn ganz schlimm verprügelt. Doch dann sagte er, er sei hungrig und wolle etwas Obst essen“, erzählt sie. Die Beamten brachten ihn zu einem Obststand. „Sie standen daneben und rauchten. Trotzdem er verletzt war, konnte er fliehen und einen Zug erreichen.“ Später sprach ich mit jemandem, der die Gelegenheit gehabt hatte, sich eine Folterkammer des NSI von innen anzusehen: „Da gab es überall Haken und Ketten, um Leute aufzuhängen—Peitschen und solche Dinge. Alles, was man erwarten würde. Und dann sah ich an einer Seite diesen Ofen mit Eiern darauf. Und ich fragte: ‚Was machen Eier in einer Folterkammer?‘ Und [der Wärter] sagte: ‚Ach, das sind keine echten Eier, die sind aus Gummi. Wir erhitzen sie auf dem Ofen und schieben sie den Leuten in den Anus.‘“ Aus dem Zug rief Aminul seine Frau an, um ihr zu sagen, dass er in Sicherheit sei. „Aber ich glaube, die Telefone wurden abgehört“, sagte sie, „denn als der Zug am Bahnhof ankam, war die Polizei bereits da und wartete.“ Aminul sah die Beamten und schlich in einen der hinteren Wagen. Er lieh sich das Telefon eines Ladenbesitzers und rief einen befreundeten Aktivisten an. Sie konnten später per Motorrad entkommen. Nach diesem Ereignis—und einer weiteren Festnahme, dieses Mal durch die Industriepolizei—sagte Aminul seiner Frau, dass er darüber nachdächte, als Aktivist aufzugeben und Ladenbesitzer zu werden. Aber die Chance dazu sollte er nie bekommen. Am 4. April 2012 besuchte ein Mann namens Mustafiz, ein Freund der Familie, Aminul in seinem Büro in Ashulia. Mustafiz sagte, er wolle heiraten, benötigte dazu aber einen Trauzeugen. Obwohl Aminul Dinge wie diese für die Textilarbeiter ständig tat, irritierte ihn Mustafiz’ Bitte. Er zögerte, Mustafiz insistierte. Schließlich machte Aminul sich auf. Später sollten Bilder auftauchen, die Mustafiz in der Gesellschaft von NSI-Beamten zeigten. In der Nacht, in der Aminul verschwand, wurde Mustafiz’ Haus leergeräumt, die Tür versperrt und sein Mobiltelefon abgeschaltet. Einige Tage später erschien eine Meldung in einer Zeitung aus Tangail, 160 Kilometer östlich von Dhaka, mit dem Foto einer unbekannten Leiche, die in der Gegend gefunden wurde. Die örtliche Polizei hatte für ein Armengrab gesorgt. Später stellte sich heraus, dass es sich um Aminuls Leiche handelte. Hosni zeigte uns einige laminierte Fotos von Aminuls Leiche; man konnte sehen, dass in sein rechtes Knie ein Loch gebohrt worden war, vermutlich in der Folter. Steckten Textilfabrikanten hinter seinem Tod? Die Regierung? Mir wurde später von einigen Leuten der Name und die Mobilnummer eines NSI-Beamten zugespielt, der an Aminuls Entführung beteiligt gewesen sein soll. In Bangladesch herrscht zwar keine große Namensvielfalt, aber dennoch war es schier unglaublich, dass der Name des Beamten ebenfalls Aminul Islam lautete. Ich versuchte sieben oder acht Mal, ihn unter der Nummer zu erreichen, doch nur beim ersten Mal wurde abgenommen. „Was wollen Sie von Aminul Islam?“, fragte der Mann am anderen Ende der Leitung und legte dann auf. Die Reaktion von Walmart auf das Feuer bei Tazreen Fashions beschränkte sich im Wesentlichen auf den Satz: Das ist nicht unser Problem. Im System des Unternehmens für eine ethische Lieferantensuche werden Zuliefererfabriken auf einer Skala von Grün über Gelb und Orange bis Rot bewertet. Die Bewertungen, bei denen grundlegende Sicherheitsmaßstäbe und die Lebensqualität der Fabrikarbeiter berücksichtigt werden, werden über Audits durch externe Prüfer vergeben. Zum Zeitpunkt des Feuers bei Tazreen bedeutete die Bewertung Orange, dass die Fabrik innerhalb der nächsten sechs Monate erneut geprüft werden musste. Falls sich die Bedingungen nicht verbessert haben, erhält die Fabrik eine weitere orangefarbene Bewertung und muss innerhalb der nächsten Monate noch einmal geprüft werden. Erst nach einer dritten Bewertung mit Orange erhält der Lieferant Rot, auch im übertragenen Sinne, denn in diesem Fall beendet Walmart die Zusammenarbeit mit der zuwiderhandelnden Fabrik. Zwei Tage nach dem Brand bei Tazreen gab Walmart eine offizielle Erklärung heraus. „Unser Mitgefühl gilt den Familien und Opfern dieser Tragödie“, so war zu lesen. „Die Fabrik von Tazreen war nicht befugt, Waren für Walmart herzustellen. Ein Lieferant hat Tazreen ohne unsere Genehmigung und in Zuwiderhandlung gegen unsere Richtlinien beauftragt. Wir haben die Zusammenarbeit mit diesem Lieferanten heute beendet.“ Die Verwendung des Singulars—„ein Lieferant“—in Walmarts Statement ist irreführend. Fotos, die Zain und andere nach dem Brand gemacht haben, ist zu entnehmen, dass mindestens drei Walmart-Zulieferer Tazreen Fashions in den Monaten vor dem Feuer beauftragt hatten. Es stimmt, dass Walmart seine Geschäftsbeziehung mit einem Zulieferer beendet hat, der mit Tazreen Fashions zusammenarbeitete, ein New Yorker Unternehmen namens Success Apparel, doch bisher war von anderen Lieferanten noch keine Rede. Walmart lehnte es ab, die Bedingungen zu nennen, unter denen das Geschäftsverhältnis mit Success Apparel beendet wurde. Es ist bekannt, das Tazreen zwei Audits mit der Bewertung Orange hatte. Unklar ist jedoch, ob es ein vollständiges drittes Audit gab. Als ich einen Walmart-Vertreter fragte, ob sie eine Erklärung veröffentlicht hätten, der zufolge Tazreen Fashions explizit auf die rote Liste gesetzt wurde, verweigerte er die Antwort. Auch nach wiederholten Anfragen weigerte sich Walmart mitzuteilen, wann genau dies geschehen war oder wie der neue Listenstatus von Tazreen durchgesetzt wurde. Auf die Frage, wie die Fabrik überhaupt auf die rote Liste kommen konnte, ohne je ein drittes Audit gehabt zu haben, gab es ebenfalls keine Antwort. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass bei den Audits keine Sicherheitsvorkehrungen wie Notausgänge oder rauchdichte Treppenhäuser berücksichtigt wurden; das System überlässt die Kontrolle entsprechender Verstöße den zuständigen Beamten vor Ort. Unklar ist also, wer genau eine Katastrophe wie Tazreen hätte verhindern können. In den Augen von Walmart liegt es weit jenseits des Verantwortungsbereichs ihres Unternehmens, direkte Maßnahmen durchzusetzen und beispielsweise Notausgänge zu schaffen. Offensichtlich erwarten westliche Einkäufer und Regierungen von ihren Vertragspartnern vor Ort, dass sie die finanzielle Last für die Gewährleistung sicherer Arbeitsbedingungen und die Zahlung fairer Löhne selbst tragen. Doch wie mir Scott Nova, Leiter des Worker Rights Consortium, erklärte, müssen die Käufer letztendlich doch zahlen, wenn die Regierungen, die offensichtlich mit der Aufgabe betraut sind, diese Bedingungen zu kontrollieren, den Arbeitern erlauben, sich in Gewerkschaften zu organisieren, und wenn die Hersteller versuchen, die Bedingungen zu verbessern. „Aber die Marken wollen nichts tun, denn sie sind ja in Bangladesch, um die Kosten zu senken“, fügt Scott hinzu. Dieser Eindruck wurde von einem Walmart-Sprecher bei einem Meeting unterstützt, das 2011 nach zwei tödlichen Bränden einberufen wurde, bei dem Fabriken in bengalischen Industriegebieten dem Erdboden gleichgemacht wurden. Vertreter von Regierung, Aktivistengruppen und Herstellern waren am Hauptsitz der BGMEA in Dhaka zusammengekommen und diskutierten unter anderem auch einen Vorschlagsentwurf, der einige eher unbedeutende verbindliche Standards für den Brandschutz in Fabriken geschaffen hätte. „Der Vertreter von Walmart stand auf“, erzählte mir Scott, der bei dem Treffen dabeigewesen war. „Erst erkannte er an, dass es Sicherheitsprobleme gab, die angegangen werden müssten. Dann sagte er, dass Walmart unter keinen Umständen bereit wäre, dafür zu zahlen.“ Sakhina, links, und Mahmooda, rechts, im Hof der Baracken, für deren Verwaltung Sakhina einst zuständig war, in der Nähe der Fabrik von Tazreen

Wenn der Brand in der Tazreen-Fabrik durch Sicher-heitsvorkehrungen hätte verhindert werden können, die aber ignoriert wurden, dann zeigt die Reaktion deutlich, wie schwer es ist, eine der beteiligten Parteien in der Textilproduktion in Bangladesch, und vermutlich auch anders­wo, dafür verantwortlich zu machen. Staatliche Kontrolleure haben Tazreen in den Wochen vor Ausbruch des Feuers besucht und rein theoretisch hätten sie vorhandene Sicherheitsmängel anmahnen müssen. Im Wesentlichen beschränkten sich die nachträglichen Ergebnisse des von der Regierung eingerichteten Untersuchungsausschusses jedoch auf die Frage, ob das Feuer auf Industriesabotage zurückzuführen sei. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, wäre das keine Entschuldigung für das Fehlen grundlegender Sicherheitsvorkehrungen. Käufer wie Walmart und Sears verweigern jegliche Verantwortungsübernahme—sie behaupten, nicht einmal gewusst zu haben, dass sie bei Tazreen Fashions kaufen. Delowar Hossain, Managing Director der Tuba Group, Tazreens Mutterunternehmen, wurde noch immer nicht wegen „unverzeihlicher Fahrlässigkeit“ belangt, so, wie es der Regierungsausschuss empfohlen hatte. Die Einzigen, die bisher überhaupt wegen irgendetwas angeklagt wurden, sind drei Männer aus dem mittleren Management—die Männer, die beschuldigt werden, ihre Mitarbeiter am Tag des Brandes angewiesen zu haben, die Sirenen zu ignorieren und weiterzuarbeiten. Die Suche nach einem Schuldigen wurde darüber hinaus dadurch erschwert, dass die Computer der Fabrik—Stunden nach dem Feuer—ohne ihre Festplatten aufgefunden wurden. Am 26. Januar brach in der Textilfabrik Smart Export in Dhaka ein Feuer aus, bei dem sieben Arbeiter ums Leben kamen. Am Unglücksort waren keine Feuerlöscher zu finden und ein Ausgang der Fabrik soll versperrt gewesen sein. In der Fabrik von Smart Export fand Zain Kleidung, die für die Marke Lefties produziert wurde, eine Tochter der spanischen Unternehmensgruppe Inditex. Ein für Inditex arbeitender Prüfer ließ Zain folgendes Zitat zukommen, das sehr gut veranschaulicht, wie einfach es ist, in dem losgelösten Outsourcing-System, das westliche Einkäufer geschaffen haben, jegliche Verantwortung abzulehnen: „Das ist ein Dreckloch, bei der keine anständige Marke etwas bestellen würde.“ Was Walmart anbetrifft, so hat das Unternehmen seine Standards überarbeitet und seine Lieferanten davor gewarnt, bei nicht autorisierten Fabriken zu ordern. Doch das grundlegende System freiwilliger, vom jeweiligen Unternehmen selbst durchzusetzender (oder auch nicht durchzusetzender) Sicherheitsbestimmungen bleibt bestehen. An unserem letzten gemeinsamen Tag sprachen Zain und ich mit Abdus Salam Murshedy, einem Fabrikbesitzer, der für Walmart produziert und zudem Vorsitzender des Exportverbandes in Bangladesch ist. Abdus, der als Sohn eines Lehrers im ländlichen Über-schwemmungsgebiet der Sundarbans geboren wurde, war als junger Erwachsener Kapitän der Fußballnationalmannschaft. Er war damals der beliebteste Sportler des Landes, arbeitet mittlerweile jedoch in erster Linie als Managing Director der Envoy Group, einer Unternehmensgruppe mit einem jährlichen Gesamtumsatz von 164 Millionen Euro, die mit Bekleidung und später auch im Hotel- und fleischverarbeitenden Gewerbe groß wurde. Abdus ist ein sehr mächtiger Mann in Bangladesch. Er empfing uns in seinem Büro, wo wir mit ihm an seinem Schreibtisch Tee tranken. Er erzählte uns von seinem ersten Job in einer Jutemühle. „Es war so sauber“, sagte er. „Alles wurde einfach richtig gemacht. Und ich sagte mir, ich werde Industrieller!“ Er hatte Spaß daran, uns diese Geschichte zu erzählen, so sehr, dass er ein wenig zu vertrauensselig wurde, als wir in einen anderen Gang schalteten und mit Fragen zur Industriepolizei begannen—„Das war ich! Ich habe das in die Wege geleitet!“—und zu dem Preisdruck, den die Einkäufer aus dem Westen erzeugten. „Die Käufer sind unser Gott“, meinte er, um sich gleich wieder zu korrigieren: „Sie sind unser zweiter Gott … Wir können nicht all das tun, was sie wollen, Brandschutz, bei so niedrigen Preisen!“ Sogar er war nicht einverstanden mit den westlichen Preismodellen: „Eines würde ich gern wissen: Warum müssen sie eins kaufen und eins umsonst bekommen? Dieses Geld nehmen sie uns weg.“ Abdus erzählte, dass er ein tolles Verhältnis zu seinen Arbeitern habe und in all seinen Fabriken strenge Brandschutzvorschriften herrschten. Ich fragte ihn, was in ihm vorgegangen sei, als er von Tazreen hörte. Er sagte, er sei zu der Zeit in London gewesen, und fügte hinzu: „Ich habe mit dem Eigentümer gefühlt, Mr. Delowar Hossain. Er ist ein guter Mann und jetzt steckt er in Schwierigkeiten, hat Schulden und wird den Betrieb einstellen müssen.“ In seinem Portemonnaie hatte Abdus eine Karte von Douglas McMillon, dem CEO von Walmart International, die er uns zeigte. Sie war halb so groß wie eine normale Visitenkarte. „Ich habe ihn danach gefragt“, so Abdus. „Er meinte, sie sei so klein, um Geld zu sparen.“ Wir gingen ins Besprechungszimmer, um einige Bilder zu machen. Er hatte Zeit gehabt, um über das nachzudenken, was er gesagt hatte, und wurde plötzlich nervös. „Ich habe nicht gewusst, dass er mir Fragen über Walmart stellen würde!“, sagte er auf Bengalisch zu Zain. „Jetzt ist mir klar, was er vorhat.“ „Vielleicht ist das mein letztes Interview“, erklärte er mir gnädig. „Sie könnten mich den Hals kosten!“ Abdus war anständig, modern und emanzipiert—genau deswegen hatte mich Zain zu ihm gebracht. Ich wollte wissen, wie die Branche in ein paar Jahren aussehen könnte, sollte sie ihren Platz im globalen System weiter untermauern und die Hersteller, mit etwas Glück, Abdus’ Haltung übernehmen. Bevor wir uns verabschiedeten, sprachen Abdus und ich noch über die Brandschutzlogistik. „In meiner Fabrik gibt es vier Treppenhäuser, von denen jedes auf einen anderen Bereich hinausführt“, erklärte er mir. Ich befragte ihn zu Aminul Islam und den Schikanierungen von Aktivisten in der Bekleidungsindustrie. „Einige Leute machen Ärger“, antwortete er mit einer wegwerfenden Handbewegung. Drei Monate, nachdem er dem Feuer bei Tazreen Fashions entkommen konnte, hat Sapna einen neuen Job bei der Firma S21 Apparel gefunden, die behauptet, für AllSaints zu produzieren. Mominul wiederum erzählte mir, dass er versucht, einen Job in einer Fabrik der Ha-Meem Group zu finden—in der am 14. Dezember 2010 23 Arbeiter bei einem Feuer im achten Stock ums Leben kamen. „Wir bieten den Menschen bequeme und gut aussehende Kleidung“, meinte Mominul zu mir. „Und dadurch sorgen wir dafür, dass sie den Namen Bangladesch hören.“

Fotos von Syed Zain Al-Mahmood