FYI.

This story is over 5 years old.

Stuff

Die gefährlichsten Kommentare zum Terror in Paris

Der Islamische Staat möchte einen Krieg der Gefühle. Viele Reaktionen auf den Terror in Paris unterstützen ihn dabei.
VICE Media

Als am vergangenen Freitagabend in Paris die ersten Schüsse fielen, ärgerte ich mich gerade darüber, dass ich ohne Kopfhörer in den Ohren nach Hause gehen musste. Minuten zuvor sass ich vor einer improvisierten Leinwand, auf der ein Film zur Geschichte der Zürcher Besetzerszene flimmerte und meinen Kampf gegen den Schlaf nicht unbedingt vereinfachte. Doch als ich zu Hause ankam, musste sich der dringend benötigte Schlaf hinten anstellen. Stattdessen sass ich hellwach drei Stunden lang fassungslos vor meinem Macbook und aktualisierte sekündlich meine Twitter- und Facebook-Feeds.

Anzeige

Ich konnte nicht glauben, was da gerade passierte. Ich sah das Vine-Video, in dem Fussballfans im Stade de France jubelten, als sie einen Knall hörten. Ich sah Live-Streams aus den Strassen vor dem Bataclan-Konzertsaal, in dem gerade Hunderte Menschen gefangen waren. Und ich sah, wie die Menschen in den sozialen Medien auf dieses schreckliche Ereignis reagierten. Ich fragte mich: Wie reagiere ich darauf? Gibt es überhaupt eine angemessene Reaktion? Und entschied mich—zugegebenermassen nicht sonderlich reflektiert—für diesen Tweet:

Vor meinem Fenster singen Menschen 'Happy Birthday'. Die Surrealität holt uns ein.

— Sebastian Sele (@nitesabes)13. November 2015

Am Tag darauf füllte sich mein Facebook-Feed mit blau-weiss-rot gefilterten Profilbildern, Kritik an diesem Social Media-Aktivismus und Vergleichen der Toten in Paris mit jenen in Beirut—und vereinzelten Postings, die lieber nie ins Internet entlassen worden wären. Die Verfasser dieser Postings waren sich sicher, wer die Schuld an den Terroranschlägen trägt: die Willkommenskultur, die Gutmenschen und die Flüchtlinge, die eigentlich genau vor dem Terror zu uns fliehen, der Frankreich gerade in eine dreitägige Staatstrauer versetzt hatte.

Was mich zwar nicht überraschte aber trotzdem schockierte: Hinter diesen Postings steckten nicht nur Menschen vom Typ Kommentarspalte. Auch öffentliche Personen und Organisationen stimmten—mal komplett pietätslos, mal etwas vorsichtiger—in den Chor der Unmenschlichkeit ein. Doch egal wie laut oder leise sie im Chor mitsingen: Ihre Antwort auf den Terror ist verdammt gefährlich. Denn sie unterstützen genau das, was der Islamische Staat mit seinem Terror bezweckt.

Anzeige

Screenshot von der Facebook-Page der Jungen SVP

So zynisch das in seiner analytischen Herangehensweise auch klingen mag: Der Terror von Paris ist der radikal durchgezogene Auswuchs einer riesigen PR-Maschinerie. Die Selbstmordattentate, die brutale Geiselnahme und die Schiessereien waren minutiös vom Islamischen Staat geplant. Genauso wie es die Anschläge in Madrid 2004, die Anschläge in London 2005 und die Anschläge auf Charlie Hebdo im Januar dieses Jahres waren.

PR hat stets das Ziel, im Kopf des Empfängers jene Gedanken zu wecken, die der Absender für richtig erachtet. Wenn der Absender Nike, McDonalds oder H&M heisst, sind diese "richtigen" Gedanken positiv besetzt. Beim Islamischen Staat ist das anders. Seine Botschaft lautet: Ihr seid nicht sicher. Nicht vor uns, nicht vor euren Mitmenschen, nicht vor eurer Freiheit. Der Islamische Staat möchte in uns einen Krieg der Gedanken und der Werte entfachen.

Screenshot eines mittlerweile gelöschten Kommentars vom Präsidenten der Zürcher SVP

Stets bedenken müssen wir dabei, dass wir es beim Islamischen Staat nicht mit einer chaotischen Bande von Verrückten zu tun. Die Terrororganisation weiss genau, was sie tut und wie das auf uns wirkt. Hinter ihr stecken Menschen, die schon mal 200'000 Dollar ausgeben, um ein Enthauptungsvideo im für sie richtigen Licht darzustellen.

Mit solchen Videos oder Akten wie dem Terror von Paris zwingen sie uns zu einer Reaktion. Der Islamische Staat wünscht sich selbstverständlich, dass diese Reaktion das Ziel seiner PR unterstützt. Wenn wir wie die Mehrheit der Menschen reagieren, wenn wir unsere Profilbilder blau-weiss-roten einfärben oder #prayforparis twittern, tun wir das nicht. Damit zeigen wir uns—manchmal vielleicht etwas naiv—solidarisch mit den Opfern und den Werten, für die sie stehen und sagen gleichzeitig: Nicht mit uns!

Anzeige

Die Menschen aber, die mit Hetz-Postings gegen Flüchtlinge oder der Forderung nach mehr Überwachung reagieren, handeln genau nach dem Plan des Islamischen Staats. Indem andere Gesellschaftsgruppen zur Ursache des Terrors erhoben werden, wird Angst vor diesen geschürt—seien das nun Flüchtlinge oder Muslime. Die Gesellschaft wird durch einen Graben gespalten. Die Hetzer versuchen, den IS-Terror für ihre Anliegen zu instrumentalisieren und merken nicht, dass sie es sind, die vom IS-Terror instrumentalisiert werden.

Werden diese gesellschaftlichen Gräben erfolgreich geschaufelt, bedeutet das für Flüchtlinge und Muslime, dass sie weiter marginalisiert werden. Ihnen wird der Stempel der Gefahr aufgedrückt, sie werden pauschal mit Vorurteilen charakterisiert. Ich erzähle nicht Neues, wenn ich sage, dass Menschen, die ins gesellschaftliche Abseits gedrängt werden, anfälliger für extreme Ansichten sind.

In gewisser Weise hat der Terror sogar schon gewonnen. In den Medien werden Muslime seit 9/11 grösstenteils negativ konnotiert und wir überschätzen die Bedeutung von Muslimen konsequent. In Frankreich etwa schätzen die Bewohner den Anteil der Muslime an der Bevölkerung auf 31 Prozent. In Wahrheit sind es fast vier Mal weniger: 8 Prozent. Doch wie bei allen Propagandaschlachten geht es nicht darum, was real ist und was nicht—sondern darum, was die Realität in den Köpfen der Menschen ist.

Die Forderungen nach mehr Überwachung, kontrollierten Grenzen und weniger Flüchtlingen bedienen also genau das, was der Islamische Staat von uns will: Wir geben unsere Werte auf, weil wir Angst haben. Wir spalten die Gesellschaft in Gut und Böse. Und wir beginnen unsere eigene Freiheiten einzuschränken.

Dabei gibt es in den Reaktionen auf den Terror in Paris im Grunde nur zwei Typen von Menschen: Jene, die Krieg wollen und jene, die keinen Krieg wollen. Wir müssen uns nun entscheiden, zu welcher Sorte wir gehören wollen—egal ob wir Muslime, Christen, Flüchtlinge oder was auch immer sind.

Sebastian auf Twitter: @nitesabes

VICE Schweiz auf Twitter: @ViceSwitzerland