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Kranker Scheiss aus dem Leben von Zirkusartisten

„Wenn du am nächsten Tag aufwachst und dir nichts weh tut, dann bist du tot."
Foto von Bob n Renee

Nachdem wir vor einigen Wochen mehr über das harte Leben männlicher Balletttänzer erfahren haben, verweilen wir noch ein wenig bei den Künstlern. Ich habe bei einem Zirkus in Zürich vier ukrainische Trampolinturner getroffen, die nach ihrer gescheiterten Karriere als Athleten kurzerhand das Metier gewechselt haben und sich seit zwölf Jahren im Rampenlicht der Manege sonnen. Ihre Auftritte bestehen aus Trampolinsprüngen sowie Boden- und Luftakrobatik. Sie leben alle in verschiedenen Städten der Ukraine, haben studiert und geben ihr Bestes, um ihren Frauen und Kindern mit Hilfe des brotlosen Jobs als Zirkusartist ein Dach über dem Kopf zu bieten:

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Vladimir: Wenn wir für einen Auftritt gebucht werden, muss jeder von uns einen Vertrag unterschreiben. Je nach Zirkus ist dieser Vertrag für drei, sechs, zwölf oder noch mehr Monate gültig. Bei seriösen Zirkussen hält sich die Direktion an die Statuten der Verträge. Wir haben aber auch schon anderes erlebt: Einmal mussten wir in Katar auftreten. Während einer Show kratzte ein Leopard ein kleines Kind.

Die ganze Direktion wurde verklagt und ins Gefängnis gesteckt. Die Polizei beschlagnahmte all unsere Requisiten. Ich wollte mich natürlich beschweren und die Sachen zurückverlangen, aber der Typ, bei dem ich den Vertrag unterschrieben hatte, war verschwunden. Kein Lohn. Keine Requisiten. Und wir waren um 20.000 Euro ärmer.

Vitalij: Das Leben im Zirkus ist nicht immer so glamourös, wie es in der Manege scheint. Es gibt so viele Dinge, die dich in den Wahnsinn treiben können. Wenn du zum Beispiel einen Vertrag über längere Zeit unterschreibst, fangen deine Mitmenschen hin und wieder an, dir ganz schön auf die Nerven zu gehen. Du wirst müde—physisch wie auch psychisch.

Ein Auftritt bedeutet immer Stress, auch wenn alles gut geht. Was eine Aufführung mit deinem Körper anstellt, merkst du erst ein paar Stunden danach. Der Rausch verfliegt aber das Adrenalin lässt dein Gehirn nicht runterfahren. Viele Artisten leiden deswegen unter Schlafstörungen. Da du am nächsten Tag aber wieder fit für die Vorstellung sein musst, hat jeder seine eigenen Methoden, die ihm zum Einschlafen verhelfen. Ich beispielsweise lese so lange, bis ich einschlafe. Andere greifen zu Schlaftabletten oder Alkohol.

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Foto: psiho.child | Flickr | CC BY 2.0

Vladimir: Weil nicht alle gleich gut mit diesem Druck umgehen können, kommt es manchmal vor, dass Artisten ein wenig zu oft zur Flasche greifen und dann betrunken zu Aufführungen erscheinen. Das ist sehr gefährlich und verantwortungslos. Wenn die Direktion das merkt, fliegt man normalerweise sofort aus der Vorstellung—ohne Lohn.

Mir selbst ist sowas Ähnliches auch schon einmal passiert. Einige Freunde kamen mich hier in Zürich besuchen. Wir haben uns schon viele Jahre nicht mehr gesehen, deswegen war klar, dass dies kein nüchterner Abend sein wird. Eines führte zum Anderen und schon flossen vier Liter Wodka.

Am nächsten Tag klopfte es an meiner Tür. Als ich völlig verwirrt aufmachte, stand mein Partner da und fragte mich, ob ich denn überhaupt zur Arbeit kommen werde. Ich antwortete: „Na klar komme ich!" Er meinte nur, dass bereits 15:00 Uhr sei. Um 15:00 Uhr sollte die Show anfangen—und ich war in der Opening-Gruppe. Fuck.

Foto von Andrin Oehry

Innerhalb von zwei Minuten habe ich mich angezogen und stand im Zirkus. Ich hatte Glück, dass sich die Vorstellung um 15 Minuten verzögerte. Nichtsdestotrotz bemerkte die Direktion meinen Kater und ich musste eine Busse zahlen. In einem seriösen Zirkus wird ein Kater immer mit Geldbussen bestraft. Normalerweise werden so etwa 50 Prozent des Monatseinkommens verbüsst. In einigen Zirkussen muss man sogar 20 Prozent Strafe zahlen, wenn man vor einer Show nicht in die Maske geht.

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Oleg: Das Leben als Zirkusartist ist hart. Jeder Auftritt könnte dein letzter sein. Ständig zerrt oder verstaucht man sich etwas. Ich sage immer: „Wenn du am nächsten Tag aufwachst und dir nichts weh tut, dann bist du tot."

Um die Schmerzen ein wenig erträglicher zu machen, gibt es einige Muskelentspanner, die man sich spritzen kann. Viele Artisten greifen gerne zum günstigen Schmerzmittel Nimesulid. Vor allem Trapezkünstler und Luftakrobaten machen davon Gebrauch, da ihnen oft die Handgelenke und Schultern weh tun.

Ich kenne einen Trapezkünstler, der spritzte sich das sehr oft, fiel dann aber trotzdem vom Trapez. Er hat sich fast das Genick gebrochen, musste sofort notoperiert werden und bekam eine Plastikscheibe in die Schulter eingesetzt. Als er weitermachen wollte, wurde eine Arterie unter dieser Platte eingeklemmt. Er ist deswegen fast zum Krüppel geworden. Seitdem ist er nie mehr aufgetreten.

Vladimir: Einmal kam ich zur Vorstellung und wärmte mich auf. Plötzlich hörte ich ein Krachen, ein Knacksen und einen Schrei. Ein Typ hinter mir ist bei dem Versuch, einen zweifachen Salto zu machen, gestürzt. Jetzt ist er querschnittsgelähmt. Natürlich haftet der Zirkus und übernimmt dafür die Kosten, aber das ist nur ein kleiner Trost, wenn man sein restliches Leben im Rollstuhl verbringen muss.

Oleg: Im Jahr 2011 trat ich mit einem anderen Typen in einer Trampolin-Nummer auf. Dabei musste er in ein Fenster einer Kulisse springen, woraufhin ich heraussprang. Also wartete ich und wartete. Als er nicht kam, schaute ich mal runter und sah den Typen am Boden liegen. Er hat sich das Genick gebrochen. Ausser seinen Augen und seinem Mund kann er nun nichts mehr bewegen. Ab diesem Moment verbrachte er den Rest seines Lebens liegend.

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Foto von Andrin Oehry

Vitalij: Einem Freund von mir passierte mal ein schlimmes Unglück während einer Vorführung. Der Trick bestand daraus, dass zwei Artisten sich an den Unterarmen halten und den Dritten zu einem zweifachen Salto hochwerfen. Dieser täuscht dann vor, zu überdrehen, landet aber mit dem Rücken in den Armen seiner zwei Kollegen. Das soll einen kurzen Schock-Moment bei den Zuschauern auslösen.

Anscheinend meinten sie es zu gut mit dem Schock-Moment, denn eine alter Mann in der ersten Reihe bekam deswegen einen Herzinfarkt. Die Show wurde natürlich sofort abgebrochen, überlebt hat der Mann aber leider nicht.

Andrej: Auch wenn wir im Zirkus eine „grosse, glückliche Familie" sind, entwickelt sich mit der Zeit doch ein gewisses Konkurrenzverhalten. Es ist aber nicht so, dass wir einander absichtlich Fallen stellen oder die Sachen des anderen verstecken. Wir möchten schliesslich auch als Show überzeugen. An grossen Zirkusfestivals läuft das aber ganz anders. Dort ist jeder sich selbst der Nächste. In Monte Carlo und China finden die grössten Zirkusfestivals statt.

Solche Festivals sind aber keine Shows im eigentlichen Sinne, sondern Wettkämpfe, bei denen man die Chance auf viel Geld und die ganz grossen Verträge bekommt. Um dort aufzutreten zu können, braucht man Können und vor allem Kontakte. Freunde von mir erzählten, dass die Artisten dort vor nichts zurückschrecken.

Sie zerschneiden dein Kostüm, verstecken deine Requisiten oder schütten dir was in den Drink, nur um dir den Auftritt zu vermasseln. Sie tun so, als wären sie deine Freunde und versuchen dich dann beim Feiern abzufüllen, damit du am Tag darauf nicht fit bist.

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Alle: Natürlich gab es auch Momente, in denen wir ans Aufhören dachten. Aber nach einer Weile, wenn du eine Pause von dem Rummel gehabt hast, vermisst du diesen Nervenkitzel. Dieses Gefühl, wenn du vor Tausend Leuten stehst und alle jubeln dir zu—das ist etwas, darauf würdest du nicht freiwillig verzichten wollen.

Sascha hätte gerne mal im Zirkus gearbeitet: @saschulius

VICE Schweiz ist auch ein bisschen Zirkus: @ViceSwitzerland


Titelbild: Bob n Renee | Flickr | CC BY 2.0