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DIE DIRTY LAUNDRY ISSUE

Luzzara, 1953: Ein Porträt eines ganzen Dorfes

Paul Strand war einer der einflussreichsten und exzentrischsten Fotografen des letzten Jahrhunderts. Das hier ist eine seiner ambitioniertesten Arbeiten.

Oben: JUNGER MANN, LUZZARA (IVO LUSETTI)

1953, Silbergelatineabzug
Bild: 15 x 11,8 cm
Blatt: 15,7 x 12,5 cm
Philadelphia Museum of Art: Paul Strand Retrospective Collection, 1915–1975, Schenkung aus dem Nachlass von Paul Strand, 1980-21-309

Das Denkmal, das man Paul Strand gebaut hat, ist so hoch, dass ein zeitgenössischer Betrachter möglicherweise Mühe hat, ihn überhaupt noch zu erkennen. 1945 hatte Strand als erster Fotograf überhaupt eine Einzelausstellung im Museum of Modern Art; seine frühen Stadtszenen und Abstraktionen trugen dazu bei, die Fotografie fest in die Ästhetik der Moderne zu integrieren. So wegweisend er auch war, hat es seit 1971 keine umfassende Retrospektive seiner Arbeiten mehr gegeben. Ohne Zweifel muss Strand als einer der größten amerikanischen Fotografen gelten.

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Strand war der Überzeugung, dass Reproduktionen seiner Fotos dem Original nicht gerecht würden. Und tatsächlich beeindrucken seine meisterhaften Silbergelatine- und Platinabzüge mit tiefschwarzen Schatten und zarten Lichtern, wie sie sich in Drucken unmöglich wiedergeben lassen und auch nur schlecht auf andere Bildflächen zu übertragen sind. Ein anderer Grund, warum Strands Arbeiten wenig diskutiert wurden, ist, dass seine Fotos nur selten einen thematischen „Aufhänger" haben. Es sind die ernsten Bilder eines ernsten Mannes—in vielerlei Hinsicht eine Antithese zur Pop-Art.

Georgia O'Keeffe war eine Freundin und ein Motiv von Strand. In ihren Erinnerungen beschreibt sie seine erste Frau Rebecca als „eine sehr lebhafte, schlanke junge Frau und Strand behäbig und langsam". Er liebte es, sich mitten auf einen Platz zu stellen und zu warten, bis die Menschen begannen, ihn zu ignorieren. Erst als sie wieder ihrer täglichen Routine nachgingen, machte er verstohlen seine Fotos. Um die Menschen auf diesen Plätzen zu fotografieren, ohne dass sie es mitbekamen, benutzte er häufig eine Linse mit einem Prisma. So konnte er die Kamera auf ein vermeintliches Motiv halten, in Wirklichkeit aber eine 45 Grad links oder rechts davon gelegene Szene fotografieren.

In diesem Herbst präsentiert das Philadelphia Museum of Art erstmals eine Retrospektive von Paul Strand, die sein komplettes Schaffen aus vier Jahrzehnten umfasst. Die Ausstellung feiert damit den kürzlichen Ankauf von 3.000 Fotografien und Glaspositiven des Paul Strand Archivs von der Aperture Foundation. Zusammen mit den 600 Arbeiten, die dem Museum aus Strands Nachlass nach seiner letzten Retrospektive dort im Jahre 1971 übereignet wurden, besitzt das Museum nun weltweit die größte Sammlung seiner Werke.

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Jahrelang hatte Strand davon geträumt, ein ganzes Dorf zu fotografieren, ein Wunsch, zu dem ihn Sherwood Andersons Winesburg, Ohio, inspiriert hatte. Als er 1949 Cesare Zavattini kennenlernte, der das Drehbuch zu Vittorio De Sicas neorealistischem Filmklassiker Fahrraddiebe geschrieben hatte, gestand er diesem seinen Wunsch. Zavattini ermutigte ihn daraufhin, seine italienische Geburtsstadt Luzzara zu fotografieren, was Strand dann im Frühjahr 1953 fünf Wochen lang tat. Die Kleinstadt Luzzara liegt im Podelta, sie lebt von der Landwirtschaft und ist berühmt für ihren Käse, Strohhüte und Pferdezaumzeug. Strand und Zavattini beschlossen, sich auf örtliche Handwerker und Familienstrukturen zu konzentrieren. Ein Stadtbewohner namens Valentino Lusetti, der als Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg bei den Amerikanern etwas Englisch gelernt hatte, diente ihnen als Dolmetscher und Mittelsmann und verschaffte Strand Zugang zu seinen Motiven. Strands bekanntestes Gruppenporträt aus Luzzera zeigt die Familie von eben diesem Lusetti vor der Fassade des Familiensitzes. Das Foto sollte später den Einband der 1955 von Aperture herausgegebenen Monografie Un Paese schmücken, in der von Zavattini gesammelte Ich-Erzählungen mit Strands Fotografien kombiniert wurden. Obwohl der Ansatz, ein ganzes Dorf fotografisch zu porträtieren, in dieser Form einzigartig ist, dürften die Bilder auf den folgenden Seiten den meisten Betrachtern heute weitgehend unbekannt sein.

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Das Porträt, das Strand von Luzzara zeichnete, ist ein ernstes. Die Fotoserie entstand über einen längeren Zeitraum hinweg, meist mittels langer Belichtungszeiten und unter natürlichen Lichtbedingungen. Sie funktioniert ohne Ironie, nur mit dem Wunsch, mit Bedacht und Nüchternheit ein komplettes menschliches Ökosystem darzustellen. In einer Zeit, in der wir ständig mit zunehmend enthemmten Fotos überschüttet werden, ist es umso wichtiger, innezuhalten und das, was wir konsumieren, genauer zu betrachten. Strand hatte verstanden, dass die Fotografie die Macht besitzt, die Welt zu verändern. Er war bereit, zu warten, bis die Welt sich ihm so zeigte, wie sie es nur tut, wenn niemand sie beachtet. Deswegen ist jetzt ein guter Zeitpunkt, um innezuhalten und Paul Strand neu zu betrachten.

MATTHEW LEIFHEIT

MARKET DAY, LUZZARA
1953; Silbergelatineabzug
Bild: 11,7 x 15 cm
Blatt: 11,9 x 15,2 cm
Philadelphia Museum of Art: Paul Strand Collection, erworben mit Mitteln von Zoë und Dean Pappas, 2011-90-45

THE FARM, LUZZARA
1953; Silbergelatineabzug
Bild und Blatt: 11,9 x 15 cm
Philadelphia Museum of Art: Paul Strand Collection, erworben mit Mitteln von Barbara B. und Theodore R. Aronson, 2011-90-44

PLACE TO MEET, LUZZARA
1953; Silbergelatineabzug
Bild und Blatt: 11,8 x 15 cm
Passepartout: 12,5 x 15,5 cm
Philadelphia Museum of Art: Paul Strand Collection, erworben mit Mitteln von Zoë und Dean Pappas, 2011-90-48

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BICYCLES, LUZZARA
1953; Silbergelatineabzug
Bild und Blatt: 11,1 x 10,1 cm
Philadelphia Museum of Art: Paul Strand Collection, erworben mit Mitteln des Museums, 2010-14-294

IN THE RICOVERO, LUZZARA: 1953; Silbergelatineabzug, Bild und Blatt: 15 x 11,8 cm
Philadelphia Museum of Art: Paul Strand Collection, Schenkung durch Lynne und Harold Honickman, 2011-197-16

GLORIA, LUZZARA:1953; Silbergelatineabzug, Bild und Blatt: 14,8 x 11,7 cm, Fleischmann Vintage Works, Zürich, Schweiz

HAT FACTORY, LUZZARA: 1953 (Negativ), 1960er (Fotoabzug), 1953, Silbergelatineabzug, Bild: 24,7 x 19,7 cm, Blatt: 25,2 x 20,4 cm
Paul Strand Collection, Teilschenkung zugesagter Gesamtschenkung durch Marguerite und Gerry Lenfest, 2009-160-417

THE COUPLE, LUZZARA: 1953; Silbergelatineabzug
Bild und Blatt: 11,8 x 14,9 cm,
Philadelphia Museum of Art: Paul Strand Collection, erworben mit Mitteln von Ralph Citino und Lawrence Taylor, 2011-90-33

WORKER AT THE CO-OP, LUZZARA: 1953; Silbergelatineabzug
Bild und Blatt: 11,8 x 14,9 cm,
Philadelphia Museum of Art: Paul Strand Retrospective Collection, 1915–1975, Schenkung aus dem Nachlass von Paul Strand, 1980-21-282

PARMESAN, LUZZARA: 1953; Silbergelatineabzug
Bild: 11,8 x 15 cm, Blatt: 12,4 x 16,6 cm,
Paul Strand Collection, erworben mit Mitteln von Andrea M. Baldeck, MD, und William M. Hollis Jr., 2011-90-15

THE MAYOR, LUZZARA: 1953; Silbergelatineabzug
Bild und Blatt: 11,8 x 15 cm,
Philadelphia Museum of Art: Paul Strand Collection, erworben mit Mitteln des Fiske und Marie Kimball Fonds, 2011-90-27

PORTRAIT, LUZZARA: 1953; Silbergelatineabzug
Bild: 14,9 x 11,8 cm, Blatt: 15,7 x 12,5 cm
Philadelphia Museum of Art: Paul Strand Retrospective Collection, 1915–1975, Schenkung aus dem Nachlass von Paul Strand, 1980-21-310