Mehr Schaulustige als Demonstranten am ersten Mai in Zürich
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Mehr Schaulustige als Demonstranten am ersten Mai in Zürich

Das zur traurigen Tradition verkommene Katz und Maus-Spiel zwischen Krawall-Protestlern und Radau-Polizisten an der Nachdemo des 1. Mai ist dieses Jahr ausgeblieben. Es scheint, als wäre die Revolutionäre Jugend Zürich erwachsen geworden und...

Erlebnisorientierte Krawallidioten und knüppelgeile Bullenschweine wurden am diesjährigen 1. Mai - Halleluja!—herb enttäuscht: Die zur traurigen Tradition verkommene Nachdemo, an der sich linksautonome Kräfte zusammen mit erlebnisorientierten Halbstarken Jahr für Jahr im Kreis 4 ausufernde Strassen-Scharmützel mit autoritätsperversen Ordnungshütern mit ausgeprägtem Dominanzsfetisch lieferten, ist dieses Jahr überraschend ausgeblieben. Schuld daran ist einerseits die deeskalierende Strategie des neuen Polizeivorstehers Richard Wolff von der Alternativen Liste sowie die schwache Mobilisierung und die Zurückhaltung des Revolutionären Aufbaus.

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Dieser rief dieses Jahr auf seinen Kanälen zwar einmal mehr zur antikapitalistischen (Nach-)Demonstration am Nachmittag des 1. Mai auf. Die Aufbau-Kampfthemen Sozialabbau, Rentenklau der SP, reaktionäre Innenpolitik und Schweizer Waffenhandel lockten allerdings herzlich wenig politisch motivierte Demonstranten auf den Helvetiaplatz. Auch dass Rassismus und rechte Hetze wie immer zum Themenkatalog gehörten, änderte nichts daran, dass sich um 15.00 Uhr höchstens 200 Protestler aus dem Umfeld der RJZ auf dem Helvetiaplatz versammelten. Kurz nachdem die RJZ die unabhängige Volksrepublik Aussersihl samt Verfassung ausgerufen hatte. Die Anzahl der schaulustigen Halbstarken, die den Moment vermutlich nutzen wollten, um für ein paar Stunden aus ihrem tristen Alltag auszubrechen, war weitaus grösser.

Keine zwei Minuten nach der Versammlung hatte Wolffs Polizeiarmada den Helvetiaplatz hermetisch abgeriegelt und den Demonstrationszug eingekesselt—mit einem im Vergleich zu den letzten Jahren folgenschweren taktischen Unterschied: Die Polizeifront glich eher einer semipermeablen Membran, als einem undurchlässigen Titankessel. Weshalb Demonstranten, denen es angesichts der polizeilichen Überzahl im Kessel zu bunt wurde, ungestört den Helvetiaplatz verlassen konnten. Dadurch zersplitterten sich die Demonstranten in kleine Grüppchen. Die RJZ sah sich veranlasst, ohne weitere Provokationen gegenüber der Staatsmacht auf das Kanzleiareal zurückzukehren.

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Zurück blieben sehr viele verwirrte, erlebnisorientierte Hobby-Demonstranten, die sich das ganze Jahr über nie politisch engagieren und für den 1. Mai den grossen (Stein-)Wurf geplant haben. „Voll Scheisse, dass hier nichts los ist!", kommentierte ein knapp 16-jähriger Jugendlicher meine Frage, ob er enttäuscht sei, dass es keine Konfrontation mit der Polizei gab. Ein Symphatisant schätzte die Lage etwas anders ein: „Uns ging es nie primär darum Steine zu schmeissen, sondern darum unsere Botschaft auf die Strasse zu tragen. Die Steine, die in den letzten Jahren durch die Luft flogen, waren lediglich eine Antwort auf die Reaktion der Polizei, welche sich dieses Jahr trotz des grösseren Aufgebots viel zurückhaltender verhielt." Es geht also auch anders.

Ob es dafür einen alternativen Polizeivorsteher, eine reifere RJZ, oder gar beides brauchte, ist uns noch nicht ganz klar. Dass am Tag nach dem 1. Mai Bilder von Seifenblasenregen anstatt Gummischrothagel die Zeitungen schmückten, finden wir hingegen Klasse.

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