„Ich werde eins mit dem Flugzeug” – Zu Besuch beim Europameister im Modellflug

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„Ich werde eins mit dem Flugzeug” – Zu Besuch beim Europameister im Modellflug

Stefan Kaiser ist 23 Jahre jung, Sportler des Jahres 2015, Europameister – und komplett unbekannt.

Am Mittwoch, dem 6. April, um Punkt 09:40 Uhr regnet es. Ich bin soeben aus einem Linienbus gestiegen und schlurfe, meine Gehgeschwindigkeit der Nieselregenstimmung angepasst, den Rhein entlang. Der Damm unter meinen Füssen bewahrt nicht nur das kleine Fürstentum Liechtenstein vor einer weiteren Jahrhundertüberschwemmung, sondern trennt ihn auch vom Nachbarland Schweiz.

Das Ziel meines Spazierganges ist der einzige Modellflugplatz des Landes. Ich kenne den Weg bereits, gut zwei Kilometer entfernt habe ich ministrierend und Revolutionen planend meine Kindheit und Jugend verbracht. Das jährliche Schaufliegen der Modellfluggruppe Liechtenstein gehörte jeweils zu den Höhepunkten des Sommers von uns Dorfkindern.

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Auf halbem Weg zum Flugplatz überholt mich ein dunkelblauer Van, dessen Bremslichter Sekunden später rote Punkte in die graue Stimmung drücken. Der Van hält, ich gehe weiter bis ich neben ihm stehe. Aus dem heruntergelassenen Fenster fragt mich der Anfang 20-jährige Fahrer, ob ich nicht einsteigen wolle. Ich erkenne das Gesicht von Stefan Kaiser, dem amtierenden Europameister im Modellflug und der Grund, wieso ich heute hier bin, wieder und nehme das Angebot dankend an.

Während den verbleibenden Fahrtminuten erzählt er mir, der Van sei sein Flugzeug-Auto. Dank ihm könne er seine Wettkampfmodelle, die er neben etlichen anderen Modellen in zwei Lagerräumen im Haus seiner Eltern aufbewahrt, sehr einfach transportieren.

Diese Wettkampfmodelle dürfen maximal fünf Kilogramm wiegen und zwei mal zwei Meter messen. Die Regeln der Wettkampfkategorie F3A, sozusagen die Formel 1 des Modellflugs, wollen das so. „Die F3A ist die Königsdisziplin. Egal was für äussere Bedingungen herrschen, ob Regen, Sturm oder Sonnenschein, du musst das vorgegebene Programm präzise in die Luft zeichnen.", schwärmt Stefan. Mit dem Programm meint er eine vorgegebene Kür von 17 Figuren, die jedes zweite Jahr neu bestimmt wird.

Punktrichter bewerten jeden Flug dieser Kür auf einer Skala von 0 bis 10. Nur im Finale der EM und der WM seien die Figuren nicht vorgegeben, sondern würden zufällig aus einem Katalog von 700 Figuren ausgelost—so bleibt keine Zeit mehr, diese bis zum Finallauf zu trainieren. „Dort zählt wirklich das Können und das Talent des Piloten."

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Das Können und das Talent scheint Stefan zu haben. Im vorletzten Sommer, genau sechs Tage nachdem die deutsche Fussballnationalmannschaft in Rio de Janeiro vor allein 34 Millionen deutschen Fernsehzuschauern ihren WM-Pokal bejubelte, streckte Stefan Kaiser auf dem einzigen Flugplatz in einem der kleinsten Länder der Welt vor 300 bis 400 Zuschauern seinen ersten EM-Pokal in die Luft.

Ein gutes Jahr später bestätigte er seinen Platz an der Weltspitze mit dem dritten Rang bei der WM in Dübendorf.

Stefan bei der EM-Siegerehrung | Foto zur Verfügung gestellt von Stefan Kaiser

Für Stefan war der Finaldurchlauf der EM wohl mindestens so emotional wie für Mario Götze das Tor, mit dem er in den letzten Minuten der Verlängerung das deutsche Team zum Titel schoss. „Als ich beim letzten Flug die letzte Figur fertig hatte, habe ich am ganzen Körper gezittert—von oben bis unten." Sein Vater, der bei jedem Wettkampf hinter ihm steht, um ihm die nächste Figur anzusagen, habe ihn gefragt, ob alles in Ordnung sei.

Bei Stefan war alles mehr als in Ordnung. „Hinter mir hörte ich Applaus und Jubel, die ganzen Gefühle kamen hoch. Mir wurde schwindlig. Diesen Moment werde ich nie vergessen."

Wolfgang Matt, einer von Stefans Mentoren, dürfte sich solche Momente bereits gewöhnt sein. In seiner gut 50-jährigen Karriere als Modellflugpilot holte er sich ganze fünf EM- und zwei WM-Titel. Genug, um im Jahr 2000 zu Liechtensteins Sportler des Jahrhunderts gewählt zu werden. Bei ihm und seinem Sohn Roland, der ebenfalls bereits einen EM-Titel holen konnte, habe Stefan in seiner Jugend jeweils abgeschaut und gelernt.

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Das professionelle Fliegen mit kleinen Modellen geniesst im kleinen Staat einen hohen Stellenwert. Die Fürstin von Liechtenstein übernimmt seit 1971 jeweils die Patenschaft für das Internationale Freundschaftsfliegen. Mit Stefan wurde voriges Jahr ein weiterer Modellflugpilot zum Sportler des Jahres gewählt. Bei der EM berichteten die beiden Tageszeitungen, das staatliche Radio und das Lokalfernsehen gross über den Randsport-Event. Und Liechtenstein ist laut Stefan eines der wenigen Länder, in denen Modellflugpiloten finanziell unterstützt werden—„eine Hochburg des Modellfliegens", wie Stefan den Kleinstaat bezeichnet.

Trotz der Beachtung in Liechtenstein ist Modellfliegen in der Welt des Sportes mindestens so irrelevant wie das Wetter in der Welt der Gespräche. Modellfliegen ist weit davon entfernt, olympisch zu werden. Als ich Stefan auf Preisgelder anspreche, winkt er ab: „Wenn du Europameister oder Weltmeister wirst, bekommst du kein Geld vom Organisator—nur Ehre und Respekt."

Dabei frisst sich der Sport durchaus ins Portemonnaie. Stefans zwei Wettkampfmodelle kosten je zwischen 9.000 und 10.000 Franken, die Fernsteuerung noch einmal gut 2.000 Franken. Hinzu kommen Reise- und Transportkosten.

Und auch mit der Akzeptanz in der breiten Öffentlichkeit scheint man als Vertreter einer Randsportart zu kämpfen zu haben. Stefan berichtet, es gebe immer noch Leute, die behaupten, Modellfliegen sei kein Sport. Und er korrigiert mich und den Fotografen beständig, wenn wir bemannte Flugzeuge als „richtige Flugzeuge" bezeichnen.

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Immerhin: „Als ich Europameister und danach auch WM-Dritter wurde, hat sich ein Schalter umgelegt. Da merkte ich, dass ich ernster genommen werde." Vorher sei er einfach der Fliegerchen-Typ gewesen, seither zolle man der Modellflugszene mehr Respekt.

Trotzdem stellt sich die Frage: Was ist es, das einen Menschen dazu motiviert, seit seiner Jugend jeden Sommer Tag für Tag von morgens bis abends auf einem Flugplatz zu stehen? „Das sind mehrere Dinge", antwortet Stefan. Zum einen begeistere ihn das Fliegen an sich: „Ich fühle mich frei, wenn ich in der Luft bin. Ich bin auf das Flugzeug konzentriert, werde eins mit ihm. Alle Probleme sind weg—man ist wirklich in der Luft."

Zum anderen ist es, wie wohl bei allen Spitzensportlern, der Ehrgeiz, der ihn antreibt. „In der F3A-Kategorie ist enorme Präzision gefragt." Das sei eine grosse Herausforderung, der er sich gerne stelle und die ihn ziehe. Zu diesen beiden Gründen geselle sich das Ganze, was neben den Flügen passiere. Das Vereinsleben und die Kollegen aus der ganzen Welt. „Man möchte die Leute einfach wieder sehen."

Das Vereinsleben spielt sich in der Modellfluggruppe Liechtenstein ab. Auf den Fotos auf deren Homepage sind vor allem Männer zu sehen, die bedeutend älter sind als Stefan. „Generell sind die Leute schon älter", bestätigt Stefan meinen Eindruck.

Die Frage, ob ihn das störe, verneint er aber vehement. Im Gegenteil: Er fände es schön, seit seiner frühen Jugend auf dem Flugplatz regelmässigen Kontakt zu reifen, älteren Personen zu haben. „Dadurch wirst du selbst auch reifer und du machst etwas Gescheites." Am Abend sei er jeweils zu müde, um wegzugehen und Dummheiten anzustellen. „Ich würde es darum jedem empfehlen, zu fliegen." Das sei etwas Gesundes und man komme nicht auf dumme Ideen.

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Ob er sich denn schon einmal überlegt habe, den Pilotenschein zu machen, möchte ich zum Abschied von ihm wissen. „Ich habe es mir einmal überlegt", antwortet er. Dann habe er allerdings einen Passagierflug in einem Kunstflugsegler ausprobiert und nach 13 Minuten sei ihm richtig übel geworden—„Ich wurde wirklich blau."

„Ich bin gerne auf dem Boden und habe meine Flugzeuge in der Luft.", führt er aus. Er stelle sich vor, dass er selbst im Modell sitzt. Das reiche ihm. „Das ist das selbe Gefühl, wie wenn ich richtig in der Luft bin. Modellflug ist meine Heimat, meine Leidenschaft."

Wie wohl er sich in dieser Heimat fühlt, merke ich, als Stefan von einer Erinnerung an die EM erzählt. Kurz vor dem Flug, der ihm den Titel bringen sollte, sei er extrem nervös gewesen. Überwunden habe er diesen Moment, indem er sich an sein mentales Training erinnert habe. Daran, dass er nur im Moment leben und sich selbst an den kleinsten Dingen erfreuen soll.

Also dachte er sich: „Wir haben schönes Wetter, wir haben die EM bei uns, mein Vater ist hier und wir sind gesund." Er schaute die Wolken an, an deren Konstellation er sich noch heute erinnern kann, hörte das Vogelgezwitscher und spürte den Wind auf seiner Haut—und holte sich den ersten Titel seiner jungen Karriere.

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