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Motherboard

Twitter will dein neues Facebook werden

Wie es aussieht, arbeitet der Kurznachrichtendienst an einem neuen Algorithmus, der Tweets jetzt erstmals gewichtet und damit das tut, was seine Nutzer am Schwestermedium Facebook immer kritisiert haben.

Foto: Flickr | glennshootspeople | CC BY-NC 2.0

Vergangene Woche war die Welt der sozialen Medien noch in Ordnung—vielleicht nicht inhaltlich, aber zumindest formal (wobei ersteres eher den Menschen, als den Medien anzukreiden ist). Jede Plattform hatte ihr spezifisches Nutzungsverhalten, ihre dominierende Design-Eigenschaft, ihr eigenes „Ding“.

Twitter war die Anlaufstelle für unverzerrten Echtzeit(nachrichten)-Austausch, Facebook der chronologisch chaotische Raucherhof unseres erweiterten Freundeskreis und Google Plus die ereignisbefreite Geisterstadt, durch die Steppenläufer wehten.

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Jetzt rüttelt Twitter an dieser Ordnung und macht mit seinen zuletzt verkündeten „Experimenten“ deutlich, dass es seine vielgelobte Echtzeit-Timeline sukzessive gegen einen weniger sauberen, aber intuitiveren Facebook-Feed eintauschen will.

Foto: Flickr | zilverbat. | CC BY-NC 2.0

Wie es aussieht, arbeitet der Kurznachrichtendienst an einem neuen Algorithmus, der Tweets jetzt auch erstmals gewichtet und damit das tut, was seine Kernnutzer am niederschwelligeren Schwestermedium Facebook immer kritisiert haben: nämlich einen Filter zwischen die Nachricht und die Nutzer schalten.

Bei der Frequenz, mit der Twitter Innovationen verkündet, darf man zwar zurückhaltend bleiben, was Prognosen angeht—immerhin hat Alex Roetter, Twitters Vice President of Engineering, erst kürzlich in einem Blogpost zugegeben, dass kaum ein Tag vergeht, an dem Twitter über seine PR-Kanäle kein neues Experiment ankündigt—aber ein erster Schritt weg von der rein chronologischen, hin zur gewichteten Timeline gibt es bereits, und zwar in Form der Aufwertung des Favorite-Buttons, der bis dahin eher der Blinddarm-Wurmfortsatz unter den Twitter-Tools war. Neuerdings werden Usern ähnlich wie bei Facebook Beiträge von Fremden angezeigt, solange sie von mehreren Kontakten favorisiert wurden.

Die Auswirkungen dieser Änderung sind für die meisten von uns überschaubar: Immerhin zieht man auf Twitter meist keinen Rattenschwanz an parasozialen Bekanntschaften aus dem erweiterten Abschlussklassen-Kreis hinter sich her, sondern folgt gezielt unverbandelten Fremden, weil ihre Accounts einfach interessant sind. Je isolierter und inzestuöser das jeweilige Twitter-Biotop, umso ungeordneter wird aber auch der Feed aussehen—womöglich Twitters passivaggressive Art, uns zu mehr Offenheit und Austausch zu bewegen.

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Manche User rufen trotzdem schon zum „Twitter-Streik“ auf. Am 5. September sollen zwischen 10:00 und 12:00 Uhr keine Faves, Likes, Posts oder Retweets passieren, um die Plattform mit dem altbewährten Druckmittel des Liebesentzugs zu bestrafen. (Das Ganze findet übrigens gleichzeitig mit dem „Tweet like Werner Herzog“-Day statt—man wird sich also zwischen Humor und Clicktivismus entscheiden müssen.) Auch eine Online-Petition mit dem Aufruf „Twitter soll einzigartig bleiben!“ gibt es schon.

Dass das alles natürlich übertrieben ist, ist keine Frage—genauso, wie es uns modernen Mediennutzern klar sein sollte, dass ein reaktionäres Festhalten an alten Benutzeroberflächen noch nie so illusorisch war wie heute (ja, Windows Vista war scheiße, aber können wir bitte damit aufhören, uns wie unsere eigenen Großonkel darüber zu unterhalten?).

Foto: Flickr | pavlinajane | CC BY-SA 2.0

Aber im Fall von Twitter und Facebook geht es nicht nur um praktische Neuerungen und um Fortschrittlichkeit per se. Wenn (soziale) Medien nichts anderes sind, als Prothesen und Erweiterungen von uns Menschen, wie schon Marshall McLuhan sagt, dann geht es bei Twitter und Facebook in ihrer bisherigen Form auch um zwei unterschiedliche Entwürfe davon, wie wir die Welt sehen wollen.

Dabei stand Twitter immer für ein aufklärerisches, lineare und logisches Weltbild: Das Medium ist im wahrsten Sinne nur Vermittler und Informationsträger ohne Gewichtung und die Kontrolle blieb beim selbstverantwortlichen und mündigen Nutzer.

Facebook hingegen war seit jeher der Vertreter eines pragmatischen, subjektivistischen Weltbilds: Hier steht das Medium in Wechselwirkung mit der menschlichen Wahrnehmung und ist ein Marktplatz voller unterbrochener Denkprozesse, durcheinandergewürfelter Lebensereignisse und chaotischer Cut-ups, die gegeneinander um Aufmerksamkeit kämpfen (und deren Ausspielung von Aufmerksamkeit diktiert wird).

Damit war Facebook immer auch näher an der menschlichen Natur. In Anlehnung an einen Spruch von Richard Nixon könnte man sagen: Auf Twitter sahen die Leute, wie sie gern wären—auf Facebook sahen sie, wie sie wirklich sind. Jetzt hat anscheinend das Idealbild ausgedient und die menschliche Wirklichkeit gesiegt.

Markus auf Twitter: @wurstzombie