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Nach dem Dosenverbot gegen eine Muslima – wir haben Nahkampf-Experten gefragt, wie gefährlich Getränkedosen wirklich sind

Wie wird ein Getränk im Flugzeug zur Waffe? Und welche Alltagsgegenstände sind noch ein Sicherheitsrisiko?
Titelfoto via Photopin

Man sollte annehmen, dass wir mittlerweile in einer so aufgeklärten Gesellschaft leben, dass wir Leute nicht mehr anhand ihrer Religion oder ihrer Kleidung in irgendeine Schublade stecken. Eine amerikanische Fluggesellschaft hat nun bewiesen, dass wir davon noch weit entfernt sind.

Eine muslimische Frau, als solche von Weitem an ihrem Kopftuch zu erkennen, sitzt in einem Flugzeug. Sie hat Durst und bittet die zuständige Stewardess um eine Dose Cola—ungeöffnet, aus hygienischen Gründen. Die wird ihr verweigert—relativ rigoros, aus Sicherheitsgründen. Als kurz darauf allerdings ein anderer Fluggast ohne jede Beanstandung eine geschlossene Bierdose gebracht bekommt, schwant der Universitätsmitarbeiterin Tahera Ahmad, die auf dem Weg zu einer Vermittlungskonferenz zwischen palästinensischen und israelischen Jugendlichen war, erstmals Übles.

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Diese Ex-Muslima hat einen Tumblr für Frauen gestartet, die ihr Kopftuch an den Nagel gehängt haben.

Sie will genauer wissen, warum sie, und anscheinend wirklich nur sie, keine ungeöffnete Dose bekommt. Die Antwort zeigt relativ offensichtlich, wie tief die Vorurteile beim Durchschnittsamerikaner gegenüber Muslimen sitzen—vor allem dann, wenn sie sich an Bord eines Flugzeugs befinden: „Wir dürfen den Leuten keine ungeöffneten Dosen geben, weil sie sie sonst als Waffen einsetzen könnten." Als sich Ahmad an die anderen Passagiere wendet und fragt, ob sie diese Situation gerade auch als diskriminierend wahrnehmen, brüllt ihr ein Mann entgegen: „Du Moslem, du musst jetzt endlich die Fresse halten! Ja, du weißt ganz genau, dass du [die Dose] als Waffe benutzen würdest, also halt die Fresse." Die schockierte Muslima veröffentlichte dieses Erlebnis als Facebook-Post, der insbesondere in den USA eine Welle der Solidarität auslöste. Sowohl die Stewardess als auch der Pilot des United-Airlines-Fliegers sollen sich mittlerweile übrigens bei ihr entschuldigt haben.

Neben offen zur Schau gestelltem Rassismus und dem tiefsitzenden Problem, das der US-amerikanische Durchschnittsbürger mit dem Islam und seinen Anhängern zu haben scheint, gibt es an dieser Geschichte noch ein weiteres fragwürdiges Element: der Gegenstand des Anstoßes, die neue Geheimwaffe eines jeden Flugzeugterroristen, die ungeöffnete Cola-Dose. Messer als Sicherheitsrisiko? Klar. Irgendwelche Substanzen, aus denen sich Bomben basteln lassen? Absolut nachvollziehbar. Und von mehreren durchwachten Abenden mit Wrestling-Übertragungen war einem auch klar, welch negativen Einfluss beispielsweise Stühle auf den menschlichen Körper haben können, wenn sie geworfen werden. Aber eine Getränkedose? Weil wir uns das nicht so richtig vorstellen könnten, haben wir bei Nahkampf-Experten nachgefragt—und dabei festgestellt, dass es scheinbar kaum einen gefährlicheren Ort gibt als einen gutsortierten Getränkestand.

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Björn Wiebe vom Krav Maga Department in Berlin unterrichtet israelischen „Kontaktkampf", bei dem auch auf Alltagsgegenstände, so genannte Common Objects, zurückgegriffen wird, zu denen auch Fahrradschlösser, Metallkugelschreiber, Schlüsselbunde, Rucksäcke und heiße Flüssigkeiten im Allgemeinen gezählt werden. „Manche Alltagsgegenstände werden eingesetzt, um gefährliche Angriffe effektiver abzuwehren, zum Beispiel ein Rucksack gegen gefährliche Messerattacken. Andere wiederum werden genutzt, um die eigene Schlagwirkung zu verstärken. Dafür sind prinzipiell alle Alltagsgegenstände geeignet, die mindestens zwei Kriterien erfüllen. Erstens: gut greifbar. Zweitens: ausreichende Stabilität. Kommt nun als dritter Faktor noch eine gewisse handhabbare Masse hinzu, ist die Wirkung nochmals verstärkt", erklärt der Selbstverteidigungsspezialist. „Alles, was stabil und handlich ist, eignet sich als improvisierte Waffe", sagt auch Kai Kühn, der für Hammer Concept in Bremen Kurse in Selbstverteidigung gibt, und zählt in seiner Liste der potentiell gefährlichen Alltagsgegenstände auch Salzstreuer und Make-up-Stifte auf.

Noch gefährlicher: Cola-Dosen, die fliegen können. Foto: Coca-Cola South Africa | Flickr | CC BY-ND 2.0

Aber was ist denn nun so gefährlich an einer verschlossenen Getränkedose? Immerhin wird auf Flugzeugen auch Kaffee (heiße Flüssigkeit) ausgeschenkt und Stifte dürfen die Fluggäste im Allgemeinen auch behalten. „Eine geöffnete Dose ist weniger gut greifbar und stabil. Das Objekt würde sich beim festen Greifen und Auftreffen stärker verformen und deswegen als Schlaggegenstand etwas weniger gefährlich sein. Eine geschlossene Getränkedose erfüllt hingegen alle drei Kriterien—insbesondere wenn der Rand der Dose auftrifft", sagt Björn Wiebe. „Wer dies für übertrieben hält, kann einen Selbstversuch starten: Einfach mit dem Rand einer geschlossenen Getränkedose zunehmend stärker gegen die eigene Stirn klopfen, bis es unangenehm wird. Die meisten sind überrascht, wie schnell sie den Versuch abbrechen, selbst bei gering eingesetzter Energie. Erst dadurch begreifen viele, was es bedeutet, wenn man selbst von so einem Gegenstand mit voller Wucht im Gesicht getroffen wird."

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Motherboard: Der Kampf gegen rassistische Emojis.

Laut Kai Kühn kann eine geöffnete Getränkedose allerdings ungleich gefährlicher sein, wenn man sie nicht nur als Schlagverstärker verwendet: „Wenn man eine leere Dose in der Mitte durchtrennt, bekommt man einen Gegenstand mit sehr scharfen Kanten, der schon einen gewissen Klingencharakter hat und schwere Verletzungen verursachen kann."

Solltet ihr zukünftig also nur noch mit panisch aufgerissenen Augen an Getränkeauslagen vorbeigehen, tut ihr es wahrscheinlich zu Recht. Warum eine muslimische Frau mit einer Cola-Dose allerdings ungleich gefährlicher ist als ein nicht-muslimischer Mann mit Bier-Dose, bleibt nach wie vor offen.

Wenn ihr Lisa ungeöffnete Bierdosen zukommen lassen wollt, kontaktiert sie doch bei Twitter.


Titelfoto: Canettes via photopin (license)