Nicht ganz 1000 Kreuze: Abtreibungsgegner bekommen in Deutschland Gegenwind

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Nicht ganz 1000 Kreuze: Abtreibungsgegner bekommen in Deutschland Gegenwind

Die 130 Pro-Lifer, die am Samstag durch Münster liefen, wurden mit Konfetti und Gotteslästerungen überschüttet.

Der Frühlingsanfang treibt komische Vögel aus ihren Nestern, selbst wenn das Wetter beschissen ist. In Münsterhaben am Samstag kaum mehr als hundert christlich-fundamentalistische Abtreibungsgegner demonstriert. Sie wurden von Gegendemonstranten mit viel Blasphemie und Konfetti begleitet.

Die Organisation „Euro Pro Life" aus München zieht bereits seit einigen Jahren jeden März betend durch Münster. Obwohl sie dafür in Münster nicht annähernd genug Menschen auf die Straße bringen, nennen die Abtreibungsgegner ihren „Gebetszug" „1000 Kreuze für das Leben". Das soll für die 1000 ungeborenen Kinder stehen, die in Deutschland an jedem Werktag abgetrieben würden. 1000 ist dabei zwar eine schön runde Zahl, wirkt mit einem Blick auf die Statistiken allerdings maßlos übertrieben. Die selbsternannten „Lebensschützer" eint dabei nicht nur ihr Hass auf Abtreibungen, sondern auch ein erzkonservatives, christlich-fundamentalistisches Weltbild. Auch nach rechts ist die Szene sehr offen, in Münster marschierten vor ein paar Jahren auch schon mal Neonazis unwidersprochen mit.

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Den „Lebensschützern" wird immer wieder vorgeworfen, dass sie den Holocaust und die Euthanasie der Nazis durch Vergleiche mit Abtreibungen verharmlosen. Der Anmelder des „Gebetszugs", Wolfgang Hering, will das nicht auf sich sitzen lassen. In Münster erzählt er seinen Anhängern, er habe lediglich gesagt, dass heute in deutschen Kliniken und Abtreibungspraxen wieder Dinge geschehen, „wegen denen Menschen bei den Nürnberger Prozessen verurteilt worden sind." Er fährt fort und setzt Pränatal-Diagnostik und Abtreibung mit dem massenhaften Mord an behinderten Kindern in der Nazizeit gleich. Hering nennt das „bloße Fakten", seine Gegner sehen einen unangebrachten und disqualifizierenden Nazivergleich.

Die Gegendemo

Schon mehrere Stunden bevor die Fundamentalisten in der Stadt ankamen, startet eine radikale feministische Gegendemo. Etwa 300 Menschen kritisieren nicht nur die erzkonservativen „Lebensschützer", sondern auch das Verhältnis von Staat und Kirche. Die Kirchen würden sich mit vielen guten Taten brüsten, die würden aber fast komplett vom Staat bezahlt. Trotzdem gebe es bei den großen christlichen Arbeitgebern wie Caritas und Diakonie Sonderarbeitsverträge, die beispielsweise Schwule, Lesben und Geschiedene diskriminieren.

Die Demo sorgt vor allem für viele verwirrte Blicke von älteren Passanten im kleinbürgerlichen Münster. Parolen wie „Kein Gott, kein Staat, kein Vaterland—Abtreibung in Frauenhand" hört man hier nicht alle Tage. Auch die zwei einsamen Zeugen Jehovas, die am Rand der Demo-Route stehen, lächeln nur noch ziemlich gequält.

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Irgendwann läuft die feministische Demonstration dann auch noch erst an einem Infostand von „Chemtrail"-Gläubigen und ein paar hundert Meter danach an einem Koran-Verteilstand von Salafisten vorbei.

Bei dem Chemtrail-Stand sollen einige Zeitschriften verschwunden sein, die Polizei nimmt deshalb später sogar eine Person fest. Den leicht verwirrt dreinblickenden Salafisten schallt ein „Gegen jeden Fundamentalismus" und „Biji Biji Kurdistan" [„Es lebe Kurdistan"] entgegen.

Die Fundamentalisten

Einige Zeit nachdem die feministische Demo beendet ist, sammeln sich dann auch die selbsternannten „Lebensschützer" neben einer katholischen Kirche in der Münsteraner Innenstadt. In die Kirche rein dürfen die Fundamentalisten seit 2010 nicht mehr, weil sie sogar dem Bistum zu abgedreht und rechtskonservativ sind. Im strömenden Regen versammeln sich vor allem spießig angezogene Leute über 50, aber auch einige junge Menschen sind da. Die Polizei wird später von 130 Teilnehmern sprechen.

Während ich auf den Beginn der Veranstaltung warte, kommt ein Mann auf mich zu. „Sind Sie von der Presse?", fragt er. „Ja, bin ich." „Dann möchte ich Ihnen ein paar Sätze sagen, die können Sie ruhig schreiben!" Das verspricht, interessant zu werden, ich schneide also mit: Er stellt sich als Christian Baumgarten vor, ist 48 Jahre alt und schon seit vielen Jahren als „Lebensschützer" in ganz Deutschland unterwegs. Warum er hier ist? Weil es sich bei „ungeborenen Menschen" um einzigartige Personen handelt und wir sie „von Gott her" nicht töten dürfen. Er erzählt dann noch einiges über „das natürliche Recht der Fortpflanzung", das Grundgesetz, die Aufgabe der Medizin, das Leben der Menschen zu verlängern und erträglich zu machen. „Auch bei Krebs und starken Schmerzen haben wir Menschen nicht das Recht, das Leben zu beenden", sagt er.

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Was er den jungen Menschen sagen würde, die da hinter der Polizeiabsperrung gegen ihn und seine Leute demonstrieren? „Da muss man sagen, da handelt es sich in erster Linie um Menschen, die die Existenz Gottes überhaupt nicht akzeptieren." Er fährt dann damit fort zu erklären, warum die Schöpfungslehre richtig sein muss. Zum Abschluss fragt er nochmal nach, von welchem Magazin ich noch gleich bin. VICE kennt er nicht. Er fragt mich, ob ich denn da die Wahrheit überhaupt schreiben dürfe. „Weil bei den Lokalzeitungen hier dürfen die die Wahrheit schon lange nicht mehr schreiben. Da sind überall englische und amerikanische Konzerne involviert." Ich beruhige ihn und sage, dass ich da eigentlich sehr frei bin.

Unter die Fundamentalisten hat sich auch eine Dreiergruppe gemischt, die vorher schon auf der Gegendemo mitlief. Zwei Frauen haben sich lange schwarze Röcke drüber gezogen, nur die schicken Sneakers wirken leicht verräterisch. Nach einer Weile lassen sie die Tarnung auffliegen: Sie rufen blasphemische Parolen gegen das Patriarchat und werden von der Polizei wegeskortiert.

Nachdem die weißen Holzkreuze ausgegeben wurden und vom Versammlungsleiter daran erinnert wurde, dass das ganze ein Gebetszug und kein Protestmarsch sein soll, geht es los. Schon nach etwa hundert Metern kommt der Zug an den ersten Gegendemonstranten vorbei, die sie auspfeifen. Dabei drehen zwei vermeintliche „Lebensschützer" ihr Kreuze unauffällig um. Während die Gegendemonstranten das mitbekommen und jubeln, fällt den Betenden und der Polizei nichts auf. Die merken auch nichts, als die beiden kurz später mit ihren Holzkreuzen in den Reihen der Gegendemonstranten verschwinden.

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Die Gegenproteste sind generell das bestimmende Moment. Zwar versucht die Polizei immer wieder, zumindest größere Gruppen abzudrängen. Münsters Altstadt hat aber so viele kleine Straßen und Gassen, dass es immer wieder Leuten gelingt, direkt neben den betenden Abtreibungsgegnern zu landen, um sie und die Polizei mit Massen an Konfetti zu bewerfen. Während der Gebetszug singend durch die Stadt läuft, hört man von außerhalb vor allem Pfeifen und Trommeln. Die Blicke der meisten Passanten werden noch viel ungläubiger und verwirrter als bei der feministischen Demo Stunden vorher. Eine Mutter sagt am Rande des Spektakels zu ihrer kleinen Tochter über die ProLife-Demo: „Die sagen ganz, ganz dummes Zeug!"

Die Parolen, die den Fundamentalisten entgegenschallen, reichen vom klassischen feministischen Spruch „My body, my choice" bis zu Sprüchen wie „Hätt Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben". Die Pro-Lifer lassen sich aber nur schwer aus der Ruhe bringen. Statt zurück zu pöbeln, wird für die verlorenen Seelen gebetet.

Am Ende ihres Gebetszuge legen die selbsternannten „Lebensschützer" dann Rosen an einem Denkmal für Kardinal von Galen ab und beten noch mal ausgiebig. Mit jeder Rose, die abgelegt wird, wird ein Name eines Kindes vorgelesen, um an die „1000 abgetriebenen Kinder am Tag" zu erinnern. Die meisten Behauptungen dieser christlichen Fundamentalisten sind zwar schlichtweg falsch—aber was an Fakten fehlt, machen sie dafür mit dick aufgetragenen Emotionen wieder wett.

Unter den Gegendemonstranten, die einige Meter von dem Abschlussgebet entfernt stehen und Lärm machen, entdecke ich auch die drei „falschen Christen" von vorher wieder. Ich frage sie, wie es sich angefühlt hat, allein zwischen diesen Menschen zu stehen. „Das war sehr witzig, es war im Endeffekt viel zu leicht, da rein zu kommen. Es war schon lustig zu sehen, wie die sich immer mehr verkrochen haben, weil es geregnet hat, und dann merken mussten, dass da Leute an ihrem Startpunkt sind, die da gar nicht sein sollten und einen Gegenpol setzen", erzählt einer der Drei. „Vor allem weil die uns vorher so herzlich aufgenommen haben und gar nicht skeptisch waren", ergänzt die Andere, mittlerweile ohne langen schwarzen Rock. „Die haben sich wohl sehr gefreut, dass da auch junge Menschen bei ihnen sind."

Dass Fundamentalisten wie die von „Euro Pro Life" Nachwuchsprobleme haben, klingt in der Tat sehr wahrscheinlich. Für Jugendliche mit Mittelalter-Fetisch haben sich nämlich mittlerweile andere Veranstaltungen etabliert.