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Porno für Lehrerkinder

„Nachdenklicher Text mit Fehleren"

Alle Fotos Screenshots von „Nachdenkliche Sprüche mit Bilder"

Wo kommt das denn jetzt schon wieder her, dass alle plötzlich so 1 Bock darauf haben, debile Texte voller Fehler lesen zu wollen? Ist dieser Angriff auf Orthographie ein subversiver Akt, ein Fack ju an die Kontrollgesellschaft? Oder geht es doch nur darum, sich aufzuspielen, weil man in der virtuellen Deutschstunde im Internet besser abschneiden kann als weniger Privilegierte?

Außerdem … wenn es um angegeilt defekte Sprache geht, da kann doch Money Boy garantiert nicht weit sein.

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Ein Steg ragt ins Wasser hinein, Vögel ziehen dahin, die untergehende Sonne taucht diese überkitschige Kulisse in warmes Licht. Auf dem Bild steht hässlich reingeshoppt ein, na ja, nachdenklicher Spruch:

„Jede Augeblick im Leben ist 1 Geschenk geneise jeden Momemt
den keiner weis wann sein Zeit gekomen ist"

Was textlich wirkt wie eine WhatsApp-Nachricht nach fünf Gin Tonic, ist nichts weniger als der Social-Media-Hype der Stunde. Anfangs besaß die Facebook-Seite „Nachdenkliche Sprüche mit Bilder" 1500 Likes. Keine Woche später sind es bereits über 21.000—und wer die Zahlen jetzt kontrolliert, wird ganz sicher auf noch viel mehr stoßen.

Die hingeklatschten Erbauungsbildchen mit immer wieder neuem Orthographie-Massaker haben ganz offensichtlich einen Nerv getroffen. Doch das Brimborium um kaputte Sprache ist eigentlich nichts Neues, was drei Beispiele der jüngeren Zeit beweisen.

Fack ju Göhte

Die Sorge des Bildungsbürgertums, durch Sprachverfall auch Identitätsverluste zu erleiden, wurde zu einem wohlig harmlosen Feelgoodfilm gesponnen. Zielgruppe: Maturanten und ihre Eltern. Der Coup ging auf. Hier hat man es mit dem üblichen Zeigefinger-Zeitgeist in postironischem Gewand zu tun: „Schaut, wie wir uns die Äußerungsformen der niederen Schichten angeeignet haben—und ihnen durch produktive Re-Inszenierung den Schrecken nehmen". Die Reihenhaussiedlung triumphiert so über die Straße. In einem fairen Fight völlig ausgeschlossen!

„Abi Haft, ich tick weiter Abiat", Haftbefehl

Als der Rapper aus Offenbach vor einigen Jahren immer sichtbarer wurde, war das Entsetzen ganz auf Seiten des Mainstreams. An die unzumutbare Härte im Gangster-Rap hatte man sich durch Bushido und die Folgen zwar nie wirklich gewöhnt, doch zumindest schien das alles soweit bekannt. Doch Haftbefehl zerlegte nicht mehr nur wacke MCs und das Gesetzbuch, sondern mit seiner Mischung aus Kanak-Sprak, Rap-Jargon und Fantasy auch die heilige deutsche Sprache. Zumindest kam das bei vielen Kritikern so an. Sprache als Werkzeug, Andersdenkende auszuschalten—was gemeinhin von oben gegen unten ausgespielt wird, drehte hier die Stoßrichtung um.

„Abi Haft, ich tick weiter Abiat
Und mach Masari, schnapp
Para, Pagare, cho, Money her, Amina
Knall weiter Manitas
Schwani hart Stani Chab
Geh deine Mami frag'n
Ruf den Sani-Arzt"

(aus: Haftbefehl „Generation Azzlack")

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Was brisant begann, ist heute allerdings fast schon eine Love-Story. Mittlerweile wissen selbst Typen wie Thomas Gottschalk, dein ehemaliger Deutschlehrer oder Sebastian Kurz, wer „der Babo" ist. Es ist eher Haftbefehl selbst, der um seine Credibility fürchten muss, weil ihm und seinem Slang derart viel Begeisterung von den ganzen straßenfernen Hipster-Jünglingen widerfährt.

Prognose: Haftbefehl-Sprech wird spätestens 2020 Schulfach.

„Turn up und dreh den Swag auf", Money Boy

Nicht-Eingeweihte halten den bedröhnten Wiener Riesen besonders wegen seiner eigenen Interpretation von Sprache für geradezu debil. Untergang des Abendlandes reloaded. Gleichzeitig haben aber immer mehr den Code geknackt und Spaß daran gefunden, sich aus Sprache 1 Fun zu maken. Die exzessive Verwendung von Anglizismen und der Wille zur Wortneuschöpfung haben dem System Money Boy ein eigenes Kauderwelsch verpasst, das die unterschiedlichsten Crews dazu bringt, diesen Ansatz selbst weiter zu drehen. Money Boy (immerhin studierter Magister) inspirierte unter anderem LGooney, MC Smook, Eigengewächse wie Hustensaft Jüngling und Medikamenten Manfred – oder eben Tausende Irre im Internet. Tendenz steigend. Dieses Movement wird noch eine ganz neue Generation Deutschlehrer in den Wahnsinn treiben …

„Die ware stärke des Menschen sieht man nich an sein Muskeln sondern An sein Denkleisung", Nachdenkliche Sprüche mit Bildern

Und jetzt also diese räudigen Poesie-Bildchen, die eine bestimmte kitschanfällige Community in den Originalversionen (also mit etwas weniger und nur versehentlichen Fehlern) schon seit Anbeginn von Social Media gern mit der Welt teilt. Lästig—und durch seinen Ernst ein perfektes Opfer für die Parodie. Doch läge der Witz allein darin, jenen halb esoterischen Fans dieser Sprüche mal die Cola mit Ice umzukippen, die Nummer hätte niemals so eine Fahrt aufgenommen. Der Fetisch Fehlerteufel geht tiefer—und längst nicht alle sind sicher, ob darin nur Harmloses oder gar Gutes schlummert.

Über den Gag hat sich bereits die übliche Backlash-Diskussion gelegt, die jedem Hype folgt. Doch ihre Argumente sind nicht ohne. Die Frage kommt auf, findet man es bloß witzig, weil man ein verbesserungsgeiler Arsch ist, dass sich einzig seines Überlegenheits-Status versichert, wenn es den Hund postet, der nur „seim Leben" hat?

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So teilte unter anderem ein ehemaliger Titanic-Redakteur folgenden Beitrag. (Apropos Schlachtfeld Sprache: Die Titanic publiziert ihr Magazin bis heute noch nach der alten Rechtschreibung, da sie wie einige andere Magazine die Reform von 1996 für sich nicht anerkannte.)

Der ganze Spaß also schon wieder vorbei? Und wer über die nachdenklichen Bilder mit den stammelnden Indianern und Kätzchen lacht, ist bloß Sozialchauvinist? Mit dem Gedanken zumindest trägt sich auch Social-Media-Experte und Buchautor Peter Wittkamp (Poste Deine Darmspiegelung):

„Macht man sich nun über diese Bilder und die abenteuerliche Rechtschreibung lustig, ist der Schritt gar nicht mehr so weit, am Sonntagabend Schwiegertochter gesucht einzuschalten. Einfach mal über Leute lachen, die man ein bisschen simpler findet als sich selbst. Es gibt dafür auch einen -ismus, nur fällt der mir gerade nicht ein. Doch: Sozialer Chauvinismus!"

Die Kritiker führen Argumente an, die nicht weggewischt seien, dennoch greift es zu kurz, sich hier nur vor einer vermeintlich klassenfeindlichen Motivation ekeln zu wollen. Denn Sprache zu beugen, ja, zu verhunzen, stellt immer ein zu verteidigendes Privileg von Jugend und Subkulturen dar. „Sprich nicht mit vollem Mund", „eure Sprache ist total verroht", „Wir haben noch Gedichte und den Ablativ in der Schule gelernt" … So reden, dass sich Lehrer und Eltern gruseln, das besitzt etwas wahnsinnig Befreiendes. Ein Urlaub von der Kontrollgesellschaft. Denn kaum etwas schafft mehr Abgrenzung, als nicht dieselbe Sprache zu sprechen.

Wobei sich die „Nachdenklichen Sprüche" mit der Verwendung der 1 (statt: ein) sichtbar auch an dem bereits erwähnten Money Boy orientieren. Das Spiel mit Fehlern und Sonnenuntergängen schreibt hier also an einer bestehenden Bewegung weiter—und stellt eben keinen singulären Anfall von Klassismus dar.

Die Rechtschreibung zu demolieren, als führe man Autoscooter auf der Tastatur, besitzt dabei etwas sehr Lustvolles. Man fühlt sich erinnert, wie es war, einfach mal in der Pfütze zu spielen—statt immer bloß mit Lego zu spielen. Sprache zu verändern, triggert Kreativität. In dem Autoren dieser Zeilen zumindest bricht sich die Motivation Bahn, das letzte ohnehin schon schwache Sprachbild in den kaputten Neusprech zu übersetzen. Sorry, keine Chance, das mehr zurückzuhalten. Mal selbst probieren:

„Du kanst 1000 Lego baun
abre erst wen du in 1 Fütze gepsielt hast
weis duwas freiheit bedeute"

Hey, also ich habe mich beim Texten schon weit schlechter gefühlt als bei jenen Zeilen eben. Fehler finden und gleichzeitig produzieren—einfach ganz schön (selbst)befriedigend, so jetzt ist es raus! Aber gerade deshalb jedem mal zu empfehlen. Doch bildet euch bloß nicht so viel drauf ein. Dein Life ist kein Diktat und Fehler is king!