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Popkultur

„RIP Philip Seymour Hoffman—und alle toten Kinder Afrikas“

Während die Mehrheit um einen Star trauert, den sie nie kannte, gibt es immer auch einige, die dieses Mitleid verlogen finden. Dabei ist Star-Kult (leider) etwas ganz Menschliches—bedankt euch dafür bei unseren beiden inneren Trollen, Vorstellungskraft...

Je universeller die kollektive Trauer zum Tod eines Stars, umso schneller folgt auch die (sozialmediale) Gegenreaktion. Das sieht man aktuell wieder anhand Philip Seymour Hoffmans viel zu frühem Drogentod, bei dem auf tausend gemeinschaftsstiftende Trauer-Postings im Facebook-Feed immerhin schon zwei bis drei gallige „Aber die Kinder in Afrika"-Wortmeldungen kommen.

In Wahrheit ist der konkrete Schauspieler/Musiker/Sportler dabei völlig austauschbar, weil für die Kritiker hier das westliche Star-System selbst auf dem Pranger des globalen Dorfes steht. Ihr Argument hat einzig und allein damit zu tun, dass es immer verlogen ist, um Einzelne zu trauern, solange die Allgemeinheit nicht von Hunger und Krankheit kuriert wurde.

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Screenshot via Facebook

Wie so ziemlich alles auf der Welt—mit der Ausnahme von der Obsession mit Profilbildern und kleinen roten Einsern—ist natürlich auch diese Position schon ein paar Jahre älter als Facebook. Als am 20. Juli 1969 die Landungskapsel von Apollo 11 auf dem Mond aufsetzte, wurde noch am selben Tag in den Zeitungen diskutiert, ob man mit dem Geld nicht viel lieber doch die Armut in Afrika bekämpfen hätte sollen—und ich rede hier nicht nur von so trendsensiblen Medien wie der New York Times, sondern auch von Lokalblättern wie den Oberösterreichischen Nachrichten, die vor Trends geradezu in den Bunker flüchten.

Die Euphorie, die wie mundgerechte Acid-Löschblätter um sich greifen hätte sollen, stürzte fast genauso schnell wieder ab, wie jemand, bei dem die mundgerechten Acid-Löschblätter funktioniert hatten. Statt fortschrittsverblendeter Freude gab es gesamtgesellschaftliche Kritik.

Die Apollo 11 Mission kostete damals 20 Milliarden US-Dollar, was heute zirka 127 Milliarden Dollar oder 94 Milliarden Euro entspricht. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass man für 30 bis 70 Milliarden US-Dollar pro Jahr (zwischen 22 und 52 Milliarden Euro) den Hunger nicht nur bekämpfen, sondern sogar beenden könnte. Trotzdem kamen sogar die Nachrichten damals zu dem unangenehm ehrlichen Schluss, dass uns als Spezies nun mal nicht das Wohlbefinden aller, sondern die Träume mancher antreiben.

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Screenshot via Reddit

Sicher, das klingt jetzt vielleicht zynisch und hat etwas von neoliberalem Rechtfertigungsgerede pro Sozialabbau und Tellerwäscher-zum-Milionär-Visionen—und ja, mit vollem Bauch lässt sich leicht heiße Luft produzieren—, aber solange wir als Menschheit den ewigen Fortschritt zum Ziel haben, solange werden wir Opfer in Kauf nehmen und uns von unserer Vorstellungskraft zu wahnsinnigen Höhenflügen anstacheln lassen.

Das ist auch nicht gleich faschistisch (obwohl ich die Trolle schon in den Godwin'schen Startlöchern scharren sehe), sondern einfach menschlich. Selbst der Kampf gegen Hunger und für mehr Menschenrechte wäre auf einer menschlichen Ebene nicht ohne Galionsfiguren wie Mahatma Ghandi, Nelson Mandela, Mutter Teresa oder Wangari Maathai denkbar gewesen.

Erklärungsversuche, warum genau wir uns lieber an einzelnen Menschen orientieren als an abstrakten Massen und Konzepten, gibt es natürlich viele—und die Antwort ist keineswegs immer das böse Star-System von Hollywood, das uns den Blick auf die Übel in Afrika vernebelt. Viel eher ist das Star-System, das ohne Unterlass menschliche Gebrauchsartikel wie eben die öffentliche Figur Philip Seymour Hoffman produziert, nur eine logische Konsequenz davon, wie unser Gehirn funktioniert.

Screenshot via Facebook

Denn unsere Gehirne sind vor allem eins: Maschinen, die sich durch Mustererkennung und Mitgefühl auszeichnen. Erstens vergleichen wir Menschen neue Eindrücke immer mit älteren und können nicht wahrnehmen, ohne zu kategorisieren. Zweitens sind Empathie und Hilfsbereitschaft Eigenschaften, die Forscher bereits bei menschlichen Babys (und jungen Schimpansen) beobachten konnten. Das unterstreicht auch dieses Paper der Harvard-University.

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Nächstenliebe ist also vielleicht ein etwas biblischer Begriff, aber inhaltlich keineswegs eine Erfindung der judeo-christlichen Welt. Der Haken daran ist nur, dass wir gar nicht so gut im Abstrahien sind, wie wir uns gerne einreden. Deshalb ist Mitgefühl etwas, das auf konkrete Menschen beschränkt bleibt—und der Grund, warum wir eben doch sterbende Kinder bei Nachbar in Not und Licht ins Dunkel sehen müssen, um endlich die Kreditkarte auszupacken.

So wie es aussieht, ist paradoxerweise ausgerechnet unser Mitgefühl Schuld daran, dass wir hin und wieder die Scheuklappen aufsetzen und die anonyme Allgemeinheit ausblenden müssen, um nicht zu verrohen. Stars bieten ein Ventil für kontrolliertes Mitgefühl—und erfüllen damit im Wesentlichen dieselbe Funktion wie Gottheiten oder kultisch verehrte Führerpersonen.

Fotomontage VICE Media

Das alles entbindet uns natürlich nicht von der Verantwortung, unseren inneren Trollen „Vorstellungskraft" und „Mitgefühl" trotzdem hin und wieder die flache Hand aufzulegen und die Technologie, die wir dank unserer träumerischen Ignoranz errungen haben, auch für aufklärerische Zwecke einzusetzen.

Es bedeutet nur, dass wir von niemandem verlangen können, nie wieder um einzelne Menschen zu trauern, die uns emotional berührt haben, obwohl wir sie vielleicht nur von parasozialen Pseudobegnungen kannten—zum Beispiel aus Synecdoche, New York, wo sie der Architektur des Lebens ein Gesicht gegeben haben, oder Magnolia, wo er am Sterbebett sitzend „It's not going to stop" singt.

Retrospektiv wirkt vor allem sein Spiel als verführerischer Sekten-Guru in The Master wie ein Kommentar auf genau dieses Star-Kult-Problem. Vermutlich hätte gerade Philip Seymour Hoffman den Hecklern rund um seinen Tod zugestimmt.

Tatsächlich haben die kritischen Gegenrufe auch etwas Positives. Sie zeigen, dass das soziale Netz wie ein homöostatisches Ökosystem funktioniert, bei dem keine Nische unbesetzt bleibt—und das deshalb zum Glück noch lange nicht zusammenbricht. Aber vielleicht ist das auch nur meine emotional verwirrte Vergleichsmaschine, die da aus mir spricht.