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Raketenangriffe, barbarische Deutsche und "Wir schaffen das" – Ein ehemaliger Flüchtling erzählt von seiner Integration

Raketen zerstörten das Haus und der Westen die eigenen Ideale. Unser Autor kam 1989 aus Beirut nach Deutschland geflohen, ist heute Arzt und fragt sich, was "Integration" überhaupt heißt.

Der Autor samt Skepsis

"Häää, was hast du denn da für ein komisches Pausenbrot?" Eine der zentralen Fragen meiner Kindheit. Wieso war meines ein Fladenbrot und warum habe ich nicht dasselbe Pausenbrot wie die anderen Kinder? Warum bin ich überhaupt hier, müsste ich nicht eigentlich woanders sein? Und wo sollte ich sonst hin? Schließlich spreche ich besser deutsch als arabisch und die Kinder dort sind auch komisch.

Inmitten der Flüchtlingskrise, als die Konservativen um die "deutsche Identität", die Wohlhabenden um ihr Geld und die Väter um ihre Töchter bangten, war es Bundeskanzlerin Angela Merkel, die vermutlich ganz zufällig in Anlehnung an ihren amerikanischen Freund Barrack den Deutschen die frohe Botschaft verkündete: Wir schaffen das! Eine Botschaft, die ich vorher noch nicht vernommen habe. Die ersten Flüchtlinge haben Deutschland nämlich nicht im Spätsommer 2015 erreicht. Flüchtlinge gab es schon viel früher und auch deswegen war für mich die Zuversicht, die ihre Aussage ausstrahlt, beängstigend und respektlos. Als meine Familie nach Deutschland kam, hat sich die Bundesregierung einen Dreck um Integration geschert. Und auch 2016 bleibt die Frage nach der sozialen Integration der Einwanderer offen, insbesondere die Frage "Wollen und können sie sich integrieren?". Können SIE es schaffen? Oder gehen wir davon aus, dass ihre Dankbarkeit über die Rettung vor der Unterdrückung oder gar dem Tod die Flüchtlinge automatisch zur Integration ermutigt?

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Schnell weg, schnell zurück

Als die ersten Raketen im Juli 1989—zwei Tage vor Kriegsende—in unserer Wohnung in Beirut einschlugen, befanden wir uns in der Küche. Ich war drei, meine Schwester sechs Jahre alt. Wie durch ein Wunder und dank des Heldenmuts meines Vaters überlebten wir. Meine Eltern waren stolze Libanesen, die der Auswanderungswelle getrotzt und sich erst wenige Monate zuvor den Lebenstraum einer Rooftop-Wohnung im schönen "Patriarchat"-Viertel von Beirut ermöglicht hatten. Doch der Bürgerkrieg holte früher oder später jeden. Die Wohnung wiederaufzubauen hätte 40.000 Dollar gekostet. Nachdem sie ihr ganzes Geld in die Wohnung gesteckt hatten, waren das 40.000 mehr, als meine Eltern zu dem Zeitpunkt hatten. So war das Angebot meiner insgesamt sieben in Deutschland lebenden Onkel und Tanten verlockend: Kommt her, hier gibt es viel Arbeit, Geld und zur Not Sozialhilfe.

Die Flucht nach Deutschland gelang durch ein Visum nach Italien, von dort aus auf dem Landweg über Frankreich. Wir suchten Asyl und fanden es. Es war eine schwere Zeit; vor allem für meinen Vater, den—aus traditionell-islamischer Sicht betrachtet—Versorger der Familie. Meine Mutter trug ein Kopftuch und disqualifizierte sich zur damaligen Zeit auch aus deutscher Sicht für die meisten Jobs. Heute ist das anders, besser, wenn auch nicht immer.

Programme zur Integration wurden uns seinerzeit nicht angeboten, die Deutschkurse waren lächerlich. Um die "unlernbare" Sprache zu lernen, ging mein Vater in die Volkshochschule und kam völlig demoralisiert zurück. "Die Leute dort wollten nie wirklich die Sprache lernen und die Lehrer sie nicht lehren. Das war ein Kasperverein", waren seine Worte. Als er sich einen Privatlehrer für 10 Mark die Stunde nahm, waren die Verwandten verdutzt. Sie nämlich lebten von Sozialhilfe und das gar nicht mal so schlecht. Mein Vater aber wollte so schnell wie möglich zurück in seine Heimat, Deutschland sollte nur als Sprungbrett für zwei bis drei Jahre dienen, um das schnelle Geld zu machen, das es einem ermöglicht, in der Heimat wieder Fuß zu fassen. Doch da machte er die Rechnung ohne den Wirt. Es dauerte ganze vier Jahre, bis er schließlich den ersten lukrativen Job an Land ziehen konnte. Seine Kinder kannten ihre "Heimat" nur aus den blumigen Erzählungen, der jüngste Sohn war sogar in Deutschland geboren und hatte noch nie libanesischen Boden betreten, trotz allem sprach die Mutter kein Wort deutsch. Warum auch? Es sollte ja nach wie vor bald zurück in die Heimat gehen.

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Die überlegene Kultur

In der Grundschule waren die kulturellen Unterschiede noch erträglich, als Junge durfte ich—anders als meine Schwester—am Sportunterricht teilnehmen. Auf dem Gymnasium schließlich begannen die Probleme. Dort war ich der einzige Ausländer in meiner Stufe, von den "Russlanddeutschen" abgesehen. Partys und Alkohol waren, ebenso wie Mädchen, tabu. Der Islam stand im Vordergrund meiner extrem emotionalen Erziehung, ich sollte und wollte meinen Vater stolz machen. Überhaupt beherrschen es arabische Eltern wie keine Zweiten ihre Kinder in ein derart emotionales Abhängigkeitsverhältnis zu bringen, dass kein Zweifel an ihrer sogenannten "arabischen Identität" und der Loyalität ihnen gegenüber herrscht. "Die Deutschen sind grob, sie sorgen sich nicht so um ihre Familie wie wir, unsere Kultur ist weit überlegen. Ihre ist dem Untergang geweiht", wird mein Vater—auch heute noch—nicht müde zu propagieren. Gute Beispiele hierfür seien die Tatsachen, dass die Kinder das Elternhaus mit spätestens 19 Jahren verlassen, die Mädchen sich so anziehen, wie sie wollen und mit jedem schlafen, mit dem sie wollen. Außerdem seien ihre Beziehungen total instabil, Trennungen sind an der Tagesordnung, so etwas gibt es bei uns nicht. Viele Jahre hat die Gehirnwäsche funktioniert und ich verspürte so etwas wie Stolz darauf, Libanese zu sein.

Die Jahre vergingen, in der Schule wurde ich immer mehr zum Außenseiter, der Lügengeschichten erzählt, um bei den coolen Storys vom Wochenende auch mithalten zu können. Dabei saß ich die meiste Zeit allein zu Hause rum und schaute einsam aus dem Fenster: Die von mir als "primitiv" angesehenen libanesischen Jungs gingen alle auf die Hauptschule und spielten entweder Fußball oder redeten über Buffallo-Schuhe, während die "barbarischen Deutschen" ihren Geist mit Bier und Joints beflügelten. Im Münsteraner Raum siedelten sich größtenteils Libanesen aus den südlichen, ländlichen Regionen mit niedrigem Bildungsstand an—auch wir kamen ursprünglich von dort. Das machte die Sache besonders kompliziert und mich zu einem absoluten Kolibri. Zwar wollte mein Vater, dass ich auf dem Gymnasium das Abitur mache, um anschließend studieren zu können, ohne aber durch den Kontakt mit den Deutschen entwurzelt zu werden. Gleichzeitig hielt er uns in einem Vorort vor Münster von den dort lebenden Libanesen fern, die uns aufgrund ihres niedrigen Bildungsstandes von den Bildungszielen hätten abbringen könnten. Ich lebte in einer riesengroßen Seifenblase, bald schon sollte sie platzen.

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Als Jugendlicher folgten die ersten Besuche im Libanon. Dort verbrachte ich Wochen damit, mich an den Geschmack von Whiskey zu gewöhnen und die absurden Geschichten meiner Freunde und Familie zu hören. Die jungen Leute verabredeten sich nachts zum Oralsex auf dem Friedhof, in meiner Familie gab es mehrere Fälle von Affären zwischen den Partnern der Geschwister, es war ein riesiges arabisches Bordell, niederträchtig. Streng religiös schien dort niemand so richtig zu sein. Die islamische Religion wurde relativ entspannt gelebt. Oft wunderten sich die Leute in der alten Heimat meiner Eltern darüber, wie streng wir uns an die alten Werte und Regeln hielten. Nicht selten sagten dort lebende Freunde zu mir, dass die im Ausland lebenden Libanesen meistens viel religiöser und traditioneller lebten als die im Libanon. War das die überlegene, fromme Gesellschaft, von der mein Vater gesprochen hatte?

Speziell das Thema Jungfräulichkeit erregte schon früh mein Gemüt. Die islamische Doppelmoral, die den Männern alles erlaubt und die Frauen abschottet, ist bekannt. Es war schwer zu akzeptieren, dass die Mädels keinen Freund (und damit verbunden natürlich keinen Sex) vor der Ehe haben durften, während die Jungs einen Freifahrtschein mit dem Argument "die spielen doch nur" hatten, solange sie niemanden mit nach Hause brachten. Ein Blick auf den Selektionsprozess klärt über das Schicksal dieser Beziehungen auf: Die Mädels können es kaum erwarten, ihre ersten sexuellen Erfahrungen zu machen, weshalb auch der erstbeste Libanese ungeachtet seines Aussehens, Bildungsstandes oder seiner Manieren gut genug für sie ist; ähnlich minimaler Anspruch gilt für die Eltern, deren vorrangiges Lebensziel es ist, ihre Töchter mit einem libanesischem Ehemann verheiratet zu sehen. Charakter? Zweitrangig—Hauptsache Libanesen. Der schönste, intelligenteste und kultivierteste Deutsche könnte Avancen machen, er wäre nicht gut genug. Das Ergebnis ist ein Desaster.

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Doch wie soll denn auch eine Frau, die in ihrem ganzen Leben keinen direkt Männerkontakt hatte, wissen, welcher der Richtige für sie ist? Andererseits ist das doch Gottes Entscheidung, er konnte doch nicht irren. Oder etwa doch? Trotz dieser Zweifel dauerte es weitere Jahre, bis ich anfing zu hinterfragen, wer hier die angeblich "Guten" und wer die "Schlechten" sind. War der deutsche Lebensstil wirklich so falsch? Wie kann unsere Kultur überlegen sein, wenn wir im Chaos und sie in Ordnung leben? Da stimmte doch etwas nicht.

Mit ihr dagegen stimmt es. Ali und seine Freundin Laura

Einbürgerung—Der Anfang vom Ende

2000 wurden wir eingebürgert. Mittlerweile konnte meine Mutter immerhin ihre Nachbarin grüßen, doch allein zum Arzt ging sie weiterhin nicht. Um ihr Deutsch zu testen, ließ die gutmütige Dame im Rathaus meine Mutter nur ein paar Passagen aus der Zeitung vorlesen. Das war der Einbürgerungstest. Meine Mutter wiederum lachte sich ins Fäustchen. Wieso denn Sprachkurse machen, wenn es auch so geht? Mein Rebellionsprozess ging nur sehr langsam und leise vonstatten. Ich schaffte das Abitur ohne Probleme und wurde meinem Vater etwas zu deutsch, weshalb er keine Möglichkeit ausließ, mich zu ermahnen und auf die Vorteile der arabischen Kultur zu verweisen. Gleichzeitig stieg mein Beliebtheitsgrad unter den deutschen Freunden und es wurde stetig schwerer zu differenzieren: Bin ich deutsch oder libanesisch? Erstmals fing ich auch an, mich offen als Deutschen zu bezeichnen.

Das Studium zog mir schließlich den letzten Zahn. Ich versuchte, mich mit aller Macht gegen das unausweichliche zu wehren: Für das Gewissen absolvierte ich immer noch mein fünf Gebete und ging dann erst saufen. Doch die Blase war schon längst geplatzt, ich hatte es nur nicht gemerkt. Als ich mit dem Studium fertig war, hatte ich mit dem Islam ungefähr noch so viel am Hut wie ein römischer Kardinal. Ich war integriert.

Meine Freunde feiern mich als Vorbild für alle Flüchtlinge, als Musterbeispiel für Integration. Wollte ich das überhaupt sein? Und kann man es ihnen verübeln? Sehen nicht auch sie ihre Ideale und Lebensweise bedroht, genau wie die Einwanderer? Das Ausbrechen aus diesem Käfig dauerte fast 27 Jahre. Nur den Allerwenigsten gelingt dies. Die "deutsche" Familie auf Seiten meines Vaters umfasst mittlerweile 20 Kinder, die in Deutschland geboren oder aufgewachsen sind. Ich bin der Einzige mit einem akademischen Abschluss, der es geschafft hat, sich zu emanzipieren, und dennoch einen Teil seiner arabische Identität gewahrt hat. Meine Eltern betrachten mich weiterhin als Moslem. Sie reden sich ein, es sei nur eine Phase, die vorüberginge, bald schon werde ich merken, dass unsere Kultur und Religion die einzig wahren für mich sind. Für mich jedoch ist "die überlegene Kultur" der Inbegriff von Korruptheit und Ignoranz. Der Spagat zwischen Integration und der Wahrung des Ursprungs war schwieriger als das Medizinstudium. Es war der bitterste Kampf in meinem Leben, denn es ist auch ein Kampf gegen zwei Menschen, die bereits durch den Krieg gebrochen wurden und nun mitansehen mussten, wie ihre Kinder sich von ihrem großen Fundament—ihrer Identität—distanzieren. Nichts anderes haben sie vom ersten Tag an mehr gefürchtet als das.

Die Jungs der Familie: Links Ali, rechts sein Bruder Mazen, in der Mitte der Cousin Fausi. Unten in der Ecke der Neffe Jad. Die drei Großen leben und arbeiten fern der eigenen Eltern in Zürich