FYI.

This story is over 5 years old.

THE IDENTITY CRISIS ISSUE

Scientology ohne Scientology

Auch bei Scientology gibt es Rebellen. Diese Scientologen der „Freie Zone“ lehnen die Scientology-Kirche strikt ab und berufen sich auf den „wahren Glauben“ von L. Ron Hubbard.

Ingo Kreml glaubt an Scientology, aber nicht an die Institution Scientology. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte L. Ron Hubbard im Pillendelirium, umgeben von einem Harem junger Mädchen auf einer Yacht in internationalen Gewässern. Zuvor hatte der Science-Fiction-Autor Scientology, eine der umstrittensten Religionen der Welt begründet. Der Glaube dieser Religion beruht darauf, dass vor Milliarden von Jahren ein Alien namens Xenu einen Haufen anderer Aliens in einen Vulkan geworfen hat, woraufhin sich deren Seelen der Menschheit bemächtigt haben und uns nun dazu bringen, uns wie Idioten aufzuführen. Indem man Scientology aber eine Menge Geld schenkt, kann man sich durch das Absolvieren verschiedener Kurse von diesen Aliens befreien und schließlich einen Zustand namens clear erlangen. Doch wie bei jedem anderen Glauben, gibt es auch bei Scientology ein paar Rebellen. Diese Scientologen der Splittergruppe „Freie Zone“ lehnen das moderne Geldeintreiben und die dogmatische Struktur der Scientology-Kirche strikt ab und berufen sich auf den „wahren Glauben“, wie er von L. Ron Hubbard erdacht wurde. Da wir das beinahe noch verrückter finden, als Geld an eine in Deutschland nicht anerkannte, an Außerirdischen-Vulkan-Mord glaubende Kirche zu schenken, haben wir uns mit Ingo Krehl getroffen, einem freien Scientologen, um mit ihm über Xenu und die Welt zu sprechen. VICE: Kannst du die Leute beschreiben, die der Scientology-Kirche angehören, der du mittlerweile den Rücken gekehrt hast?
Ingo Krehl: Die meisten, die was mit Scientology anfangen können, sind Leute, die eine technisch-naturwissenschaftliche Denkweise haben. Man wird bei der Kirche keine Leute finden, die dem Mystischen zugewandt sind oder einfach irgendetwas glauben, nur um in einer Gemeinschaft zu sein. Viele haben eine Denkblockade und meinen, dass man den menschlichen Verstand nicht mit technischen Mitteln erfassen kann, aber wenn man diese Blockade nicht hat, dann kann man mit Scientology gut was anfangen. Ist Scientology also für dich eher Wissenschaft, Philosophie oder Religion?
Für mich ist der wissenschaftliche Aspekt am wichtigsten. Es geht darum, dass in Scientology eine klare Struktur aufgebaut wird, die für mich nachvollziehbar ist. Man kann es auf eine Formel bringen und dann sehen, funktioniert das oder funktioniert das nicht. Du bist ja schon seit ziemlich langer Zeit in Kontakt mit Scientology. Wann hast du das erste Mal von Scientology gehört?
Ich war bei der Bundeswehr. Das war ’75, ’76. Jemand, den ich kannte, hatte mit denen Kontakt und ich kam abends mit ihm ins Gespräch. Heute gibt es ja nur noch die Scientology-Kirche, damals gab es noch die Missionen. Kleine Unterabteilungen, die damals auch noch eigenständiger waren.  Wieso fühltest du dich davon angesprochen?
Durch meine Kindheit und die etwas problematische Beziehung meiner Eltern habe ich mich frühzeitig mit psychologischen Aspekten beschäftigt. Meine Mutter hatte eine extrem seltene Blutkrankheit und hat darum schon für sich selbst herausgefunden, dass es an einer Krankheit zwei verschiedene Aspekte gibt, den körperlichen und den psychosomatischen. Scientology sieht das ähnlich. Mein Kamerad hat uns dann ein Buch von Scientology ausgeliehen. Danach war sie auch die treibende Kraft dahinter, eine der Missionen zu besuchen.  Was passierte in diesen Missionen?
Wir haben im ersten Kurs schon Einblicke bekommen, wie das mit Erlebnissen und deren Auswirkungen funktioniert. Man merkt, wenn die Nase anfängt zu kratzen und ein Schnupfen im Anmarsch ist. Es müssen nicht immer diese dramatischen Geschehnisse wie Tod oder schwere Unfälle sein, sondern es können auch ganz kleine Ursachen sein, wie jemand, der einen genervt hat. Der Schnupfen verschwindet zwar nicht, die Nase läuft noch immer, aber zumindest kennt man den Grund dafür, hat diesen aufgearbeitet und es belastet einen nicht mehr.
L. Ron Hubbard hat als Autor 100 Sachbücher und über 220 Romane verfasst. Definitiv zu viel für ein einziges Menschenleben Jede Art von Erlebnis hat also Auswirkungen auf deinen jetzigen Zustand?
Ich habe in der Organisation gelernt, dass es auch Ursachen geben kann, die in der Kindheit oder in früheren Leben liegen. Laut Scientology soll man aber nicht selbst darüber nachdenken. Für mich machte es aber keinen Unterschied, ob das entsprechende Erlebnis vor einer Stunde oder einem Tag passiert ist, oder ob es schon 10, 20, 30 oder 100 Jahre zurückliegt. Als ich mich mithilfe der erlernten Scientology-Techniken bei einem Self-Auditing mit einem Problem auseinandersetzte und mich innerlich fragte, was die Ursache dafür sein könnte, habe ich festgestellt: Ich bin einmal eine hübsche Frau gewesen—die Tochter eines Burgherren. Der wollte mich unbedingt mit irgendeinem Idioten verheiraten und ich hatte einen inneren Protest dagegen, dass ich mir das nicht vorschreiben lassen wollte. Ihr könnt mich nicht zwingen, etwas zu tun, was ich nicht will. OK … Wie verlief dein früheres Leben weiter?
Ich habe dann Selbstmord begangen und mich in den Burggraben gestürzt. Wow. Wie wurde diese Geschichte von der Scientology-Gemeinde aufgenommen?
Man soll dort seine Erfolgsgeschichten teilen. Ich habe diese Story erzählt, und nach meiner Sitzung mit dem E-Meter, einem Instrument zur Messung des elektrischen Widerstandes des Körpers, bekam ich die Rückmeldung: „Danke, deine Nadel schwebt. Du hast das Problem gefunden und gelöst.“ Doch es gibt in der Organisation einen Ethik-Officer, der dafür zuständig ist, dass die Technologie, beziehungsweise die Lehre, die sie einem beibringen, nicht einfach verändert und selbst angewandt wird. Ich wurde zu ihm geschickt und er versuchte mir zu erklären, dass das so nicht geht. Ich sagte, die Lehre funktioniert doch und es hat für mich funktioniert. Die konnten das aber nicht akzeptieren, dass es auch so ging.  Also darf man nicht an sich selbst arbeiten ohne Überwachung durch die Organisation?
In Dianetik von L. Ron Hubbard ruft er auf: „Lest das. Macht es.“ Er hat das Ganze so angelegt, dass jeder für sich und seine Umwelt Verantwortung übernehmen kann und dabei nicht an eine Organisation, einen Arzt oder einen Psychiater gebunden ist. Das war sein revolutionärer Ansatz. Dass Scientology daraus etwas anderes gemacht hat … Ich kann mich als Scientologen bezeichnen, aber von der Organisation, der Scientology-Kirche, von denen möchte ich mich ganz klar distanzieren.  Du kannst also Hubbards Lehre auch ohne die Instruktionen von Scientology praktizieren?  
Ich vermute, dass ich den Zustand clear von Natur aus schon erreicht hatte. Das würde auch erklären, warum mein Self-Auditing-Versuch funktioniert hat.
Laut Scientology hat Hubbard in seinem Leben 65 Millionen Worte über Dianetik verfasst, 3.000 Vorträge auf Tonband festgehalten und 100 Filme produziert. Scientology meint aber, dass man nicht naturgegeben natural clear sein kann, sondern dafür ihre Hilfe benötigt, richtig?
In den 80ern wurde jeder von Scientology sofort zu clear erklärt. Damit haben sie sich ökonomisch natürlich ins eigene Fleisch geschnitten, denn so können sie den Leuten natürlich nicht mehr die ganzen Stufen auf der Brücke [die Kurse um den Zustand clear zu erreichen; Anm. d. Red.] verkaufen. Du hast also dadurch ihren Finanzierungsplan unterminiert.
Wenn sie einfach nur eine Dienstleistung anbieten würden, in der Form „Du hast ein Problem? Dann bekommst du von uns entsprechende Informationen und eine Auditing-Sitzung und dann ist alles wieder gut“, dann würden sie nicht mehr als Kirche firmieren können. Demzufolge haben sie dieses System mit den Stufen der Brücke, die man durchlaufen muss, ob man es nun braucht oder nicht. Sind sie im Endeffekt einfach nur raffinierte Geschäftsleute?
Die Scientology-Organisation versucht die Leute zu dominieren. Wenn man mit dem Vorgehen konform geht, ist alles schön. Wenn man versucht, aus diesem Raster auszubrechen und anfängt, eigenständig zu denken, dann wird man zum Feind der Organisation. Wurdest du selbst wie ein Feind behandelt oder von der Organisation verfolgt?
Irgendwann habe ich gesagt, nehmt mich aus allen Verteilern raus, ich möchte nicht mehr kontaktiert werden. Das hat auch funktioniert. Das, was in der Presse oft rumgeht, mit Telefonterror und so, hat einen anderen Hintergrund. Wenn sich jemand in einen Kurs eingeschrieben hat oder Auditing macht, ist es Aufgabe des Kursleiters oder des Auditing-Verantwortlichen, sich zu kümmern, wenn es Probleme gibt. Demzufolge haken die natürlich ewig nach und nerven damit. Man muss einfach nur klar sagen, was man will. Das hat dann auch funktioniert. Aber von der Lehre L. Ron Hubbards hast du dich nicht gelöst?
Leute, die in der Kirche waren, sagen einerseits, Scientology sei gut, das System funktioniere, andererseits sagen sie: „Die verarschen die Leute, die haben mich ausgenommen.“ Das ist der Zwiespalt. Ich habe mich dann noch weiter privat mit dem Material beschäftigt und mit anderen Leuten, die damals auch schon Probleme mit der Organisation hatten, locker Kontakt gehalten. Das hatte aber noch nicht den Charakter der „Freien Zone“.
Obwohl der Herstellungspreis eines E-Meters nur knapp 100 Euro beträgt, verlangte Scientology auf einer Preisliste von 2003 6.541,57 Euro für das umstrittene Gerät. Und was ist nun diese „Freie Zone“?
Die „Freie Zone“ beschäftigt sich mit Inhalten von Scientology. Es gibt welche, die haben nur die Materialien gelesen, die waren nie in der Organisation drin. Die meisten sind allerdings ehemalige Mitarbeiter, ehemalige Studenten, Personen, die eine Dienstleistung in Anspruch genommen haben. Man könnte grob sagen, ehemalige Scientologen. Es gibt Weiterentwicklungen im Sinne des Erfinders. Dann sind da andere, die die Technologie nach Gutdünken abgeändert haben. Man kann nicht sagen, in der „Freien Zone“ sind die besseren oder die guten Scientologen, sondern die, die nicht in der Kirche sind und sich davon distanzieren. Wie groß ist eure Gruppe?
Es gibt eine Mailingliste von freien Scientologen im deutschsprachigen Raum mit etwa 140 Leuten. Das ist der nichtorganisierte Teil der „Freien Zone“. Und dann gibt es auch noch organisierte Teile. Es gibt vermutlich auch noch Zusammenschlüsse von freien Auditoren irgendwo. Du bist jetzt so eine Art Ansprechpartner für die „Freie Zone“ hier in Berlin. Was für Leute melden sich bei dir?
Es sind ehemalige Scientologen. Einer hat vor Kurzem angerufen und gesagt: „Ich hatte eigentlich vorher gute Fähigkeiten. Ich konnte meinen Körper verlassen und von außen sehen, was hinter einer Mauer ist, und durch irgendwelche Auditing-Aktionen haben sie mir das kaputtgemacht. Ich suche nur jemanden, der die Fehler, die sie in der Kirche gemacht haben, wieder ausbügelt.“ Das war eine Anfrage, für die ich dann die Mailingliste genutzt habe, um jemanden zu finden, der Auditings anbietet.  Spielt die Scientology-Mythologie rund um Xenu und die gefangenen außerirdischen Seelen, die unsere Körper heimsuchen, eine Rolle für dich?
Diese interplanetarischen Aspekte mögen stimmen, ausschließen kann ich’s nicht. Deiner Meinung nach ist diese Geschichte also mehr als eine Metapher?
Ich würde das nicht als Metapher verstehen. Das sind Informationen, die in Auditing-Sitzungen herausgefunden worden sind, wo Leute irgendwelche abgefahrenen, abstrusen Sachen erzählt haben. Beim Auditing geht es um Strukturen des Geistes. Auditing ist ein Visualisierungsinstrument, um Problemstrukturen greifbar zu machen. Auditing-Berichte sollte man also nicht wörtlich nehmen. Wenn jetzt auffällig viele und unterschiedliche Leute von ähnlichen Ereignissen berichten und das verbal ähnlich ausdrücken, dann muss man sich schon die Frage stellen, warum bei vielen Leuten das strukturell Gleiche herauskommt und die gleichen Begriffe fallen. Diese Informationen sind einfach bei zu vielen Auditing-Berichten rausgekommen. Es kann wohl was dran sein … Na ja, aber Alienentführungen klingen auch immer recht ähnlich, was sie jetzt trotzdem nicht unbedingt glaubwürdiger macht …
Das, was ich von mir erzählt hab, von dem Burgfräulein, das nehme ich auch nicht ganz wörtlich, aber ich stehe da nach wie vor dazu. Ich hatte wirklich einen atemberaubend hübschen Körper, wirklich. Wow!

Fotos von Grey Hutton