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Popkultur

Von Arschlöchern und Antihelden und warum „Sherlock“ mit beidem nichts zu tun hat

Antihelden haben in modernen Fernsehserien eine gute Tradition. Aber auch, wenn es auf den ersten Blick anders aussieht, hat Sherlock damit gar nichts zu tun.

Foto via Aint it cool

Wieder einmal ist uns innerhalb von nur 12 Tagen eine ganze Staffel Sherlock durch die Finger und über die Sehrinde gerieselt und hat, trotz hyperrealem HD, jede Menge traumhafte Sandkörner zwischen unseren Synapsen hinterlassen, an denen sich unsere Fan-Gehirne bis zum Start der bereits bestätigten Staffel 4 glatt schmirgeln werden.

Bei nur drei spielfilmlangen Fernsehfolgen im altgedienten Columbo-Format geht sowas natürlich schneller, als irgendwem lieb ist. 12 Tage sind ja alleine schon die Zeit, die wir brauchen, um uns im Netz ausgiebig über Benedict Cumberbatchs Belstaff-Mantel auszutauschen und ein für alle Mal mit den Sherlock'schen Mitteln der Deduktion herbei zu diskutieren, wie zur Hölle er seinen Tod jetzt eigentlich wirklich vorgetäuscht hat.

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Aber auch, wenn unsere Generation aus dem Fernsehen serielle Lebens-Begleitung gewohnt ist—und uns die erste Folge der letzten Staffel Sherlock, The Empty Hearse, eindrucksvoll unser geekiges, vertrolltes Spiegelbild vorgehalten und gezeigt hat, dass wir uns mit solchen Dingen wie Mänteln und Todes-Theorien in Wirklichkeit viel zu lange aufhalten—sind wir auch die restlichen 353 Tage im Jahr nicht von Sherlock wegzubekommen.

Immerhin schreibe ich ja auch gerade diesen Artikel, um die Leere, die Sherlock hinterlässt, mit den Erinnerungen, die Sherlock ebenfalls hinterlassen hat, zu füllen. Und das tue ich nicht nur, weil Sherlock die Serie mit dem besten Production Design aller Zeiten ist und mich die Inszenierung mit ihren traumartige Überblendungs-Collagen zwischen einzelnen Einstellungen erstens an Béla Balázs' Konzept des absoluten Films und zweitens an Ang Lees superguten Hulk von 2003 (der außer mir wahrscheinlich nur Eric Bana gefallen hat) erinnet. Nein, das tue ich vor allem, weil mich das stark geschriebene Finale nachträglich mit der gesamten dritten Staffel versöhnt hat und in mir sogar die leicht esoterische Überzeugung herausgebildet hat, dass alles irgendwie genau so kommen musste, wie es kam, und selbst die wirklich abgeschmackten Gefühlsduseleien aus den Folgen 1 und 2 im großen Plan ihren Platz haben.

Sicher, Staffel 1 hatte zwar einen sensationellen Moriarty (der dramaturgisch perfekt aufgebaut wurde) und den generellen Neuigkeitswert einer Serie, in der neue Medien so innovativ und organisch wie noch nie mit komplexen Detektiv-Geschichten (die noch dazu sehr dominante literarische und filmische Vorlagen haben) verwoben wurden. Und ja, Staffel 2 hatte solide Fälle, spannende zwischenmenschliche Dynamiken und einen Cliffhanger, der zu einer fast schon Lost-ähnlichen Internet-Hysterie führte; aber so belanglos und sentimental Staffel 3 auch begonnen hat, so wichtig war sie am Ende doch für das Gesamtkonzept von Sherlock—und den Abschluss seiner Verwandlung vom Antihelden zum Helden.

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Bevor ich euch sage, worauf ich hinaus will, muss ich noch kurz erwähnen, dass ich mir völlig bewusst bin, wie viele Leute mir hier widersprechen würden. Zum Beispiel Sherlock selbst. Der sagt nämlich am Ende von The Last Vow—und das kann man ohne zu spoilern erwähnen—ganz deutlich: „Oh, do your research. I'm not a hero, I'm a high-functioning sociopath." Aber genau wie Sherlock selbst dürfen auch wir ihn nicht immer ganz für bare Münze nehmen. Ironischerweise ist nämlich die Aktion, die er im selben Moment setzt—und wir sind immer noch spoilerfrei—das einzige, das verhindert, dass er für immer der soziopathische Antiheld bleibt, der nur seine eigenen Interessen anstelle des Allgemeinwohls im Auge hat.

Dass die Aussagen der Figuren Teil des Blendwerks und nicht Darlegungen der Fakten sind, hat bei Sherlock gute Tradition. Schließlich steht ihm mit Magnussen diesmal auch ein Gegner gegenüber, der dieselbe Täuschungstaktik verfolgt und behauptet: „I'm not a villain, I'm a businessman." In Wahrheit ist er natürlich beides; die Finger-ins-Auge-schnippende, Anzug-tragende, sich-von-systemischen-Schwachstellen-ernährende Plage, die aus dem bösesten aller Motive heraus—nämlich dem rein nihilistischen „Because I can"—nicht nur Beziehungen, sondern ganze Länder zerstört.

Diesem Über-Übeltäter gegenüber bleibt da nicht viel Platz für trotziges Antiheldentum. Bevor ihr euch jetzt aber sofort in den Kommentarbereich vertrollt, schauen wir uns noch kurz an, wie Antihelden im heutigen Fernsehen gestrickt sind.

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Hier gibt es grob gesagt zwei Typen: den Antihelden mit Identifikationspotenzial—wie Tony Soprano, Donny Draper und Walter White—und den Antihelden mit Hang zum soziopathischen Genie—wie Dr. House, Hank Moody und Dexter Morgan. Beiden ist gewissermaßen alles erlaubt, weil beide die perfekten Projektionsflächen bieten: Der erste darf alles, weil wir in ihm sehen, wie wir selber sind (und das macht ihn sympathisch), der zweite darf alles, weil wir in ihm sehen, wie wir mit ein bisschen mehr Potenzial sein könnten (und das macht uns, naja, nicht gerade sympathisch, aber mächtig).

Beide Typen von Antihelden funktionieren im Grunde gleich: Sie bieten uns ein relativ bequemes Ventil für beschissenes Verhalten und haben deshalb beim Zuschauen und Mitleben eine befreiende, fast schon kathartische Wirkung. Das war auch schon vor der Arschlöcherschwemme im heutigen Fernsehen so—egal ob in den Romanen von Dostojewski oder den Film noirs des 40er-Jahre-Hollywoods.

Unabhängig vom Medium und dem Jahrzehnt ihres Auftretens sind Antihelden aber nicht einfach nur Abenteuertypen mit ausgeprägtem Charakter und groben Manieren. Sie sind Verlierer. Sie sind diejenigen, die sich aus dem großen Spiel der Gesellschaft rausnehmen, ihre Rolle im Abseits akzeptieren und den Untergang zu lieben lernen.

Kurz: Sie sind wie die Typen, die du um 5 Uhr morgens am Würstelstand triffst, nur dass sie vielleicht die interessanteren Rückschläge und komplexeren Psychosen hinter sich haben (obwohl ich zum Beispiel einmal einen linksradikalen niederländischen Neonazi kennenlernte, der früher Fremdenlegionär war und mir zur Verabschiedung eine Kopfnuss verpasste, aber das ist eine andere Geschichte).

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Sherlock hat mit diesem Typus aber absolut nichts zu tun. Sherlock ist nicht der verlorene Individualist, der am Ende eines erbarmungslosen Zermürbungs-Prozesses als Fortschrittsverlierer von der Gesellschaftsmaschinerie ausgespuckt wird. Sherlock erschleicht sich Freiheiten genauso wie Gefängnisaufenthalte, nutzt seinen Verstand, um sich Nüchternheit und dann doch wieder Drogenabstürze zu erkaufen—und wie wir inzwischen wissen, schafft Sherlock es sogar, sein beachtliches Talent für noch viel beachtlichere Frauen einzusetzen (die vielleicht eine „grasping, opportunistic, publicity-hungry, tabloid whore" sein mögen, aber dafür auch genauso aussehen).

Er ist nicht zwangsweise sympathisch, er ist immer noch Außenseiter und eigentlich müssten wir ihn dafür hassen, dass er in uns den Wunsch weckt, selbst ein kleines Watson-Hündchen zu sein, das von seinem Herrchen herumkommandiert wird. Aber im homöostatischen Gleichgewicht der Kräfte wird Sherlock in Staffel 3 gezwungenermaßen zum anarchischen Helden, weil einfach keine andere Nische für ihn zu besetzen ist.

Die Antihelden von Sherlock sind—auch, wenn das jetzt ein bisschen nach Binsenweisheit klingt—in Wahrheit seine Gegenspieler, die weniger für uns, als für die Figur von Sherlock Holmes selbst eine reinigende Rolle spielen, wobei Moriarty die Identifikationsfigur und Magnussen das asoziales Genie darstellt. Am Ende überwindet er sie aber beide; und wird damit auch emotional erwachsen.

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Auf dem Weg dorthin zeichnet der Erfinder der Serie, Steven Moffat, die Figur von Sherlock als dunkles Pendant zu Doctor Who (wo Moffat übrigens auch als Chef-Autor fungiert)—eine weniger verspielte, ernsthaftere Version desselben Archetyps vom ewigen Abenteurer, der über allen Konventionen steht und für den die Welt nicht aus Menschen, sondern (fast) nur aus Trittbrettern und Stolpersteinen besteht.

Moffat selbst sagte im New Yorker-Interview anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des britischen Timelord-Epos, dass die beiden Figuren auch für ihn längst ineinander übergehen würden. Sowohl der Doctor als auch Sherlock wandeln wie Besucher zwischen den Welten, kämpfen gegen ernste Bedrohungen und sind ständig fasziniert bis überfordert von der Fülle an Bräuchen und menschlichen Eigenheiten, die sie umgeben.

Trotzdem gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen dem verspielten Welten-Hopping des Doctors und dem ernsten Kampf, den Sherlock ständig mit sich selbst ausfechtet. Denn auch, wenn Sherlock ein Meister der Verkleidung ist, kann er sich im Gegensatz zum Doctor sein wahres Gesicht nicht aussuchen; und während der Doctor nur eine drollige, aber freiwillige Affinität zu uns Menschen hat, steht Sherlock trotz all seinen Bemühungen nie ganz über den Dingen, sondern arbeitet sich an ihnen (und sich selbst) ab. Kurz: Der Doctor sucht sich deine Präferenzen aus, Sherlock kämpft gegen seine Tendenzen an—weil sein Umfeld von ihm verlangt, dass er seinen inneren Hang zum Antihelden überwindet. Natürlich ist er deshalb nicht auf Anhieb nett und noch nicht mal ein Vorbild.

Aber seit The Dark Knight (in dem Batman ja quasi die proletarische Americana-Version von Sherlock mimt) wissen wir auch, dass ein Held nicht unbedingt das ist, was wir selber sein wollen—sondern das, was wir brauchen, damit wir die Freiheit haben, weiterhin wir selbst zu sein. Mit so jemandem muss man sich nicht identifizieren können. So jemand muss noch nicht mal dieselben Werte teilen, wie man selbst. So jemand muss einfach nur nicht weniger als das Beste für alle sein. Und das ist Sherlock—einerseits als Figur, andererseits als Serie—mit ziemlicher Sicherheit.

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