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Das Skilager war die schlimmste Woche meiner Kindheit

Sieben Tage auf dem Idiotenhügel. Sieben Tage den Glauben verlieren, jemals ein Mädchen zu küssen.
Foto von Paxson Woelber

„Komm schon! Du kannst das! Es ist ganz einfach: nach vorne beugen, den Hintern raus und los!", ruft Sandra, die hübsche Skilehrerin aufmunternd. Sie ist schon erwachsen, aber nicht so erwachsen, wie Eltern oder normale Lehrer erwachsen sind, sondern so, wie eben all die schönen Wesen aus dem Fernsehen und den Bravo-Heftchen.

Ich, beziehungsweise mein zwölfjähriges Ich, will ihr beweisen, dass ich es kann, dass ich kein Kind mehr bin. Ich nehme meinen ganzen Mut, angereichert mit Trotz und Verzweiflung zusammen und lasse die Skier gleiten. Für einen Moment, glaube ich wirklich, den Dreh raus zu haben. Ich triumphiere innerlich. Doch nach wenigen Sekunden komme ich wieder schlingernd in der Realität an. Ein Ski gleitet über den anderen, ich verliere die Kontrolle und lande kopfvoran im Schnee. Und meine ganze Würde—so viel wie ein kleiner, dürrer Junge an der Pforte seiner Pubertät davon eben haben kann—in der Tonne.

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„Immer weniger Schulklassen fahren in Skilager", las ich kürzlich auf Zeit online. Ich freute mich darüber. Ich freute mich für all jene unerfahrenen Kinder ohne Wintersporthintergrund, wie ich eins war. Und ich freute mich darüber, dass zumindest ein paar von ihnen nicht weisgemacht werden würde, dass Skifahren etwas sei, das man einfach können muss. Schwimmen kann dein Leben retten und Velofahren spart verdammt viel Zeit, doch was bringt es dir, sauber und geschmeidig über eine Buckelpiste rutschen zu können?

Den Nutzen des Skifahrens, den hinterfragt in der ansonsten so praktischen, funktionalen Schweiz niemand. „Alles fährt Ski", sang Vico Torriani 1963. Und egal wie laut der Bergtourismus auch sein Darben verkündet: Als Idee, als Losung gelten Torrianis Worte auch heute noch. Früher hiessen die Helden Bernhard Russi und Vreni Schneider, heute Beat Feuz, Iouri Podladtchikov und Lara Gut (die letztes Jahr zum vierten Mal als Sportlerin des Jahres ausgezeichnet wurde). Und will ein Produkt, von der Limonade bis zur Info-Hotline, seine Swissness markieren, nimmt dich die Werbung schwungvoll mit auf die Piste. Die Schweiz war, ist und bleibt ein Wintersportland.

Foto von Gellinger | Pixabay | CC0 1.0

Zweimal musste ich während meiner Schulzeit in ein Skilager. Ich war zuvor kein einziges Mal auf Skiern oder einem Snowboard gestanden. Mein Vater war von Beruf Bürogummi ohne dazugehörige Ausbildung, sein Lohn dementsprechend bescheiden. Also stellten meine Eltern meiner Schwester und mir Jahr für Jahre die gleiche Frage: Winter in den Bergen oder Sommer am Strand. Kälte, nasse Socken und Anstrengung oder Sonne, Meer und „dolce vita".

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Also lernte ich, auf Italienisch bis zehn zu zählen, dass „prego" „bitte" heisst und dass man zu einem Martini bianco Oliven und Nüsschen serviert. Wie man aber auf Skiern steht und mit einem Bügellift fährt, diese Fähigkeiten existierten in meinem Kopf erst gar nicht. Und dementsprechend überfordert war ich, als mir plötzlich verkündet wurde, dass ich genau diese Dinge eine Woche lang werde können müssen.

Ich glaube, mich zu erinnern, dass mir der Gedanke ans Skilager schon Monate vorher Sorgen bereitete. Sorgen, mit denen man sich nachts im Bett wälzt. Sorgen, die ich heute mit Alkohol lahmlegen würde. Von Anfang an war mir bewusst: Alle können Skifahren—nur ich nicht. Und Bülent und Aferdita, die aber nicht wirklich zählten, weil er eben Türke und sie Albanerin war, also beide irgendwie kulturell entschuldigt.

Heute können all jene Schüler, die aus gesundheitlichen, finanziellen oder religiösen Gründen—oder auch einfach fehlender Motivation—nicht in die Berge mitgehen können oder wollen, ein Alternativprogramm besuchen. Wenigstens in den urbaneren Gebieten der Schweiz. Wenn ich mich richtig erinnere, gab es diese Option bei uns nicht. Und wenn doch, dann kam sie einfach nicht in Frage. Auch Primarschüler können schliesslich sozialen Selbstmord begehen und der wäre mit dem Fernbleiben garantiert gewesen. Meine Eltern sahen das ähnlich, drückten sich aber netter aus: „Da musst du jetzt halt einfach durch. Wenn du nicht gehst, bereust du es nachher sicher und vielleicht gefällt dir das Skifahren ja besser als du denkst."

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Skifahren gefiel mir nicht. Was ich schon im Vornherein erwartet hatte, bestätigte sich nach dem ersten Tag im Skigebiet. Ich hasste die Kälte und die Nässe und das Beschlagen meiner billigen Ski-Brille—die Hälfte meiner Ausrüstung war gemietet, also nicht gerade der „heisse Scheiss", sondern eher low, low budget, weil sich meine Eltern durchaus bewusst waren, dass ich das Zeug kaum ein zweites Mal brauchen würde.

Und ich hasste alle anderen, weil sie besser fahren konnten als ich. Ich beneidete meinen Kumpel Reto, weil er abends von Steilhängen und Tiefschnee und engen Kurven schwärmte. Weil er davon sprach, wie toll es doch sei, mit „sicher 180 Kilometer pro Stunde" ins Tal zu brettern. Und vor allem, weil Selina, das Mädchen, für das mein zwölfjähriges Herz schlug, ihm begeistert zuzuhören schien. Und weil sie dann an der Disco, die für Freitag geplant war, sicher mit ihm anstatt mit mir tanzen würde.

Die Ski-Lehrerin, die hübsche junge Frau, ermutigte mich unablässig: „Das kommt schon, keine Sorge. Aller Anfang ist schwer." Ich glaubte ihr am ersten Tag am Idiotenhügel. Und vielleicht auch noch am zweiten Tag. Am dritten aber glaubte ich ihr nicht mehr. Ich schwor mir, meine zukünftigen Kinder mit ihrer Mutter, die im Gegensatz zu mir hoffentlich Skifahren können wird, jeden Winter in die Berge zu schicken. Ausser wir fahren jeden Sommer nach Italien, lernen dort auf zehn zu zählen, dass „prego" „bitte" heisst und dass man einen Martini bianco mit Oliven und Nüsschen serviert—dann müssten sie nie, nie, nie in ein Skilager

Daniel steckt den Kopf nicht in den Schnee, sondern tweetet: @kissi_dk

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Titelbild: Paxson Woelber | Filckr | CC BY 2.0