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Argentinischen Fans fällt nichts besseres ein, als Schweinsteigers Mutter zu beleidigen

Auch wenn ihr Team im Finale gegen Deutschland verloren hat, feierten Londons Argentinier eine fröhliche Party.

Ein WM-Finale sollte nicht so verloren werden. Die letzte Minute in einem Spiel, das nur alle vier Jahre stattfindet, brach an: Lionel Messi bekam die Chance, mit einem Freistoß 27 Meter vom Tor entfernt den Ausgleich zu erzielen und ein Elfmeterschießen zu erzwingen. Er schoss übers Tor, aber im Moo Cantina—einer Bar in Pimlico, London—fingen hunderte Argentinien-Fans an zu klatschen.

Nur ein paar Minuten zuvor hatten sie zusehen müssen, wie ihr Team 1:0 in Rückstand geriet. Immer noch geschockt und enttäuscht fingen sie an, „Vamos, vamos Argentina!“ (Auf geht’s, Argentinien!) zu singen—merkwürdigerweise mit Hilfe einer vorher aufgenommenen Version des Liedes, die kurzzeitig statt des Kommentators des Spiels über die Sound-Anlage der normalerweise ziemlich leeren Bar zu hören war.

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Nach dem Spiel strömten die Fans auf die Straße. Es wurde getrommelt, gesungen und getanzt. Auch ein paar Tränen wurden vergossen. Etwa zwölf Polizisten saßen einsatzbereit in einem Mannschaftswagen. Ich fragte kurz bei ihnen nach, ob sie etwa erwarten würden, dass die argentinischen Fans Ärger machen. Sie schienen nicht sonderlich besorgt zu sein, dass irgend etwas passieren würde—aber auch nicht sonderlich glücklich darüber, das WM-Finale zu verpassen, weil sie die Nacht in einem stickigen Bus verbringen mussten.

Dies war also die etwas gezähmte und nach London verlegte Leidenschaft des argentinischen Fußballs. Vor Jahren stand ich mal auf den oberen Tribünen im Stadion von San Lorenzo, einem Verein aus Flores, Buenos Aires. Dort gibt es auch die Barra Brava, quasi die Ultra-Bewegung Argentiniens. Kurz vor dem Spiel kamen deren Mitglieder ins Stadion geströmt und glichen dabei einer Horde Orks, mit Kapuzen auf dem Kopf, voller billigem Speed und Koks, und bewaffnet mit riesigen Bannern und Raketen. Sie warfen Seile in die höheren Ränge, die wir dann festhielten und an denen sie hochkletterten. So beobachteten sie dann die ganze Zeit mehr die Zuschauer als das Spiel und passten auf, dass wir die Mannschaft auch ordentlich unterstützten.

Am Sonntag brachte der Fußball wirklich alle Argentinier zusammen. Und auch wenn sie dabei nicht ganz die verrückte und von Drogen geprägte Intensität der Barra Brava von San Lorenzo erreichten, so waren sie sich doch in einem klar einig: Bastian Schweinsteiger ist ein Hurensohn.

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Vor der Bar drängten sich die Fans vor eine große Leinwand, innen quetschten sie sich vor eine Vielzahl von kleinen Bildschirmen. Alkohol und Schweiß flossen in Strömen. Aus voller Kehle wurden auch die argentinischen Fangesänge gebrüllt: Diese richten sich gegen Brasilien, fragen, wie es sich anfühlt, im eigenen Land (wörtliche Übersetzung: „Haus deines Vaters“) dominiert zu werden, erinnern daran, dass Maradona sie bei der WM 1990 alle an die Wand gespielt hat (verschweigen aber die angebliche Betäubung von Brasiliens Außenverteidiger Branco) und enden damit, dass der Mann mit der Hand Gottes viel besser als Pele ist.

In der Bar wurde aber auch noch ein anderer Klassiker angestimmt—ein Lied, das beschreibt, wie überwältigend es ist, Argentinier zu sein. Von diesem Gefühl wurden tatsächlich auch mehrere Nicht-Argentinier übermannt: ein Spanier, der das „lateinamerikanische Team“ unterstützt, zwei besoffene Australier, die nach Spielende in Tränen ausbrachen, eine Polin mit ihrem uruguayischen Ehemann und ein ganzer Haufen Briten. Dann gab es auch noch diesen Fan aus Neapel, der mir davon erzählte, dass damals 1990, als Argentinien bei der WM gegen Italien gespielt hat, die halbe Stadt für Argentinien war, weil Maradona beim SSC Neapel spielte und deshalb so unglaublich beliebt war.

Messi wird für die Argentinier nie ein solcher Held sein wie Maradona, aber lieben tun sie ihn trotzdem. Viele Fans schmissen dem Schiedsrichter und den deutschen Verteidigern die wüstesten Beschimpfungen an den Kopf, weil sie dem „kleinen Floh“ Messi besonders viel Aufmerksamkeit schenkten. Als Schweinsteiger Gelb sah, wurde viel gejubelt und danach noch mal lautstark bekräftigt, dass seine Mutter eine Hure sei.

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Während sich Messi seinen Platz im Herzen der argentinischen Fans erst erobern musste, hatte Mascherano diesen schon immer. „Der kleine Boss“ ist kein abgehobener Typ und würde sein Leben für das Team geben. Jeder seiner Zweikämpfe und jede Großaufnahme von ihm verursachten großen Jubel. Warum auch nicht? Immerhin zog er sich einen Anus-Riss zu, als er im Halbfinale gegen Holland einen Schuss blockte und so ein Tor verhinderte.

Ein Mädchen trug ein „Die Falkland-Inseln gehören zu Argentinien“-Shirt, aber abgesehen davon wurde das hier sonst so oft diskutierte Thema kaum aufgebracht. Als Gonzalo Higuain nach 20 Minuten bei einem durch Toni Kroos verursachten Alleingang daneben schoss, zerschmetterte ein Typ eine volle Bierdose. Als Higuain den Ball ein wenig später in die Maschen drosch, verfiel die Bar in einen Freudentaumel und jeder bekam eine Bierdusche verpasst. Ich und die Leute um mich herum brauchten ein paar Minuten, ehe uns klar wurde, dass der Spielstand noch gleich war und das Tor wegen einer Abseitsstellung nicht gegeben wurde.

Nachdem das Spiel verloren war, blieben die meisten Leute noch da, sangen und tanzten weiter und feierten die positive Seite einer gemeinsamen nationalen Identität. In der U-Bahn fingen dann zwei Typen in Argentinien-Shirts an, miteinander rumzumachen und stimmten wieder Fangesänge an.

Die WM ist jetzt vorbei und unser normales Leben hält wieder Einzug. Natürlich ist das alles nur ein betäubendes Entertainment-Paket, das uns von einer der abscheulichsten Organisationen der Welt aufgetischt wird, und ja, es passieren auch wichtigere Dinge auf unserem Planeten. Aber als ich die Fans des Teams, das gerade verloren hatte, zusammen tanzen, singen und lachen sah, war es schwer, sich diese Dinge ins Gedächtnis zu rufen. Zuhause angekommen dachte ich mir: „Und was jetzt?“