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Ich bin mit Dyskalkulie und dem Asperger-Syndrom von der Schule geflogen

Philipp ist ein kluger 16-Jähriger, der wie alle klugen 16-Jährigen übergefordert von der Welt, unglücklich mit seiner Situation und unentschlossen in Bezug auf seine Zukunft ist.
Titelbild: Melissa | flickr | cc by 2.0

Philipp Moser (Name von der Redaktion geändert) ist 16 und wurde mit dem Asperger-Syndrom und Dyskalkulie diagnostiziert. Wegen seiner Mathematik-Lernschwäche musste er von einer Höheren Wirtschaftsschule in eine Neue Mittelschule mit eigenem Förderunterricht und offenen Lernprojekten wechseln. Als er sich bei uns für ein Volontariat beworben hat, wurde uns gesagt, dass er sich gut in „geistige Tätigkeiten vertiefen" kann, aber auch gut arbeiten würde, „wenn er einfache wiederkehrende Aufgaben zu erledigen hat (z. B. sortieren, kopieren, kehren)". Was aus diesem Profil nicht hervorgeht, ist, dass Philipp ein kluger 16-Jähriger ist, der wie alle klugen 16-Jährigen übergefordert von der Welt, unglücklich mit seiner Situation und unentschlossen in Bezug auf seine Zukunft ist. Was ihn vielleicht von anderen unterscheidet, ist, dass er lieber mehr lernen würde und selbst sagt, dass er weniger Chancen bekommt. Das hier ist ein Text von ihm.

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Nachdem ich mit der Mittelschule abgeschlossen habe, wechselte ich voller Hoffnung auf eine höhere Schule für Wirtschaft und Tourismus. Dort herrschten ideale Lernbedingungen, auch wenn ich in Mathe und Rechnungswesen überhaupt nicht mitgekommen bin und unsere Klasse nicht sehr ausgeglichen war.

Wir waren genau 4 Jungs, der Rest waren Mädchen. Und aus Gründen, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, empfahl der Klassenvorstand meiner Mutter, dass ich die Schule wechseln solle. Durch den aufgebauten Stress wegen meiner schlimmen Matheleistungen wurde ich eine Woche lang krank, worauf meine Mama mich von der Schule abgemeldet und in der Prinzgasse angemeldet hat.

Ironischerweise meinte mein Klassenvorstand in der alten Schule noch, ich bräuchte ein anderes Umfeld, wo mehr auf mich eingegangen wird, am besten eine Privatschule, bevor sie mich quasi rausgehaut haben und ich in die Prinzgasse wechseln musste, weil Privatschulen einfach viel zu teuer sind (jedenfalls bis mein Papa vor kurzem anfing, bei der Sache mitzureden).

Im Vergleich zur vorigen Schule war hier jegliches Niveau wie weggespült. Ich erinnere mich an ein Mal, wo unser Lehrer falsche Infos in den Unterricht eingebaut hat und es nicht mal jemandem aufgefallen ist. Wir hatten auch mexikanische Austauschschüler zu Besuch, mit denen sich aber kaum jemand unterhalten konnte, weil kaum jemand gut genug Englisch beherrschte. Es war alles sehr absurd. Ich hatte das Gefühl, dass man in der Schule schon versuchte, uns etwas zu bieten, aber irgendwie machten sich die Lehrer nicht viele Gedanken, was genau—Hauptsache, ihr Gewissen war ruhiggestellt.

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Positiv war jedoch das Kochen. Jeden Dienstag durften wir nach Rezept kochen. Die Lehrerin war geduldig, die Schüler waren ausgelassen. Das Kochen hat Spaß gemacht und es hat jedes Mal gut geschmeckt. Was will man mehr? Das Kochen war immer ein kleines Highlight—bis zu dem Tag, an dem ich erfuhr, dass ich tatsächlich Dyskalkulie habe und ich nicht nur „faul war" oder „mich blöd angestellt habe". Da hat Kochen auch nicht mehr geholfen. Dyskalkulie ist wie Dyslexie, nur mit Zahlen. Für mich war Mathematik immer schon eine Qual und jetzt hatte ich auch die Erklärung dazu.

Ich finde es schade, dass wir in meiner Klasse nicht die Chance bekommen, mehr interessante Dinge zu lernen.

Eigentlich wollte ich Programmierer werden, aber als alle meine Pläne mit dieser Diagnose wie weggewischt waren, wusste ich überhaupt nicht mehr, was ich tun sollte und versank in einem ewigen Kreislauf aus schlechten Gedanken und schlechten Gewohnheiten.

Die Rollos waren Tag und Nacht unten, ich aß tagelang nichts, verlor meine Lust am Leben und saß einfach nur tagelang hinter Bildschirmen. Eines Tages schleppte mich meine Mama auf die Schule und seither verging alles wie im Flug. Nun sitze ich hier bei VICE, wo ich ein Volontariat mache, und schreibe diese Reflexion. Im Grunde ist es ja so, dass ich unterm Strich unterfordert bin und gerne mehr Fächer wie Biologie, Geschichte, Physik und Chemie hätte. Ich finde es schade, dass wir in meiner Klasse nicht die Chance bekommen, mehr interessante Dinge zu lernen.

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Foto: Image Editor | flickr | cc by 2.0

An der Lautstärke in der Klasse merkt man auch, dass die anderen Kinder entweder unterfordert sind oder auch einfach nicht genügend Bewegung haben—aber egal, was der Grund ist, sie sind jedenfalls immer in Aufruhr und nie leise. Jeder braucht ständig Aufmerksamkeit und alle reden zu allen möglichen Themen durcheinander, die nicht zum Unterrichtsthema passen. Ich weiß nicht, wie man sich da konzentrieren soll oder wie irgendwer je bessere Leistungen bringen kann, wenn so eine unkonzentrierte Stimmung herrscht.

In dem ganzen Durcheinander habe ich aber auch 3 Freunde: Martin, Tommy und Justin. Martin hat Unmengen an Empathie und könnte in jedem Sozialberuf arbeiten, der auf dieser Welt existiert. Ihn interessieren alle Arten von Spielen und das sorgt für abwechslungsreiche Pausenbeschäftigungen. Tommy habe ich schon im Hort kennengelernt. Er empfindet jetzt schon jede Menge Nostalgie für die damalige, sorgenfreie Zeit. Er hat ein enormes Interesse am asiatischen Kontinent und empfindet jede Menge (teilweise ungerechtfertigten) Patriotismus für China, was es für mich immer unterhaltsam macht, ihm sein verschwommenes Realitätsbild von China zu verdeutlichen. Justin ist, sagen wir mal, interessant. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber es macht einfach Spaß mit ihm. Auch wenn ich nicht vollständig verstehe, wieso ich mit ihm befreundet bin, ist er einfach faszinierend. Er hat interessante Moralvorstellungen und lebt in einer verdrehten Welt. Er ist leider auch ein Heimkind.

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Mir fällt es manchmal schwer, mich zu konzentrieren. Die Schule hat das nicht besser gemacht.

Ich hatte auch total vergessen, dass ich in den Sommerferien nach der neunten Schulstufe im Sommercamp derjenigen Schule war, und dort hatte ich eine Beziehung mit Katja, die aber rasch vorbei war, als sie in die zweite Stufe wechselte und wir uns auseinander lebten. Aber ich schweife ab. Wie gesagt, mir fällt es manchmal schwer, mich zu konzentrieren. Die Schule hat das nicht besser gemacht.

Unsere Klasse ist ein bunter Salat aus allen möglichen Leuten—und das ist manchmal auch wirklich unerträglich. Eigentlich will ich einfach nur in Ruhe lernen. Rückblickend war die Mittelschule die beste Schule, die mir je passiert ist. Damals hat mich niemand wegen meiner Schwächen ausgeschlossen oder so behandelt, als ob ich schwieriger wäre als andere Schüler. Im Gegenteil, unser Mathelehrer hat mir sogar geholfen und bei Schularbeiten hatte ich es nicht schwerer als die anderen, weil man auf mich eingegangen ist.

Die Höhere Schule für Wirtschaft und Tourismus war meine Traumschule, bis sie mich quasi rausgeworfen haben. In der NSMI, wo ich aktuell bin, hatte ich wegen dem Lärm keine Lust mehr, mich mit anderen Sachen zu beschäftigen. Das hat mir aber dann trotzdem gefehlt. Ich denke gerne nach, auch wenn ich die Dinge manchmal überdenke. Hier bei VICE kann man die ganze Zeit denken und schreiben und sich mit Leuten über interessante Themen unterhalten. Das ist wunderbar für mich. So müsste es in der Schule sein, aber so ist es nicht.

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Ich werde jetzt wahrscheinlich eine Lehre beginnen. Obwohl ich noch nicht genau weiß, welche und wo.

Vor kurzem habe ich mich in der Höheren Lehranstalt für Wirtschaftliche Berufe, kurz HLW, beworben. Als ich mit dort war, habe ich sonst nur 11- und 12-Jährige gesehen, weshalb ich beschlossen habe, die Schule doch nicht zu besuchen. Es war einfach niemand aus meiner Altersgruppe vor Ort und ich fürchte, dass ich wieder genauso viele Probleme mit Mathematik haben könnte.

Ich werde jetzt wahrscheinlich eine Lehre beginnen. Obwohl ich noch nicht genau weiß, welche und wo. Wenn ich darüber nachdenke, frage ich mich, ob die Entscheidung vorschnell ist. Aber ich glaube, ich werde es mit einer Lehre als Medienfachmann probieren und am Ende etwas mit Werbung machen. Ich habe auch überlegt, in einer Bibliothek zu arbeiten, weil ich dann zumindest mit Büchern und Inhalten zu tun haben könnte.

Wenn ich jetzt so darüber nachdenke und meine Reflexion niederschreibe, denke ich mir auch, dass man viele Dinge positiv sehen könnte. Ich habe mehrere Schulen mit den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten besucht und total unterschiedliche Situationen und Perspektiven verschiedener Menschen kennengelernt. Ich finde es schade, die finanzielle Situation für Schulen so unfair ist und meine jetzige Schule nicht einmal einen Anspruch auf Gelder hat, obwohl die Situation ziemlich schlecht ist. Während meine alte Schule anscheinend so wichtig ist, weil die besten der besten dort lernen dürfen, haben wir nicht einmal einen Turnsaal.

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