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The Weird Science Issue

Sowjetspitzel und Mondgänse für eine bessere Zukunft

Die wirklich wahren Highlights der 'Ars Electronica'

Zwei von den drei Dingen, für die Linz weltbekannt im deutschen Sprachraum ist, haben etwas mit Tyrannen zu tun. Erstens war es die Lieblingsstadt von Adolf Hitler, der daraus ein kulturelles Mekka machen wollte (auch wenn er wahrscheinlich nicht „Mekka“ dazu gesagt hätte), und zweitens ist Bushido hier für zwei Wochen in Untersuchungshaft gesessen und hat seine Erlebnisse zu einem Song über Nutella-Gläser verarbeitet. Beides ist heute hochgradig irrelevant und dient allein dem Zweck, zu zeigen, dass Linz wirklich „der Arsch der Welt“ und die „Ghetto-Stadt Österreichs“ ist, wie Der Spiegel 2005 schrieb. Was das dritte Aushängeschild der Stadt angeht, scheiden sich die Geister: Die Frage nach voestalpine oder Ars Electronica ist in etwa dieselbe, wie die, ob man lieber Ulrich Seidl-Filme oder doch so etwas wie Contact High schaut. Als geborener Linzer habe ich natürlich bei beiden Institutionen schon mal gearbeitet, und obwohl die voestalpine auch ihre guten Seiten hat—die Schichtarbeiterbusse sind die einzigen in ganz Österreich, wo man beim Fahrer Dosenbier kaufen kann—trifft die Ars Electronica eindeutig mehr den heutigen Geist der Stadt.

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Die Ars Electronica ist das weltweit wahrscheinlich bedeutendste Festival für digitale Kunst und sorgt seit 1979 jährlich dafür, dass die digitale Intelligenzija in die analoge Provinz pilgert, um mit Künstlern wie Peter Weibel und Autoren wie Neal Stephenson immer neue Zukunftsbilder für die vernetzte Welt—und für die Vernetzung der Welt—zu entwickeln. Einer der Mitbegründer ist Wissenschaftler und Scifi-Autor Herbert W. Franke, was schon einiges über die Verschränkung der einzelnen Disziplinen aussagt. Man begegnet sich bei der Ars Electronica eben „auf Augenhöhe“, wie der heutige Festival-Leiter Gerfried Stocker sagt. Er selbst ist seit 1996 Chef des Hauses und als solcher ein moderner Aufklärer, der immer wieder vehement für Selbstbestimmung und Subversion sowie gegen autoritär gesteuerte Informations- und entmündigende Netzpolitik eintritt. In diesem Sinne will die Ars Electronica seit jeher mehr als einfach nur Computerkunst zeigen. Stattdessen will sie die Schnittstelle zwischen Kunst und Computern sein und damit der Ort, an dem das Leben nun mal passiert.

Neben dem Prix Ars Electronica findet jährlich auch das längst zur Institution gewordene Festival gleichen Namens statt, das dieses Jahr den Titel „THE BIG PICTURE. Weltbilder für die Zukunft“ trug. Ähnlich wie schon letztes Jahr beschäftigten sich die Künstler und Wissenschaftler hier mit Statements zur und Wegen aus der Krise. Es gab solarbetriebene 3D-Drucker für die Wüste und Maschinen zum Aufspüren gentechnisch veränderter Organismen im Boden. Natürlich war auch ein bisschen schöne Digitalkunst zum Anschauen und Anhören dabei: unter anderem eine mythische Nebelwand, die beim Durchschreiten wie Glas klirrte (Between | You | And | Me), und eine Twitter-Installation, die aus Hashtags in Echtzeit abstrakte Geräuschkulissen zauberte (#tweetscapes). Unsere wahren Highlights sind aber folgende Projekte:

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MEMOPOL-2

Goldene Nica Interactive Art

Wer schon immer mal vor einem sowjetischen Supercomputer stehen und dabei zusehen wollte, wie sich alle Informationen der Welt über analoge Schaltkreise und Lämpchen vor einem ausbreiten, bis man am Ende von jedem Menschen ganz genau weiß, wer wo zuletzt welche Unternehmens-Fanpage auf Facebook geliket hat, der wird Memopol-2 mit Sicherheit lieben. Der begehbare Apparat scannt persönliche Ausweise ein und entwickelt anschließend auf grafisch und dramaturgisch eindrucksvolle Art ganze Persönlichkeitsprofile vor unseren Augen: Mit blinkenden Lichtern und auf leuchtenden Konsolen, die an Geräte aus Star Trek erinnern, braut sich spannungsbogenbauend-langsam ein beängstigend genaues Informationsbild eures Internet-Ichs zusammen—gewissermaßen euer Datenabdruck im Netz, nur mit mehr Spionage-Flair. Die Idee ist zwar inhaltlich nichts Neues und birgt die Gefahr, jeden mit genügend Medienkompetenz, um ein Smartphone auf lautlos zu stellen, augenblicklich abzuschrecken. Aber weil ja gerade diese Medienkompetenzler von den ewig gleichen Inhalten besonders schnell gelangweilt seid, macht es schon Sinn, die ganze Debatte um Datenschutz und den gläsernen Menschen zumindest in richtig schöne und verdammt mächtige Bilder zu verpacken (immerhin kommt bei der Installation ein leuchtendes Skelett vor und das Gerät misst anhand eures Netz-Abdrucks euren eigenen Fame-Faktor!).

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Die eigentliche Leistung ist aber eine ganz andere: Denn hier übernimmt man als Betrachter die Rolle des Überwachers und muss nach dem fertig abgespulten Data-Striptease schon zweimal greifen, ob einem nicht spontan eine russische Geheimdienstmütze gewachsen ist. Der Memopol-2 ist im Grunde also eine Perspektivenmaschine. Schade nur, dass das Gerät ausschließlich mit Reisepässen und Personalausweisen funktioniert. Aber dann wiederum: Dass ich solche Dokumente nicht andauernd bei mir tragen muss, sagt vielleicht auch etwas über unsere Freiheit aus.

MOON GOOSE ANALOGUE

Auszeichnung Hybrid Art

Von allen Projekten beim Prix Ars Electronica ist Moon Goose Analogue das wohl verträumteste und faszinierendste. Nirgendwo sonst in der Ausstellung lässt sich so gut die Zeit versitzen, wie hier. Und das, obwohl das Ganze im Wesentlichen nur aus einem Video besteht, bei dem man sieht, wie Gänse durch eine Mondlandschaft watscheln. Darüber prangen die gerahmten Porträtfotos von elf Astronauten-Gänsen (also eigentlich Goosonauten), die genau wie jene der Apollo-Pioniere die Aura von Verheißung und Entdeckergeist verströmen. Aber die Installation ist eigentlich nur der Restmüll einer Aktion, in der die Künstlerin Agnes Meyer-Brandis Wissenschaft und Poesie eindrucksvoll miteinander verbunden hat:

Moon Goose Analogue ist nämlich ein Multimedia-Remix der (sehr, sehr) klassischen Science-Fiction-Erzählung The Man in the Moon. Die Vorlage stammt aus dem Jahr 1603, was auch erklärt, warum der Autor, Bischof Francis Godwin, noch glaubte, man könne den Mond mit einem Holzgefährt erreichen, das von Gänsen gezogen wird. Die Erzählung ist also die Barockversion von Up, nur mit Tieren statt Luftballons. Heute wissen wir, dass das ziemlich sicher nicht funktioniert. Aber genau hier kommt die Poesie zur Wissenschaft und verwandelt das Märchen in eine Versuchsanordnung, bei der elf Gänse in einem Mond-„Analog“ (ein dem Mond nachgebildetes Setting, wie es auch Astronauten für ihr Training benutzen) auf den Einsatz auf dem Erdtrabanten vorbereitet werden. Agnes Meyer-Brandis hat die Tiere dafür extra auf sich als Gänsemutter geprägt, ihnen Astronautennamen gegeben und mit ihnen mühsame Expeditionen durch gebirgige Landschaften unternommen. Damit am Ende die Fantasie ein bisschen über den trockenen Troll der Astrophysik triumphiert.

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OCCUPY GEORGE

Anerkennung Interactive Art

Währungen sind ja gewissermaßen die Brands der Staaten und Geldscheine ihre in Kambodscha produzierten, völlig überteuerten Designergewänder.

Genau wie bei allen anderen Marken lieben wir es auch hier, das Zeug am Körper zu tragen, obwohl wir damit nur Gratiswerbung für jemand anders machen. Und genau wie sonst auch immer, muss man es zwar unbedingt haben, darf es aber auf keinen Fall brauchen. Wer mit seinem eigenen Geld zumindest etwas aussagen oder dem goldenen Kalb ein neues Brandmahl in den Arsch stanzen will, der sollte sich ein Beispiel an Occupy George nehmen. Gedanklicher Vater des Ganzen ist natürlich die Occupy-Bewegung und gemeinter George ist freilich jener Hanfbauer mit Holzgebiss, der auf der Ein-Dollar-Note prangt.

Für die New-Media-Künstler Ivan Cash und Andy Dao hört Besetzung nämlich nicht bei Häusern und Parkanlagen auf, sondern muss bis ins geistige Mark gehen. Deshalb entwarfen sie Infografiken zum wirtschaftlichen Ungleichgewicht in den USA und stempelten diese auf Dollarscheine. Beim Prix Ars Electronica konnte man dann seine eigenen Banknoten dem Re-Branding zuführen, indem man ihnen den roten Stempel „Future Property of THE 1 %“ aufdrückte. Das ist ein bisschen wie Occupy Extra Light, vielleicht aber mit der direkteren Botschaft und definitiv mit weniger Hippiegeruch (Geld selbst stinkt ja bekanntlich nicht).

THE FREE UNIVERSAL CONSTRUCTION KIT

Auszeichnung Hybrid Art

Mit dem Free Universal Construction Kit, aus dessen Initialen sich völlig zufällig das Akronym F.U.C.K. ergibt, verfrachten Golan Levin und Shawn Sims den Open-Source-Gedanken in die echte Welt und setzen damit dort an, wo gedankliche Offenheit generell am meisten Förderung verdient hat—im Reich des Kinderspielzeugs. F.U.C.K. ist ein Sortiment an selbstentwickelten Adapterstücken, mit denen die totale Kombinierbarkeit von zehn Spielzeug-Franchisen—von Lego über Playmobil bis Fischertechnik—ermöglicht wird. Das ist gleichzeitig ein Schlag ins Gesicht der Spielzeugkonzerne und eine Streicheleinheit für jeden, der sein Weltbild nicht an den künstlich eingerichteten Grenzen der auf Nutzungsrechte fixierten Herstellerindustrie ausrichten möchte.

Dabei ist Golan Levin kein Neuling in Sachen Ars Electronica: Bereits 2003 war er mit seinem Projekt Messa di Voce eingeladen, bei dem man mit seiner Stimme sichtbare Pingpongbälle auf einer Projektionswand erzeugen konnte—und zwar Jahre, bevor „Augmented Reality“ zum neuen QR-Code des Technologiemarktes wurde. Auch diesmal geht es ihm wieder darum, gute Ideen mit einfacher Nutzung unter die Leute zu bringen. Niederschwellige Kunst mit Alltagsanspruch und gleichzeitig hoher Moral. Die Anleitungen für F.U.C.K. können gratis heruntergeladen und mithilfe von Open-Source-3D-Druckern selbst hergestellt werden. Das Ganze ist also kein Produkt, sondern ein Gedankenexperiment—aber eins mit Wirkung. Denn am meisten lehrt einen F.U.C.K. in dem Punkt, dass das Konzept des Projekts sich in der Realität des (Spielzeug-)Marktes praktisch nirgends wiederfindet.