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Einen Tag lang Fluchthelfer

Wir haben Flüchtlinge auf ihrem Weg durch Österreich begleitet und sehr viel Dankbarkeit, aber auch Ungewissheit erlebt.

Alle Fotos: VICE Media.

Als auf der A4 71 tote Flüchtlinge in einem LKW gefunden wurden, hat Österreich als Reaktion darauf die Grenzkontrollen zu Ungarn verschärft. Eine Maßnahme, die nichts daran ändert, dass Menschen weiterhin versuchen, ihre Reise durch Europa fortzusetzen. Die Menschen kommen hauptsächlich nachts aus Ungarn, von wo sie alle so schnell wie möglich Richtung Westen wollen—sie reisen mit Schleppern oder zu Fuß und hoffen, wenigstens auf der österreichischen Seite der Grenze erwischt zu werden. Wer es schafft, Ungarn hinter sich zu lassen, aber in Österreich aufgegriffen wird, kommt seit dieser Woche in die Nova Rock-Halle in Nickelsdorf.

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Zur Nova Rock-Halle fährt man durch Felder und vorbei an Windrädern—keine Häuser, keine Menschen. Aus der Ferne kann man die Halle schon erkennen und die letzte Strecke, die wir auf der Straße entlangfahren, denke ich darüber nach, wer die Menschen unter diesem halbrunden, weißen Ding sind. Für uns ist es ein ziemlich normaler Tag, sofern man irgendetwas von alldem, das seit Monaten und insbesondere seit Montag passiert, auch nur annähernd normal nennen kann.

Wir kommen bei der Halle an und diskutieren kurz mit den Zuständigen, ob wir filmen dürfen. Wir dürfen. Die Beamten vor Ort machen Späße und sind freundlich, die Stimmung in der Halle scheint den Umständen entsprechend gut. In einem Eck steht das Rote Kreuz und verteilt Spenden. Es ist wie ein kleiner, provisorischer Shop, die Flüchtlinge kommen zu den Tischen und fragen die freiwilligen Helfer nach den Dingen, die sie brauchen. Essen, Trinken, Decken, Schuhe.

Jeder, mit dem wir sprechen, ist glücklich, wenigstens nicht mehr in Ungarn zu sein. Ich kann mich nicht erinnern, wie oft ich an diesem Tag „Hungary is the worst place" gehört habe. Und die Menschen können die Freundlichkeit der österreichischen Polizei nicht fassen. Keine Schikanen, keine Schläge, kein Geschrei.

Ein Flüchtling erzählt, wie seine Gruppe aufgegriffen wurde. Die österreichische Polizei habe das Schlepperauto zur Seite gewunken und den Fahrer nach seinem Ausweis gefragt. Dann hätten die Beamten die Insassen nach ihren Ausweisen gefragt. Sie hätten gesagt, dass sie keine haben, worauf die Polizisten „Syria?" gefragt hätten. Nicken.

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Der Fahrer wird verhaftet, zu den Insassen sagen die Polizisten: „We are here for you. You are safe." Sie bringen sie in die Polizeistation und dann in die Nova Rock-Halle. In der Halle werden keine Fingerabdrücke von ihnen genommen, die Menschen werden hier nur kurz untergebracht. Jeder kann schlafen und essen, ein paar Tage später werden die Personen mit Bussen in eines der Erstaufnahmezentren gebracht.

Dort werden dann Fingerabdrücke genommen und die Flüchtlinge können einen förmlichen Asylantrag stellen. Wenn sie das nicht wollen, dann muss Österreich entsprechend der Dublin-Verordnung die Flüchtlinge in das Land abschieben, in dem sie die EU betreten haben. Oder zumindest in das Land, in dem sie schon einmal registriert wurden. Aber zurück will natürlich niemand mehr. Die Ziele der Menschen sind ganz unterschiedlich, die meisten Menschen hoffen auf Deutschland. Aber man kann den Weg nur so weit gehen, wie man es schafft. Irgendwann ist er zu Ende. Wo man schlussendlich bleiben kann oder muss, entscheiden Schlepper, Behörden und sehr viel Glück.

Auf der Fahrt zurück nach Wien treffen wir neun Flüchtlinge, die nicht in Österreich bleiben wollen. Die Gruppe besteht aus zwei Brüdern Mitte 20, einer Familie mit zwei kleinen Kindern und der Großmutter und zwei Jungs, die sie am Weg kennengelernt haben. Sie sind verzweifelt, diskutieren und überlegen, wie sie am besten ihre Reise fortsetzen.

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Wir möchten helfen, wissen aber nicht genau, wie. Wir haben zwar ein Auto, aber da passen nicht alle rein. Die Brüder sagen immer wieder, wir sollen uns keine Sorgen machen, sie kommen schon weiter, wir sollen uns ja keine Umstände machen. Sie erzählen auch, dass ein ansässiger Bauer ihnen auch schon seine Hilfe angeboten hat, sie aber dann nicht wussten, wie sie mit dem einen Auto weiterkommen würden. Er hat ihnen für alle Fälle seine Nummer gegeben. Geld will er keines, er möchte einfach nur helfen. Wir überlegen, den fremden Mann anzurufen und um Hilfe zu bitten, entscheiden uns dann aber dagegen.

Man kann auf viele Arten helfen: Am Wochenende soll ein über Facebook organisierter Konvoi Flüchtlinge nach Österreich bringen

Schließlich teilen wir uns auf: Mein Kollege Lucas fährt mit den Frauen und Kindern mit dem Auto nach Wien, ich fahre mit den Männern mit dem Zug. Wenn uns jemand zu lange ansieht oder ein Schaffner kommt, bekommen sie Angst. „Do you think he will call the police?", „Is he a policeman?". Der Schaffner kontrolliert nicht einmal unsere Tickets, ein junger Mann im Zug hilft uns, das Gleis zu finden, ohne dass wir ihn fragen müssen.

Im Zug sprechen wir über ihr altes Leben und die Zukunft. Mahmoud* hat in Aleppo studiert. Er und sein Bruder sprechen fließend Englisch. Er wollte noch das Studium abschließen, bevor er flieht, damit er nicht mit leeren Händen nach Europa kommt. Als er fertig war, ist er mit seinem Bruder geflohen. Von Syrien in die Türkei, mit dem Boot um 2.000 Euro pro Person nach Kos.

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Nach 12 Stunden lässt sie der Schlepper auf einer Insel raus. Aber sie sind nicht in Kos sondern auf einer einsamen Insel. Irgendwann werden sie von der Küstenwache gerettet. Es geht weiter über Serbien, Mazedonien und Ungarn, mal schlafen sie auf der Straße, mal in einer Unterkunft. „The Children are heroes", sagt Mahmoud. Knapp drei Wochen hat ihre Reise bis hierher gedauert.

Flüchtlinge, die am Montag in Wien angekommen sind. Foto von Christopher Glanzl.

Am Hauptbahnhof werden wir von Freiwilligen begrüßt, die uns Wasser und Essen geben. Dann Geld für ein Ticket zum Westbahnhof. Einer der Männer, der Familienvater, ist die ganze Fahrt über ruhig. Mehrere Male habe ich ihm mein Handy gegeben, damit er mit seiner Frau sprechen kann, die mit Lucas im Auto sitzt. Er ist still und besorgt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, auf so einer Reise von der Familie getrennt zu werden. Natürlich fühle ich mich sicher, obwohl auch ich ständig Angst habe, erwischt zu werden, aber ich kann die Angst, die diese Menschen haben müssen, nicht im geringsten nachvollziehen.

Am Westbahnhof gehe ich erst mit Mahmouds Bruder zu den Sanitätern, die hier seit Montag in der provisorischen Schlafstelle für ankommende Flüchtlinge Menschen verpflegen. Er hat Grippe. Ein Freiwilliger der Caritas zeigt uns, wo die Sanitäter sind, verabschiedet sich und wünscht viel Glück. Einer der Sanitäter spricht Arabisch und fragt, was los ist. Amir* spricht fließend Englisch, aber er ist trotzdem glücklich, dass hier jemand Arabisch mit ihm spricht und ihn fragt, ob es ihm gut geht. Währenddessen möchten andere seine und unsere Geschichte hören. Alle hier sind interessiert an den Menschen, die kommen und an den Menschen, die auf irgendeine Weise Teil von alldem sind.

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The trip was bad, but this part was good. The Austrian people are good.

Danach kaufen wir Tickets in das Land, in das sie schlussendlich reisen möchten. Es ist nicht Deutschland, wo Dublin für Syrer de facto außer Kraft gesetzt wurde—deshalb ist es besser, das Land hier nicht zu nennen. Mahmoud hat sich über alle Länder in Europa informiert, das, in das sie nun fahren möchten, fand er für seinen Bruder und ihn am besten. Sie möchten dort weiter studieren. Nie wieder wollen sie nach Syrien. Syrien könne nie wieder ihr Zuhause sein, sagt Mahmoud. Hier sind Menschen getötet worden, die sie geliebt haben, alles ist zerstört. „Nothing is left in Syria. We are homeless."

„Not for long" versuche ich zu sagen, um ihn aufzumuntern. Er wagt es kaum, sich auszumalen, einmal europäischer Staatsbürger zu sein. Aber nichts wünscht sich die Gruppe mehr.

Die Mitarbeiter der ÖBB sind hilfsbereit. Wir stehen eine Unendlichkeit lang am Schalter, weil sie die billigste Möglichkeit durchrechnen. Ich bin mit zwei der Männer hier. Die Beamten wissen genau, was los ist. „Hat zumindest einer der Reisenden einen Pass?" Wenn keiner der Mitreisenden einen Pass hat, sind die Tickets nicht gültig. Ich bekomme Herzklopfen und denke mir, die Reise ist vorbei, sage trotzdem ja und wir haben Glück: Einer der Jungs, die die Brüder auf der Reise kennengelernt haben, hat einen Pass.

Während wir hier auf die Tickets warten, wird mir sie Absurdität der Situation erst bewusst. Ich stehe hier und habe eine Karte in der Geldtasche, die mich als Österreicherin ausweist. Ich kann ein Ticket nach überall kaufen und niemanden wird es interessieren. Neben mir stehen zwei Menschen, die diese Karte nicht haben und seit drei Wochen haben sie Angst, jemand könnte sie deswegen aufhalten oder einsperren. Als wir gehen, gibt einer der beiden Männer am Schalter den beiden Männern, die mit mir unterwegs sind, noch neun Schokoladentafeln und lächelt.

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Wir machen uns auf den Weg zu dem Bahnhof, an dem der Zug losfährt. Wir sind seit einigen Stunden mit den Leuten unterwegs, aber ich habe mittlerweile das Gefühl, sie alle seit Jahren zu kennen. Sie machen Witze, versuchen deutsche Worte auszusprechen und uns arabische beizubringen. Kurz bevor der Zug kommt, fange ich an, mir Sorgen über ihre Weiterreise zu machen. Offenbar sieht man mir das an. „You should rest. Are you OK?" fragt mich die Gruppe und weil mich eine Gruppe Syrer, die wochen-, monate- und jahrelang keine Ruhe mehr hatte, auf einmal fragt, ob es mir gut geht, fange ich an zu weinen.

Natürlich geht es mir auf der einen Seite gut. Ich habe in den vergangenen Wochen im Vergleich zu diesen Menschen nichts erlebt, nichts Ereignisreiches, nichts Schlimmes. Aber wie kann es sein, dass Syrer, die bei uns Asyl bekommen, trotzdem illegal nach Österreich reisen müssen? Wie kann es sein, dass jemand Bomben in Syrien überlebt und dann auf der Flucht stirbt, in einen Zug in Ungarn gesperrt oder von Rechten bedroht wird? Wie kann es sein, dass diese Menschen, die so viel durchlebt haben, mich fragen, ob es mir gut geht? Natürlich geht es mir gut. Natürlich geht es uns allen hier so unglaublich gut.

We never valued safety this much. After all this, we know what it really means to be safe.

Wir wissen nicht, wie es ist, wenn Bomben unsere Heimatstadt zerstören, wir mussten Schleppern keine Tausenden von Euro zahlen, damit sie uns ohne Schwimmwesten in ein überfülltes Boot sperren, auf dem wir fürchten mussten, dass alle untergehen und ertrinken. Die Großmutter der Familie, mit der ich den ganzen Tag noch nicht gesprochen habe, weil wir uns mit Worten nicht verständigen können, schnappt mich und drückt mich fest an ihre Brust. Sie gibt mir Küsse über das ganze Gesicht und sagt immer und immer wieder „Thank you".

Sie weiß genau, was heute passiert ist. Sie weiß, dass sehr viele Österreicher ihnen heute geholfen haben. Dass der Bauer im Burgenland angeboten hat, sie nach Wien zu bringen. Sie hat die Schilder am Westbahnhof gesehen, auf denen auf Arabisch „Willkommen" stand, sie hat die Schokoladentafeln gesehen und die Menschen, die sie wissend aber aufmunternd angelächelt haben. „The trip was bad, but this part was good. The Austrian people are good," sagt Mahmoud beim Verabschieden.

Ja, in der letzten Woche hat sich etwas verändert. Ich schäme mich nicht für die Menschen, die ihren Hass im Internet verbreiten, sondern bin stolz auf all die unzähligen, die helfen. Es ist eine Stimmung, die motiviert, etwas zu tun, weil so viele nicht mehr zusehen möchten. Weil Menschen jetzt fliehen und jetzt Hilfe brauchen. Dutzende Menschen haben den neun Syrern an diesem Tag geholfen. Tausende haben währenddessen anderen Flüchtlingen in Österreich geholfen.

Der Zug kommt und alle rennen zur Tür. Sie steigen ein und winken, bis die Türen geschlossen sind. „You can take the good out of all of this," sagt Mahmoud an diesem Tag mehrere Male. „We never valued safety this much. After all this, we know what it really means to be safe."

Hanna auf Twitter: @HHumorlos