Trophäen
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The Fiction Issue 2015

Trophäen

Ein Vorabdruck von Isabelle Feimers Roman, der im Oktober erscheint.

Aus der Fiction Issue 2015: Vorabdruck aus ihrem neuen Roman Trophäen, der im Oktober erscheint.

1

Im Erwachen ein leiser Schrei,
es ist ihr eigener, den sie der Dunkelheit schickt, dem fremden Zimmer, das sie
umgibt und dessen Konturen erst nach und nach erkennbar sind, ein Regal, ein
Tisch, ein Hocker, kein Fenster auszumachen, keine Gegenstände, schmuckloses
Holz, und das Bett, auf dem sie liegt, ist hart und ohne Überzug,
sie weiß nicht, ob es Tag ist oder Nacht und wie lange sie geschlafen hat, ahnt,
wo sie ist und wie sie hierhergekommen,
Ahnung, die Erwartung weckt,
Stille in ihr, seit Wochen nicht gespürt, ist ihr vertraut und erinnert sie an ein
Früher,
ihr Atem flach, und sie bewegt sich nicht, Staub, der sich angesammelt hat,
kratzt in ihrer Kehle, ihr Oberschenkel schmerzt vom Sturz, von der Ohn
macht, die dem
Sturz folgte, und dem Schwindel, einem Fieber gleich, der dem Sturz vorangegangen war,

ihre Hand an der Mauer abgestützt,
ein Stück abgebröckelt,
zu ihren Füßen der Verputz,
das Grau einer Stadt im Dämmerlicht, einer anbrechenden Nacht, kalt in den
Gliedern sitzend, einer engen Gasse, die sich um sie schloss,

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ich wollte mich nähern, ihn riechen, vielleicht in einem Zufall ihn ein erstes Mal berühren,
dann kam dieses Fieber, das aus ihr brannte, und im dunklen Nichts, in dem sie gefangen war, eine Erinnerung an etwas Zukünftiges,

verschwommen, er
und dieses Glücksgefühl.

Schritte nähern sich, schleichende Schritte von Sohlen, die sich kaum vom Boden heben,
sie setzt sich auf, hält in der Bewegung inne,
warten,
sonst nichts,
vorsichtig lehnt sie sich an die Wand, die an ihrem Nacken reibt,
Atem, der nicht gehört werden will,
Atem aufeinander abgestimmt,
dann ist der Raum, jener draußen und jener, der dieses Zimmer ist,

und noch kein gemeinsamer,

zurück in einer Stille, allzu lange Stille, bis es endlich klopft, und dieses Etwas,
das sie zu ihm führte, spür bar, noch bevor er den Raum betritt, kriecht durchs
Schlüsselloch und lässt es sie schnuppern, in sich atmen wie betörenden Blütenduft,

Unsichtbares darf nicht sichtbar sein, wird es sichtbar, verliere ich die Angst davor,
die Klinke lautlos, schwaches Licht im Türspalt, und
er ein Schatten, groß und schmal, der sich in das Zimmer drängt.

Stell dir vor, sagt er nach einer Weile, dass Bäume auf den Kopf gestellt aus den Wolken wachsen, graue Wolken, regenlos, und dass es weder Licht noch Schatten gibt, und Angst ist eine belächelte Erinnerung, weil das Unerwartete, das Außergewöhnliche längst Gewohnheit ist,
schön, sagt sie leise, verkehrte Welt,
schön, ja, sagt er näher kommend, auch grausam kann sie sein, und seine Worte
sind mit Bedacht gesprochen, die Stimme ist klar und weniger dunkel, als in ihren
Träumen gehört, nichts
Raues, nur sein Gesicht zeigt Spuren eines Lebens, das gelebt,
und jetzt?, will sie fragen, auch wie lange sie geschlafen hat, doch tut es nicht, wartet, bis er sich an den Bettrand setzt,
Jasmingeruch,
und Kirschtabak,
hast nicht lange geschlafen, sagt er, eine Stunde, viel leicht zwei, und seine Finger
auf das Holz gelegt tippen lautlos einen Rhythmus, nah ihrer Hand,
ich könnte ihn berühren,
geht's besser?, fragt er,
es geht mir gut, er reicht ihr ein Stück Papier, abgerissen, kein Name steht darauf, nur seine Telefonnummer
mit schwarzer Tinte in geschwungener Schrift,
wenn sie dich reizt, sagt er, die verkehrte Welt, dann steht er auf, geht in den
Gang hinaus, wird erneut zu diesem Schatten,
auch sie steht auf, geht seiner Eile folgend zu ihm und an ihm vorbei, blickt
links den schmalen Gang ent lang, Lichtquelle, die sie lockt, die dem Gang ein biss chen Weite gibt, führt in einen anderen Raum,
doch er zeigt nach rechts, zeigt zu einem Ausgang und in ein Draußen, das in Dunkelheit begraben liegt.

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2

Regenstille verdrängt die Geräuschkulisse der Straße, der Motoren,
ihr Fenster ist einen Spalt offen, der Spalt mit einem Buch fixiert, matter
Schimmer der Laternen flackert an den Wänden, und sie liegt in ihrem Bett,
starrt an die Decke, sucht Risse zu zählen, feine Adern, sie geben dem schmut-
zigen Weiß eine Struktur, einen Halt,
etwas Gemachtes,

war ein kurzer Heimweg, gefolgt von Stunden, in denen sie wach gelegen hat, das Stück Papier in ihrer Hand, die Zahlen in ihre Handfläche tätowiert,

Stunden, in denen er in ihren Gedanken spukte,

ein Nicht-Versprechen,

ein Zufall, dem sie, nachdem er geschehen war, nach geholfen hatte, folgte ihm seit Wochen auf seinen We gen, seit diesem einen Abend, konnte kein Zufall sein,

war, getrieben von innerer Unebenheit, ziellos durch die Stadt gestreunt, ein Flüstern,
in ihr aufgeflammt, trieb sie abseits gewohnter Lebensbahnen, ließ sie
unbedachte Schritte tun, zog sie in eine Stille, das Flüstern laut, zog in diese
fremde Gasse, gesäumt von Altbauhäusern mit schmalen Balkonen, begrenzt
durch Eisengitter, mit Pflanzen vertrocknet, hatten den Herbst in sich gesaugt,

langsam war sie gegangen, auch einer Neugierde folgend, lange abgelegt, war
gegangen, bis das Flüstern in ihr gedrängt hatte, anzuhalten,
vor einem Geschäft, dem einzigen in der Gasse, vor dieser Auslage, leer, staubig,
verhangen mit schwarzem Molino, kein Firmenschild und keine Öffnungszeiten, die Tür verschlossen,

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ihr Herz schlug schnell, und sie trat näher an die Scheibe und versuchte, in das
Innere zu sehen, ein Schauer, der durch ihren Körper fuhr, setzte sich im Nacken
fest, rasch drehte sie sich um, weg von ihrem Spiegelbild, das sie verzerrt
gezeigt hatte,
gedoppelt,

etwas lauerte in der Gasse, in einem Hauseingang, in einem Mauerriss, ein Außerhalb,
nach Jahren zurückge kehrt, ein vertrautes Gefühl, erstarb erst, als
Licht dem Inneren des Geschäfts einen schemenhaften Körper gab,

und leise drückte sie sich an die Scheibe, eins mit ihrem Spiegelbild, sah durch
den Molino im Kegel des Lichts eine Arbeitsfläche aus Metall,
erkannte ein Messer, ein Skalpell, glänzte, erkannte Fell, an dessen Ende leblos eine Pfote hing, dann sah sie eine Hand,
die ins Fell griff, Finger, die es streichelten, seine Hand, seine Finger, sein Rücken ihr zugewandt, sein ruhiger Atem sichtbar, und die zärtlichen Berührungen bewegten sie, einen Teil ihres Selbst, der längst vergessen war,
Verletzlichkeit,

beschämt trat sie einen Schritt zurück, senkte ihren Blick und ging, musste gehen,
bevor das Licht erloschen war.
Sie hatte sich geschworen, nicht mehr zurückzukehren, nie wieder, wider dem
Flüstern, und doch kam sie zurück und suchte dieses Etwas zu ergründen,
noch namenlos,
es hatte ihre Nächte und Tage gestört und Gedanken und Träume aus dem
Gleichgewicht gebracht,
und jeden Tag nahm sie die Gasse, nahm sie im Dämmerlicht, wenn sie zur
Arbeit ging, nahm sie, nach dem ihre Schicht am Morgen zu Ende gegangen war, und musste sie nicht ins Hotel, wartete sie, manchmal einen halben Tag,
warten,
sonst nichts,
hatte beobachtet und war gefolgt,
er, der Schlüssel, der dieses Etwas sperrt.

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Verließ er abends das Geschäft, schlug er sich den Mantelkragen hoch und
blickte in den Himmel, ging in sich versunken, zügig, doch ohne Hast, und hielt
er inne, was er manchmal tat, drückte sie sich in einen Hauseingang,
eins mit den Häusern, den Mauern und ihrem Verputz,

sie,
ein Taggespenst,
beinahe unsichtbar,
auch morgens wartete sie auf ihn,
und bevor er das Geschäft betrat, suchte sein Blick erneut den Himmel ab, sein
Lächeln, fordernd, es verschwand in die Welt hinter dem schwarzen Molino,
an manchen Tagen kam er später, an anderen Tagen nicht,
und sie atmete, was sein Schatten übrig gelassen hatte, an manchen Abenden
ging er in ein Lokal, an anderen stieg er ohne Umweg in die Straßenbahn,
sie blieb in Distanz, blieb gegenüber dem Lokal und nah der Haltestelle stehen, wartete, bis der Nebel ihn verschlang.

Einmal, morgens,
sie,
wartend an der Straßenbahnstation,
er, nachdem er ausgestiegen war, näher kommend, auf sie zu, so schien es, sah
sie nicht an, und doch spürte sie jeden seiner Schritte,
kein Hauseingang in der Nähe, in dem sie sich verstecken konnte, und ihre Angst, entdeckt zu werden, trieb sie in ein Café, nur langsam fand ihr
Atem in eine Gleichmäßigkeit zurück, langsam trocknete der Schweiß auf ihrer
Haut,
und Minuten später stand er in der Tür, sah sich um, ihr Körper angespannt, erneut, mit jeder Pore war tend, dass er zu ihr kam, wartend, vertrautes Gefühl,
auf einen flüchtigen Blick,
ein Lächeln,
eine erste Begegnung,
zu früh herbeigeführt,
und vergebens wartend auf seinen Schatten.

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3

Keine Berührung, kein Sehnen danach, nur sein Kör per, der ausgestreckt neben
dem ihren lag, nicht atmete, dennoch lebendig war, und auch sie hielt den Atem
im Traum gewesener Stunden fest in sich verschlossen, in der Schatzkiste der
Kindheit, versperrt und unter dem Bett versteckt, im Zimmer, das sie sich teilen
musste, was hütest du darin?, fragte er,

nichts, log sie, Dinge, unbedeutend, sie gehen dich nichts an,
Dinge, unbedeutend, sie gehen dich nichts an, sagte sie auch damals dem
großen Schwesterchen, nahm sich den meisten Platz, breitete sich im Zimmer aus,
Puppen, Spiele, Bücher, Stifte und Parfumflakons, behütet und beschützt,
neugieriges Schwesterchen steckte ihre Nase in all die Dinge, die nicht für sie
bestimmt waren, wollte alles wissen, haben, alles sollte ihr gehören,
doch Kindheit wurde weggesperrt, das Haus, der Garten,

die unbemalte Traumlandschaft, ist nun zurück, wird Teil der Welt, die er mir öffnet,
weißer Himmel,
schneebedeckte Felder,

knirschende Schritte,
Fußspuren, die sie wieder rückwärts nahm, um den Horizont nicht zu verlieren,
Horizont, in dem ich schwinden wollte.
Noch ist Zeit, bevor ihre Nachtschicht beginnt, Zeit für den Umweg zum
Geschäft, Zeit, um ein erstes Mal hineinzugehen, das Geschäft ist offen, doch Feigheit spottet ihr erneut im Spiegelbild,
lässt mich den einen Schritt zu weit nicht gehen,
zurück in eine Welt, aus der sie geflohen war, schillernde Seifenblasenwelt, das
Seifenwasser schmutzig, abge standen, und die Seifenblasen allzu schnell zerplatzt,
zurück in eine Welt, in die kein Schmerz mehr drang, nur hohles
Beziehungsgeflüster, das sie erdrückte, lange war sie nicht verliebt gewesen, hatte sich lange nicht mehr in einer Beziehungsillusion getäuscht, die letzte brach vor Jahren ab und nichts sehnt sie zurück, zurück in die gespielte Aufopferung, zurück in das geheuchelte Verständnis,
noch ein Schritt zurück, ganz langsam genommen und vorsichtig daran gedacht,
in eine Welt, bevor es diese gegeben hatte, beschützt in Gedanken und der Schatzkiste unter dem Bett, war dort gut aufgehoben, all das Kleine, das ihr wichtig war, all die Worte, die zu Geschichten wurden, vergessen und verdrängt.
Er ist keiner, der mich mit Alltäglichkeit verletzt, er wird mein Schatten werden, und die Hand an der Tür schließt sie die Augen, halt loses Zögern, nicht erst
einmal wollte sie zu ihm, wollte hinter den Molino und kam nie weiter als bis davor, ängstliches Wesen aus einem Früher,

früher,
wieder dieses Früher,
vergessen, verdrängt,
wieder schwindelt ihr, ein Schwindel jenem gleich, der sie in die Ohnmacht
zwang, als würde ihr etwas den Atem entziehen, aus ihr saugen,
Schatten,
Schatten, die nach ihr greifen, aus ihrem Inneren her aus, spalten ihren Brustkorb,
tausend Arme, die sich um mich schlingen, sie zerquetschen mich,
verschwindet,
zischt sie in einer Stimme, die nicht die ihre ist,
verschwindet, früh genug werde ich euch wiedersehen, sie drückt sich gegen die
Tür und in das Geschäft, hell die Klingel, flüsternder Vogelgesang, kein Tages licht im Raum, der Raum sauber, die Arbeitsfläche leer, glänzt,
er nicht hier, nur sein Geruch, Jasmin und Kirschtabak, der sich mit Chemie
und Moder mengt,
und in den Regalen und an den Wänden Marder, Wiesel, Eulen,
sie sehen mich nicht an, sehen über mich hinweg,
ein Hase, der Kopf eines Hirsches mit Geweih, wahllos nebeneinandergestellt, ein Hund, eine Katze, toter Blick, über und untereinander, angestaubt, altmodisch, sie richten mich, er nicht hier,
das Tote richtet mich,
sie nähert sich dem Tisch, legt ihre Hand aufs Metall, und ein kalter Stich lässt
sie zusammenschrecken, Kälte,
zieht von der Handfläche in den Arm, zieht weiter in die Schultern, in die Brust,
bis in den Unterleib,
ich will, dass diese Kälte in mich dringt.
Was willst du?, fragt er, ist deine Katze tot?, dein Hund?, dein Hamster?,
ich mache alles, nur Fische nicht, ich hatte einen Goldfisch, sagt sie, einen, fragt er, der ertrunken ist?,
verhungert, sagt sie, traurige Geschichte, lange her, Minuten erst, dass sie in
dem Geschäft ist, und doch fühlt sich alles vertraut an, jedes Tier ist an seinem
Platz, der Sittich, das Rebhuhn, jeder Tisch, jede Lampe, jeder Schatten, der
hinter den Tieren huscht, er, Stimme, Körper, sein Geruch,
und er geht auf sie zu, nachdem er hinter einem der Regale hervorgekommen ist,
aus einem der anderen Zimmer, vielleicht aus jenem, in dem sie geschlafen hat,
dem dunklen Raum, schmucklos, und seiner Geborgenheit, dass sie ihn sehen wollte, sagt sie,
er lächelt, sagt, dass er seit dem Morgen auf sie gewartet hat, sagt leise, vielleicht schon länger,
warten auch die ausgestopften Tiere mit ihren falschen Augen und den aufgerissenen Kiefern, Schneidezähne blitzen auf, Monster, Totes,
kleine Kunstwerke, sagt sie, Schöpfungen, in Lebendigkeit,
und er senkt den Blick, greift nach ihrer Hand und führt sie an seine Wange,
zu sanft für diesen Augenblick,
wieder dieses Lächeln, es spaltet sie,
er lässt ihre Hand los,
sie vergräbt sie in der Manteltasche, hält fest an dem bisschen, das er ihr von sich geschenkt hat, Ruhe, die
sichtbar in ihm schlummert,
einer traurigen Zufriedenheit, was machen wir?, fragt er,
weiß nicht, sagt sie, ich habe Zeit,
richtig, sagt er, wir haben Zeit.


Fotos von Manfred Poor