Trotz gebrochenen Kiefers und ohne Schuhe überlebte diese Frau 12 Tage in der Wildnis
Die Gegend in der Nähe von Rocky Mountain House | Foto: imago | All Canada Photos

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Trotz gebrochenen Kiefers und ohne Schuhe überlebte diese Frau 12 Tage in der Wildnis

Nachdem sie fast vergewaltigt worden wäre, rettete sich eine Frau in die Wildnis der kanadischen Provinz Alberta, wo sie sich bis zu ihrer Rettung 12 Tage lang nur von Beeren ernährte.

Sie hätte auch ganz schnell als weiterer Name auf Kanadas langer Liste an vermissten und ermordeten indigenen Frauen enden können.

Jetzt äußert sich die Frau, deren Identität durch einen Gerichtsbeschluss geheim gehalten werden muss, exklusiv gegenüber VICE News zum ersten Mal zu dem sexuellen Übergriff, der sie fast das Leben gekostet hätte und sie 12 Tage lang durch die Wildnis der Provinz Alberta irren ließ.

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Der 38-jährige Täter Kevin Gladue wurde am 25. Februar des schweren sexuellen Missbrauchs schuldig gesprochen und zu sechs Jahren Haft verurteilt.

Damit ging ein Martyrium zu Ende, das im Sommer 2013 begann, als die Frau sich dazu entschied, zusammen mit ein paar Freunden durch das holprige Gelände in der Nähe ihres Zuhauses im Gebiet der O'Chiese First Nation zu brettern. Die Stadt Rocky Mountain House befand sich dabei ganz in der Nähe.

Ihr Onkel fuhr den Truck, als das Fahrzeug im Schlamm stecken blieb. Nach mehreren erfolglosen Befreiungsversuchen zogen besagter Onkel und ein anderer Begleiter los, um Hilfe zu holen—so blieb die Frau alleine mit Gladue zurück.

Laut der Frau wirkte Gladue immer ganz harmlos. Die beiden hatten sogar schon zusammengearbeitet, als er in der Schule der O'Chiese First Nation als Koch angestellt war.

Da die Frau nicht wusste, wie lange ihre Freunde brauchen würden, schlief sie auf dem Rücksitz des Trucks ein.

Als sie wieder aufwachte, war Gladue gerade dabei, ihr die Hose auszuziehen. Sie wehrte sich und versuchte zu fliehen, aber Gladue jagte ihr nach und schlug sie mit einem Gegenstand nieder.

Ohne Schuhe und mit einem an zwei Stellen gebrochenen Kiefer konnte die Frau dann in Richtung eines Walds entkommen. Inzwischen war es jedoch auch schon später Nachmittag. Sie erzählt uns davon, wie sie die Straße wiederfinden wollte, auf der sie vorher entlanggefahren waren, aber sie verlor dann die Orientierung und landete so schließlich am Baptiste River.

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Illustrationen: Emma O'Neill

„Als es dann dunkel wurde, bekam ich richtig Angst, weil ich ja nicht wusste, wo genau ich mich überhaupt befand. Deshalb habe ich mich die ganze Nacht lang auch nicht vom Fleck gerührt", erzählt uns die Frau.

In der ersten Nacht schlief sie im Schutz eines Baums und bewegte sich anschließend nur ein wenig flussaufwärts, da es die darauffolgenden Tage heftig regnete und ihr Kiefer unglaublich schmerzte. Sie versuchte zwar, Wasser aus dem Fluss zu trinken, aber ihre Verletzungen waren so schlimm, dass das Wasser einfach wieder rauslief.

„Unterhalb und an der Seite meines Kiefers waren zwei Löcher sowie tiefe Schnitte direkt durch den Knochen", erklärt sie uns. Da sie nicht wusste, ob sie das Ganze überleben würde, fing sie an zu beten.

Und genau da erblickte sie auch den Bären.

„Ich sah nur, wie sich braunes Fell den Hügel hochbewegte, und dachte mir, dass ich jetzt als Bärenfutter enden würde", meint sie leise. Ihrer Meinung nach muss das Tier durch den Blutgeruch angelockt worden sein. „Er hat mich einfach gerochen. Ich machte die Augen zu und als ich sie wieder öffnete, war der Bär verschwunden."

„Genau da musste ich auch an Dinge wie etwa Mut und Dankbarkeit denken."

Als sie nicht mehr wusste, wie sie weiter vorgehen sollte, sah sie den Bär dann ein zweites Mal—diesmal auf der anderen Seite des Flusses. Da kam ihr auch der Gedanke, dass sie dem Tier wohl folgen sollte. Ab und an war sie auch direkt im Fluss unterwegs und ließ sich von der Strömung treiben—dabei hielt sie sich an einem großen Stück Holz fest, das von Bibern angeknabbert worden war. Kurz bevor der Baptiste River schließlich irgendwann in den viel schnelleren North Saskatchewan River mündete, begab sich die Frau wieder an Land und ging zu Fuß weiter. Sie wanderte jeden noch so kleinen Trampelpfad entlang und musste sich sogar auch durch einen Sumpf kämpfen. Dabei ernährte sie sich ausschließlich von Beeren und schlief tagsüber, wenn sie konnte. Nachts hörte sie dann entlang des ganzen Flusses Stimmen, die im Flüsterton zu ihr sprachen.

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„Nichts fühlte sich real an", erzählt sie uns. Irgendwann musste sie sich dann einfach hinsetzen und weinte zwei Tage lang durch.

„Genau da musste ich auch an Dinge wie etwa Mut und Dankbarkeit denken."

Als sie eines Tages Beeren aß, um wieder zu Kräften zu kommen, erblickte die Frau dann einen Hirsch, der sich ihrer Aussage nach komisch verhielt und wie ein Hund spielerisch herumsprang. Nachdem sie dem Tier eine Weile lang gefolgt war, erreichte sie eine zerfahrene Straße. Also schnürte sie den Hosenbund ihres Trainingsanzugs enger, um ihrer schmerzenden Hüfte mehr Stabilität zu geben, und lief dann die besagte Straße entlang. So kam die Frau letztendlich an einer anderen, vielbefahrenen Straße raus.

In der Ferne konnte die Frau auch direkt die Scheinwerfer von zwei näher kommenden Trucks ausmachen.

„Als ich die Straße entlangfuhr, sah ich da plötzlich etwas laufen. Ich war mir erst nicht sicher, um was es sich da handelte, weil der Overall der Frau diese beige Farbe hatte", erinnert sich Mike Rempel, ein Öl- und Gastechniker aus dem nahegelegenen Drayton Valley. Der Arbeiter befand sich im Gebiet südlich des Brazeau-Damms, um die Anlagen seines Arbeitgebers zu überprüfen, als er die Frau ausmachte und zuerst dachte, sie sei ein Reh. Von Nahem erkannte er jedoch gleich, dass es sich um einen Menschen handelte.

„Das war richtig schlimm. Ich habe sie kaum verstanden, weil sie ihren Mund aufgrund des stark verletzten Kiefers eigentlich nicht bewegen konnte", erzählt uns Rempel. „Ich habe dann schnell meinen Beifahrersitz freigemacht, damit sie einsteigen konnte."

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In einer nahegelegenen Raststätte rief er dann die Polizei und bekam dabei auch die Bestätigung, dass die Frau knapp zwei Wochen vorher tatsächlich als vermisst gemeldet worden war. Das Ganze fand am 26. Juli statt—dem Geburtstag ihrer Mutter.

„Dieses Gebiet hier verzeiht einem keine Fehler. Es gibt viele Sümpfe und ich habe hier auch schon Bären, Pumas und Wölfe gesehen", meint Rempel, der bei Gladues Prozess dann sogar als Zeuge aussagte und dabei erklärte, wie erstaunt er darüber gewesen sei, dass ein verletzter Mensch ohne Schuhe in diesem Gebiet so lange überleben konnte.

Der Heilungsprozess der Frau zieht sich jetzt schon mehrere Jahre hin und es hat etliche Operationen gebraucht, um ihren Kiefer wieder zu richten, der sich entzündete und nun mit Metallplatten fixiert wurde. Komplett geheilt ist er bis heute nicht.

Kurz nach ihrer Rettung nahm die Frau ihrer eigenen Aussage nach wieder an Schwitzhüttenzeremonien teil und befragte die Stammesältesten dabei auch zu den Tieren, die sie während ihres Martyriums gesehen hatte. Da wurde ihr erklärt, dass es sich bei dem Bären und dem Hirschen um Geister gehandelt hätte und dass sie nun die Wahrheit über ihre Erfahrungen weitererzählen und Andere über ihre Geschichte in Kenntnis setzen müsste.

„Macht den Mund auf! Stellt die Leute an den Pranger, die indigenen Frauen wehtun. Viele Menschen schweigen, weil sie zu große Angst haben", meint sie noch abschließend. „Falls du auf irgendeine Art und Weise missbraucht wirst, dann scheue dich nicht, um Hilfe zu bitten!"