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Die größte DDR-Sammlung der Welt ist in L.A.

Im „The Wende Museum" findet man über 100.000 Ausstellungsstücke aus der DDR—von Spionagewerkzeug über Musikinstrumente bis hin zu Haushaltsprodukten.

Als Kind stellte ich mir in Zeiten des Kalten Kriegs den Alltag in den Ostblockstaaten wie einen Schwarz-Weiß-Film voller bleicher Menschen vor, die absolut keine Freude verspüren konnten, weil sie ständig befürchten mussten, von den Behörden bespitzelt zu werden. Edward Snowden war damals noch nicht geboren und deshalb erschien mir die Vorstellung einer Regierung, die ihre Bürger tatsächlich abhört, wie die Art grotesker Albtraum, die sich nur eine grausame kommunistische Diktatur einfallen lassen könnte.

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Dann fiel die Mauer. Doch was haben die ehemaligen Stasi-Mitarbeiter mit den James-Bond-artigen Koffern voller Spionagewerkzeug gemacht, nachdem sie zu arbeitslosen Deutschen mit Frauen wurden, die sich einen größeren Kleiderschrank wünschten? Was geschah mit den ganzen Uniformen, Waffen und Handbüchern der ehemaligen Grenzposten vom Checkpoint Charlie?

Wie sich herausstellt, haben diese ganzen Memorabilia einen Platz in Los Angeles gefunden—dank des Historikers Dr. Justinian Jampol und seinem „Wende Museum".

Verschiedene Spionagetechnologien | Alle Fotos: bereitgestellt von Dr. Jampol und The Wende Museum

2002 war Jampol noch ein 25-jähriger Student an der Oxford-Universität, der seinen Master im Fach Russian and East European Studies machte. Während eines Semesters in Berlin fiel ihm auf, dass das offizielle Bundesarchiv nicht das passende Quellenmaterial bereithielt, das er zur Beantwortung seiner Fragen im Bezug auf das Leben in der ehemaligen DDR benötigte.

„Eine ganze Kultur verschwindet, weil sie noch nicht als historisch, sondern nur als alt angesehen wird."

„Die Leute beschrieben den Ostblock als total unangenehm und das hat mich total fasziniert. Das Ganze erschien mir wie ein großes Loch, mit dem sich niemand auseinandersetzen wollte", erinnert sich Jampol. Damit beschreibt er, wie es sich angefühlt hat, die Dekonstruktion einer ganzen Kultur in Berlin live mitzuerleben.

„Man radierte einzelne Bruchstücke richtig aus: Mauern wurden übermalt, alles wurde abgerissen und weggeschmissen", erzählt er mir. „Wenn ein Regime fällt, dann will man im ersten Moment natürlich erstmal alles loswerden. Das geht so schnell, dass die meisten Sachen einfach zurückgelassen werden. Eine ganze Kultur verschwindet, weil sie noch nicht als historisch, sondern nur als alt angesehen wird. Alles wurde mit dem Ruf der DDR als unterdrückerischer und schlechter Staat in Verbindung gebracht. Nur die Sachen, die man als ‚kulturell wertvoll' ansah, wurden behalten. Aber welchen Maßstab setzte man hier an?"

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Da wurde Jampol auch klar, in welche Richtung seine Nachforschungen gehen müssen. „Um zu dem Historiker zu werden, der ich sein wollte, musste ich das Archiv links liegen lassen und mich selbst auch die Suche machen."

Ein Stapel Visumanträge in einem Aktenschrank

Dazu musste Jampol als Erstes herausfinden, wo sich die faszinierendsten DDR-Relikte versteckten. Dank mehrerer Tipps durchsuchte er schließlich diverse Keller, Dachböden, Flohmärkte und Atomschutzbunker. In den ehemals geschäftigen, jetzt jedoch verlassenen Bevölkerungszentren fand der Historiker „Dinge, die die Leute traumatisierten, die sie liebten und wegwarfen."

„Geschichte wird vor allem von den Verrückten abseits der Gesellschaft gewahrt", erklärt er. „Wir sind der Ort, wo solche Dinge weiterleben können."

Ein Ausschnitt aus „Collecting Fragments"

In der Kurzdoku Collecting Fragments ist zu sehen, wie The Wende Museum zustande kam. In einer Szene befindet sich Jampol in einer Privatgarage in Jüterbog—ein Ort, der einst als „geheime Stadt" galt. Ein ehemaliger Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit zeigt ihm seine Sammlung von 7.000 Mörsern. Er nennt das Ganze „ein Zeugnis der russischen Artillerie", Jampol nennt es „die größte Mörser-Sammlung der Welt."

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Einige der beeindruckendsten Ausstellungsstücke des Museums wurden von ehemaligen DDR-Bürgern bereitgestellt—denn sie hatten Angst, dass ihre Sammlungen im Falle einer Spende an eine europäische Institution politisiert werden würden.

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„Dabei handelt es sich vor allem um die Sachen, die von Tätern—also Grenzposten oder Stasi-Mitarbeitern—stammen", meint Jampol. „Hätten sie ihre Besitztümer an eine deutsche Einrichtung weitergegeben, dann wäre das wie eine Art Selbstverrat gewesen."

Hunderte Schwarz-Weiß-Fotos machen die „Facing the Wall"-Ausstellung aus

Im weiteren Verlauf der Tour durch das Wende Museum fällt mir auch eine Ausstellung namens „Facing the Wall" ins Auge. Sie beinhaltet Hunderte Schwarz-Weiß-Foto-Paare mit je fast identisch aussehenden Menschen. Wie sich herausstellt, waren diese Fotos mal Teil eines Tests, bei dem den DDR-Grenzposten beigebracht wurde, Leute zu erkennen, die nicht mit ihrem eigenen Pass reisten.

„Mithilfe diverser Werkzeuge konnte sie ziemlich objektiv feststellen, ob ein Pass echt war", erklärt mir Jampol. „Aber wie konnten sie sich überhaupt sicher sein, dass es sich dabei wirklich um die jeweilige Person handelt? Auf jeder Karte sind zwei Gesichter abgebildet und die Beamten mussten die Frage ‚Handelt es sich dabei um dieselbe Person?' richtig beantworten können."

Auf den 200 Fotos ist nur neunmal derselbe Mensch zu sehen. Selbst nach eingehender Betrachtung lag ich fast jedes Mal daneben.

Aufzeichnungen körperlicher Merkmale, angefertigt von Peter Bochmann, dem Leiter der Passabteilung am ehemaligen Grenzübergang Friedrichstraße-Zimmermannstraße in Ostberlin

Die dort ausgestellten Memorabilia sind nicht nur faszinierend, sondern auch extrem selten.

„Wir besitzen die einzige bekannte Niederschrift darüber, wie man ein Grenzposten wurde", erzählt mir Jampol. Darin enthalten ist ein „Klassifikationsschema der Gesichtszüge", das die Beobachtungsgabe der Beamten verbessern sollte. Aufmerksam arbeite ich mich durch die Unterlagen, die detaillierte Augen-, Nasen- und Schnurrbartvergleichstabellen beinhalten, mithilfe derer die Grenzwachen Bürger mit gefälschtem Pass erkennen sollten, bevor eine erfolgreiche Flucht möglich war.

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Ein Ausschnitt aus Peter Bochmanns Klassifikationsschema der Gesichtszüge

Das Ziel des Wende Museums ist es, alle aufgearbeiteten Details dieser quasi verschwundenen Welt zugänglich zu machen—und zwar die schönen als auch die schrecklichen.

Verschiedene Schilder vom Checkpoint Charlie

Was dank Jampols unermüdlicher Sammelleidenschaft vom Besuch des Wende Museums übrig bleibt, ist der Eindruck einer einzigartigen ostdeutschen Kultur, die viele ehemalige DDR-Bürger auch heute noch vermissen. Unter diesen Leuten herrscht die Ansicht, dass die Wiedervereinigung so schnell über die Bühne ging, dass gar keine Zeit dafür blieb, darüber zu verhandeln, was nun behalten und was ausrangiert wird.

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„Geschichte ist ein kompliziertes Thema, weil die Leute kompliziert sind", meint Jampol. „Wurden sie unterdrückt? Auf jeden Fall. Aber genau dieser Umstand macht das ganze kreative Material so beeindruckend, denn der menschliche Tatendrang findet immer irgendwie einen Weg, sich auszudrücken, richtig? Gäbe es uns nicht, dann würde das alles irgendwann verschwinden."

Eine Archivarin des Wende Museums

Die Vielfalt des Wende Museums sorgt ebenfalls für Staunen, denn dort findet man quasi alles, was die DDR ausmachte—von Stasi-Spionagewerkzeugen und Schildern, die mal am Checkpoint Charlie zu sehen waren, über eine Ansammlung an ostdeutschen Haushaltsprodukten und das mit der deutschen Arbeiterbewegung zusammenhängende Musikinstrument Schalmei bis hin zu 6.000 von der DDR produzierten Videos zu den Themen Gesundheit, Hygiene und Bildung.

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Am Tag nach meinem Besuch geht es für Jampol schließlich wieder zurück nach Berlin, denn er befindet sich ständig in einem Wettlauf gegen die Zeit, bevor bald keine Relikte des Kalten Kriegs mehr gefunden werden können.

„Wir haben einen Tipp bekommen. Ungefähr eineinhalb Stunden außerhalb von Berlin hat eine Frau ein ganzes Jahrhundert an Kleidung und Mode angesammelt—aus der Kaiserzeit, aus der Weimarer Republik, aus dem Dritten Reich und aus der DDR", erzählt er mir. „Die Art, wie wir unsere Memorabilia sammeln, passt zum Ethos des Museums. Wir haben nicht die Zeit, bis zur nächsten passenden Auktion bei Christies zu warten."

Ein Koffer mit Aufnahmegerät

Die Zukunft des Wende Museums erscheint rosig. Derzeit befindet sich das Ganze zwar noch im Hintergebäude eines Bürokomplexes in Culver City und ist für die Öffentlichkeit nur freitags oder nach Absprache geöffnet, aber Ende nächsten Jahres zieht das Museum in frisch renovierte Räumlichkeiten, die dann auch mehr Platz bieten. Dazu kommt, dass in Zusammenarbeit mit dem Getty Museum ein Buch entstehen soll und man bei diversen Ausstellungen auch aufeinander zurückgreift.

„Die Sachen, die wir hier sammeln, stammen oft aus Situationen, in denen sie im Grunde nur noch als Müll angesehen werden. Und jetzt landen sie im Getty. Das ist schon irgendwie verrückt", meint Jampol mit einem Lächeln.