Was Montagabend am Westbahnhof mit Hunderten Flüchtlingen passiert ist, macht Mut
Alle Fotos von Christopher Glanzl

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Was Montagabend am Westbahnhof mit Hunderten Flüchtlingen passiert ist, macht Mut

An diesem Abend waren wir alle Fluchthelfer.

Am Wiener Hauptbahnhof trifft ein aus Ungarn kommender Zug ein. Er hat viele Stunden Verspätung, nachdem er an der Grenze aufgehalten wurde, weil er so überfüllt laut ÖBB nicht weiterfahren könne. Mit an Bord befinden sich viele Hunderte Flüchtlinge, viele von ihnen aus Syrien. Wir steigen zu.

Der Zug fährt über Meidling zum Westbahnhof. Die Flüchtlinge hatten die Tage und Wochen zuvor in Budapest am Bahnhof übernachten müssen, weil sie an der Weiterreise gehindert wurden. Doch am Montag dürfen sie dann nach Österreich und von hier auch nach Deutschland—an den Zielort von vielen—weiterreisen.

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Im Zug ist es stickig und voll. Die Menschen blicken auf, als wir einsteigen. Viele sehen aus den Fenstern. Bei jedem Stopp wissen sie nicht genau, wie es weitergeht. Eigentlich sollte der Zug nach München fahren, stattdessen ist am Westbahnhof Endstation. Das wird auf Deutsch im Zug durchgesagt, niemand kennt sich wirklich aus.

„Train to Munich?" fragen mich einige Leute. „No. Vienna", antworte ich ihnen. Eine Frau beginnt zu weinen, ich kann sie nicht fragen, weshalb—sie spricht kein Englisch, ich nicht Arabisch—, die restliche Fahrt zum Westbahnhof blickt sie zu Boden. Sie ist nicht alleine unterwegs, ihre Begleiter sprechen sie immer wieder an und reden auf sie ein, sie schüttelt apathisch den Kopf.

Vier Männer erzählen von ihrer Reise, sie zeigen mir Fotos von dem Boot, mit dem sie über das Meer gekommen sind: Ein Foto von ihnen in Schwimmwesten, ein Foto von ihrem Zuhause und eines vom Baby, dann die Route auf einer Karte. Sie sind glücklich. Sie befinden sich auf den letzten Kilometern ihrer Reise. Einer sagt, er möchte nur schlafen. Endlich schlafen.

Auf einem 4er-Platz sitzt ein Vater mit seinen Kindern. Ich stehe am Gang, das Mädchen sieht mich an und lacht, dann zeichnet sie ein Haus. Ich winke ihr, sie winkt zurück. Ich frage den Vater, ob er Englisch spricht, er schüttelt den Kopf. „Syria?" Er nickt. Am Westbahnhof fragt auch er: „Munich?" Ich schüttle den Kopf und sage einem Jungen, nicht älter als 16, der neben mir steht und Englisch kann, er solle dem Mann mit den Kindern doch erklären, dass sie hier am Westbahnhof umsteigen müssen. Der Mann mit den Kindern bedankt sich bei uns. Am Gleis treffe ich ihn zufällig wieder.

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Ein Security schickt ihn mit seinen beiden Kindern auf Gleis 1, was nicht stimmt, aber in der Hektik wohl verständlich ist. Ich deute ihnen, mir zu folgen, wir gehen in die Halle und sehen nach, wann und wo der Zug nach München abfährt. Ich kaufe ihnen am Weg noch ein paar Muffins, die Augen der Kinder leuchten. Immer wieder blicke ich hinter mich, sie sind immer da. Der Mann, rechts an der Hand die Tochter, links der Sohn. Der Mann spricht meine Sprache nicht, ich nicht die seine. Er vertraut mir, aber er hat in seiner Situation auch kaum eine bessere Option. Wir gehen zum richtigen Gleis, er flüstert seinen Kindern „Thank you" ins Ohr und sie sagen es laut zu mir, dann ziehen sie mich runter zu ihnen und geben mir ein Bussi. Die Tochter von links, der Sohn von rechts.

Immer mehr Menschen trudeln ein. Mit Wasserflaschen, Obst, Babynahrung, Windeln. Sie verteilen die Sachen an die Durchreisenden. Als der zweite Zug aus Ungarn kommt, trauen sich viele erst nicht auszusteigen. Man muss ihnen mehrere Male sagen, dass sie umsteigen müssen, wenn sie nach Deutschland wollen. Sie kommen raus, es ist hektisch. Viele hundert Menschen stehen auf dem Gleis.

Ein Junge verliert seine Mutter, schreit und weint und plötzlich verteilt niemand mehr Flaschen. Flüchtlinge schnappen den Jungen, laufen mit ihm das Gleis auf und ab und rufen nach seiner Mutter. Die Journalisten und Helfer stehen daneben, machen Fotos und sehen zu. Niemand weiß, was zu tun ist. Doch den Männern ist in dem Moment egal, ob sie ihren Zug verpassen—sie suchen weiter nach der Mutter. Neben mir weint einer der Helfer. Kurz darauf gehen zwei Helferinnen an mir vorbei, beiden laufen Tränen das Gesicht herunter. Die Männer finden die Mutter. Die, die wir nicht wussten, was wir tun sollen, atmen auf, klatschen und heulen weiter.

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Es sind harmlose Bilder, die sich da am Bahnhof abspielen. Die Menschen, die aus den Zügen kommen, erzählen von tagelangen Bootsfahrten, von Übernachtungen in Wäldern, davon, dass sie von Polizisten geschlagen wurden, dass sie tagelang nicht geschlafen haben. Ihr gesamter Weg ist viel schlimmer als alles, was wir uns anhand eines überfüllten Zuges ausmalen können. Ihre Geschichte ist viel wichtiger als unser kurzer Moment mit ihnen.

Und trotzdem ist es für Österreich ein riesiger Moment. Die Helfer sind eine Einheit, auch wenn sie noch so verschieden sind. Sie helfen Kriegsflüchtlingen, endlich anzukommen, endlich wieder in Ruhe schlafen zu können. Und ich möchte auch glauben, dass die Durchreisenden ein bisschen von dieser Hilfsbereitschaft mitgenommen haben. Sie bedanken sich viele Male, viele winken auch aus dem Zug noch einmal.

Im Chaos, das stattgefunden hat, hat sich eine Ordnung gebildet, die—so schwülstig das auch klingt—nur von Solidarität angetrieben wurde. Die ÖBB haben Menschen weiterreisen lassen, die Polizei hat Menschen weiterreisen lassen. Polizeisprecher Roman Hahslinger hat sich im ZIB2-Interview für Solidarität und Menschlichkeit ausgesprochen. Auf der Mariahilfer Straße haben währenddessen 20.000 Menschen für genau diese Solidarität demonstriert.

Helfer haben gebracht, was sie hatten. Der Filialleiter des Merkur im Bahnhofsgebäude hat einen ganzen Wagen Getränke zu den Gleisen bringen lassen. Das Versagen der Politik bringt die Menschen zusammen, die helfen möchten. Es war ein Tag, an dem die Dublin-Verordnung vergessen wurde. Wir waren an diesem Tag alle Fluchthelfer. Nicht in dem Sinne, wie Innenministerin Mikl-Leitner das Wort versteht—als Schlepper und als Ursprung allen Übels—, sondern einfach im Sinne von Menschen, die nicht mehr zusehen können und die andere Menschen in Not unterstützen wollen, ohne sich daran zu bereichern. Und obwohl man kaum glauben möchte, dass sich solche Szenen an einem Bahnhof in Wien abspielen: Es war ein sehr guter Tag. Ein Tag, um Mut zu schöpfen.

Hanna auf Twitter: @HHumorlos