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Valium tötet Schottlands arme Drogenabhängige

Dank „Mother’s Little Helper“ und dem Großteil amerikanischer Literatur des späten 20. Jahrhunderts denken viele von uns, dass Valium etwas für chronisch gelangweilte Hausfrauen ist, obwohl es Schottlands Armste umbringt.

Ich treffe Jack und seine Freunde an einem grauen Februarabend in einer nasskalten Bar in der Nähe der Cowgate. Diese Straße in Edinburgh ist übersät mit Glassplittern und ätzenden Überresten von Magengalle, Rotkraut und was auch immer zu dieser Mahlzeit gehörte, bevor sie ihren Weg auf die Straße fand. Diese Gegend von Edinburgh ist bei den Bewohnern als „Straße der Schande“ bekannt. Das kommt wahrscheinlich daher, dass es hier am Abend von Typen auf Sauftour, schmutzigen Studenten in schicken Kleidern und gackernden Jungeselinnenabschieden nur so wimmelt, obwohl es tagsüber eigentlich ganz nett ist. Sie strömen in die billigen Bars auf dieser Seite der Stadt, nur um Stunden später auf dem Nachhauseweg eine Kotzspur zu hinterlassen.

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Jack klärt mich über das Übel Methadon auf und er erzählt mir, wie es der Legende nach mithilfe zweier deutscher Chemiker, amerikanischer Soldaten und Adolf Hitler seinen Weg ins Königreich gefunden hat. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges verließ sich Hitler auf Amphetamine, um wach zu bleiben, und nahm angeblich Methadon, um wieder einzuschlafen. Jack verrät, dass sich ein Anagramm im Wort Methadone versteckt: „the mad one“. Wir müssen beide lachen. Dann suchen wir nach Anagrammen für das Wort Valium, aber wir finden keine. Valium ist nach Methadon die Droge, die Schottland tötet. Es war im Jahr 2011 für 32 Prozent der Drogentoten (mit-)verantwortlich.

Als Valium—oder Diazepam, wie es mittlerweile heißt—40 wurde, feierte der Medikamentenhersteller Hoffmann-La Roche im großen Stil und breitete einen Banner mit folgendem Spruch aus: „Danke für die Fröhlichkeit und Entspannung, die du uns über die Jahre beschert hast.“ Bei diesem Banner zuckt auch der hartgesottenste Pharmalobbyist zusammen, sodass es Gegner umso krasser empfanden. Es gab dann keine Party für Valiums Fünfzigsten, welcher Anfang 2013 unbeachtet vorüberging.

Dank „Mother’s Little Helper“ und dem Großteil amerikanischer Literatur des späten 20. Jahrhunderts denken viele von uns fälschlicher Weise, dass Valium etwas für chronisch gelangweilte Hausfrauen im mittleren Alter ist, obwohl es eigentlich Schottlands ärmste Männer umbringt—es wurde in 72 Prozent der Drogentoten gefunden.

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Jack kennt die Macht von Valium aus erster Hand. Er ist seit 19 Jahren von dem Medikament abhängig und hat vor unserem Treffen bereits 28 Jahre Pillen geschluckt. Er räumt zwar ein, dass er die „Weißen“ genommen hat (die schwächeren Zwei-Milligramm-Tabletten statt die stärkeren „Blauen“), die Menge ist mehr als neunmal so hoch wie die effektive Tagesdosis gegen innere Unruhe, und dennoch zeigt Jack wenig Anzeichen für verringerte Aufmerksamkeit. Das ist zum Teil so, weil er eine stetig wachsende Toleranz für das Medikament über die Jahrzehnte entwickelt hat und eine der Gefahren von Valium darin liegt, dass die Nutzer wenig Anzeichen von Rausch aufzeigen, obwohl sie womöglich Riesenmengen konsumiert haben. Jack erzählt eine Anekdote, um es zu verdeutlichen.

„Dieser Typ hat eine Handvoll Valium genommen und wollte im Anschluss in ein paar Häuser einbrechen. Als er in einem Haus die Küche durchsuchte, fand er eine halbgegessene Pizza im Kühlschrank, holte sich einen Teller, setzte sich in den Sessel und aß ein paar Stück. Alles, was er mitnehmen wollte, hatte er bereits an der Tür gesammelt und war fertig für den Abflug. Plötzlich war es Morgen. Die Polizei stürmte in das Haus und schrie: ‚Aufwachen! Aufwachen!’ Die haben ihn auf frischer Tat ertappt und das ist die bittersüße Wahrheit. Er musste dafür jahrelang Gespött ertragen und konnte das Geschehene nie überwinden. Stell ihn dir mal im Gefängnis vor—‚Warum bist du hier?’ ‚Na ja …’“

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Leider war dies einer der wenigen heiteren Momente in einer Serie von traurigen, beunruhigenden Anekdoten über das Medikament. Jack denkt, Valium habe seine Wahrnehmung ruiniert und dauerhaft sein Erinnerungsvermögen beschädigt. Professor Malcolm Lader hatte diese Nebenwirkung 1982 hervorgehoben und dem Medical Research Council Belege präsentiert, die auf Gehirnschäden bei Langzeitnutzern vergleichbar mit den Erfahrungen bei Alkoholikern hinweisen. Die Warnsignale werden bei Jack ignoriert, denn ihm wurde Valium nun seit 19 Jahren verschrieben, was die Hälfte seines Lebens ausmacht.

Professor Lader beschreibt Valium—und Benzodiazepine, die Medikamentenfamilie, zu der Valium gehört—als „das größte medizinisch-induzierte Problem des späten 20. Jahrhunderts.“ Aber während des Gesprächs mit ihm wollte er hervorheben, dass Ärzte die Verschreibungen zum großen Teil zurückgeschraubt haben. Bedauerlicherweise kämpfen die schottische Polizei und Gefängnisbeauftragte immer noch mit der Handhabung der Ergebnisse des beliebten Medikaments.

„Wenn jemand keine Toleranz gegen Valium hat, dann fünf Blaue einnimmt, kann dein bester Freund plötzlich glauben, dass du sein schlimmster Feind bist“, warnt Jack. „Der wird dich am Ende des Tages abstechen.“

Valium ist ein Beruhigungsmittel und wird oft als solches verschrieben, aber es kann bei manchen das Gegenteil bewirken. Wenn es in Verbindung mit Alkohol eingenommen wird, kann es zu extremer Gewalttätigkeit führen und dir einen radikalen Filmriss bescheren. Das klingt dann schon nicht mehr so beruhigend. Beratungsstellen bei Wohltätigkeitsorganisationen sowie in Gefängnissen warnen vor diesem Phänomen und ehemalige Häftlinge berichten, dass es eher eine Ausnahme als die Regel ist, jemanden zu treffen, der eine lebenslange Haft absitzt, ohne dass er Valium mit Alkohol zum Zeitpunkt des Verbrechens gemischt hat.

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Statistiken des Strafjustizsystems zeigen unverkennbar, dass ein Mörder eher auf Valium ist als auf Crack, was nur einer von mehreren Gründe ist, warum es ein bisschen komisch ist, dass Valium als Medikament eingestuft wird. Bündel von wiederholten Verschreibungen lösten einen Boom im illegalen Handel mit Valium aus, was sich durch vereinfachten Import aus dem Ausland sowie primitiven Inlandsherstellern verschlimmert hat.

Steve, ein Suchtberater für Obdachlose in Edinburgh, beschreibt eine verdächtige Art von Valium, die er letztes Jahr entdeckt hatte.

„Es war nicht Valium, aber es sah aus wie Valium, roch wie Valium und schmeckte wie Valium“, erklärt Steve den Vorfall, bei dem das ähnliche, aber derbere Beruhigungsmittel Phenazepam aus Russland entdeckt wurde. Bis letztes Jahr wurde das Medikament legal importiert und in Verbindung mit ernsten Krankenhausaufenthalten gebracht und von manchen verdächtigt, die blauen Valium-Tabletten nachahmen zu wollen. „Das Zeug war um die hundert Mal so stark. Diese Typen dachten: ‚Ich kann problemlos 20 von diesen Pillen nehmen’, aber sie sind dann zwei Wochen lang nicht davon runtergekommen. Sie sind wie in einer Scheinwelt rumgelaufen. Es wurde eine Zeit lang sehr, sehr gefährlich.“

Danach haben Wissenschaftler der Dundee University angefangen, Blutproben von Leichen auf Phenazepam zu testen. Über einen Zeitraum von sechs Monaten wurde das Medikament in neun Toten festgestellt. Jeder der Verstorbenen hatte eine Vergangenheit von Drogenmissbrauch mit härteren Drogen wie Heroin. Aber das ist nicht unbedingt überraschend; die Qualität von Heroin variiert, weil es illegal ist. Um dem entgegenzuwirken, haben Abhängige schon lange ihre Mangelerscheinungen mit Alkohol und Beruhigungsmitteln kompensiert. Jeder der Abhängigen, mit denen ich gesprochen habe, berichtete von der Zeit, zu der Valium und andere Drogen reichlich verfügbar, preiswert oder auch verschrieben und deswegen umsonst war. Während die NHS den Bestand senkte, mussten einige als Alternative drastische Maßnahmen ergreifen.

Weil wir nicht regelmäßig auf Phenazepam testen, ist es schwierig abzuschätzen, welche Rolle es bei Fällen von Rauschgiftüberdosen oder beim Fälschen von Valium spielt, aber wir können sicher sein, dass bei der Menge an Valium, die über das Internet verkauft wird, nicht alles echt ist. Online-Apotheken beliefern Großbritannien gern, aber Käufer laufen dabei Gefahr, abgezockt zu werden. Diese Pillen könnten gefährliche Beruhigungsmittel oder faule Placebos sein.

Fotos: Harrison Reid