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Popkultur

'I was an Underground Zabbadoing' und die quälenden Liebesfilme des Carl Andersen

Guter Shit, harter Sex und viel trashige Vampir-Liebe: Ein Freund erinnert sich an den Underground-Filmer Carl Andersen.

Im Sommer des Jahres 1994 hieß meine Videothek Nr. 1 Andromeda und war etwas abseits in der Neulerchenfelderstrasse am Johann-Nepumuk-Berger-Platz zuhause. Martin Schoendeling hatte eine erlesene Auswahl an obskuren und abseitigen Filmen, die man nur bei ihm uncut ausborgen konnte, um das eigene Wohnzimmer via Videorekorder-Schnittstelle mit giftiger und ungesunder Filmkost zu befüllen.

Zu dieser Zeit gab es noch einen regulären Kinobetrieb im Filmhaus Stöbergasse, gelegen im 5. Wiener Gemeindebezirk. Die Filmreihe der Saison hieß "Those incredible Strange Films" und versammelte Streifen wie Bloody Orgy oft he She-Devils von Ted V. Mikels oder Multiple Maniacs von John Waters (und der schönsten weil hoffentlich einzigen Rosenkranz-in-Arsch-Sequenz der Filmgeschichte).

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Foto via Tilsiter Lichtspiele

Dabei stieß ich im Programmheft auf einen Film, der mich vor allem durch die in Schwarzweiß gehaltene Abbildung eines Mannes mit Sonnenbrillen, dem die Kehle mit einem Rasiermesser durchgeschnitten wird, in seinen Bann zog.

Dunkles Blut floss an seinem Hals herab: Mondo Weirdo—a Trip to Paranoia Paradise war von 1989 und praktischerweise stammte der Regisseur auch noch aus Wien. Nachdem ich auch noch herausgefunden hatte, dass Martin Schoendeling den Filmemacher kannte, musste ich mich den Zufallsverkettungen einfach beugen und dem Zelluloidexzess hingeben.

Foto via Tilsiter Lichtspiele

Was sich mir auf der Leinwand präsentierte, war den Augenausflug auf jeden Fall wert: Der Film war eine einzige sexuelle Alptraumfantasie mit einer feinen Trauma-Mischung aus Roman Polanski und Jess Franco—schwarzweiß und auf körnigem 16mm Film gedreht, mit stampfendem Industrial-EBM-Sound unterlegt, der einem durch alle Körperteile fuhr. Kurz zur Synopsis: Eine junge Frau namens Odile macht ihre ersten sexuellen Erfahrungen und gerät dabei an zwei Frauen, die eine gewisse Blutgräfin (und eigentliche Dracula-Vorbild) namens Elizabeth Báthory verehren. Traum und Realität werden zu einer beklemmenden Melange aus Hardcore-Sex und blutigen Todesfantasien verrührt. Ich war überwältigt angesichts dieser Bilder. Nach der Vorstellung scharrten sich einige der Besucher um einen  großen hageren Mann, der langes lockiges Haar hatte und verantwortlich für diese morbid- erotische Reise ins Unterbewusste war. Sein Name war Carl Andersen. Vom formellen „Sie" haben wir gleich nach seiner anfänglichen Aufforderung zum „Du" verabschiedet und den Rest des Abends in einer angenehmen Menschentraube seiner Wiener Freunde verbracht.

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Beim Pizza essen wartete ich „wie ein Hund" (O-Ton Andersen) auf übriggebliebene Stücke, da ich ohne Bargeld unterwegs war. Genächtigt wurde bei einer guten Freundin namens Barbara in einer Wohnung in der Sobieskigasse, die sich kurz darauf als Drehort zu I was a Teenage Zabbadoing entpuppen sollte. Da ich ebenfalls als Filmemacher im Underground tätig war, pflegten wir in Folge einen regen Austausch, während dem wir uns gegenseitig beeinflussten. Andersen lebte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Wien und war  wegen seiner von ihm programmierten Filmreihe und eben Mondo Weirdo nach Wien gereist.

Foto via Critic.de

Gut ein Jahr später sah ich in der Stöbergasse dann endlich auch seinen I was a Teenage Zabbadoing von 1987 im Double Feature mit seinem dritten Werk Killing Mom (BRD, 1994). Zabbadoing kann wohl im besten Sinne als richtiger Szenefilm beschrieben werden, der in und um die FUN FACTORY spielte—ein Ort mit billigem Bier und musikalischer Subkultur für die nach Alternativen suchende junge Generation Mitte der 80er Jahre. Und darin: Ein selbst gezimmertes Holzregal mit jeder Menge Videos, die damals nur schwer erhältlich waren. Filme vom Splatterpabst Herschell Gordon Lewis bis zum Trashgott Al Adamson wurden hier einem interessierten Publikum kredenzt; die gesammelten Werke eines Jess Franco und Jean Rollin, die Andersens frühe Filme stark beeinflussten, durften natürlich auch nicht fehlen.

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Im Keller gab es eine Bühne, auf denen Musiker und Bands wie Platzgumer und Fetish 69 sich austobten, bis die Polizei dem Spaß ein bürokratisch ernstes Ende machte. Ganz wichtig war der 16-Millimeter-Projektor, durch dem jeden Samstag Trash und manchmal sogar anspruchsvolles Kino lief. Dort tummelten sich unter anderem heute bekannte Namen wie Stefan Grissemann, Reinhard Jud, Alexander Horwath, Chrono Popp, Paul Poet oder Alexander Ungerböck, um nur einige der am feschesten klingenden zu nennen. Zabbadoing war der Film, der die Meute an einem Ort und die wildesten Weirdo-Sequenzen von Wien in sich versammelt hat: Blut- und Sexgeile Vampire, Hardcore-Pornoszenen mit den ersten „Gothics" von Wien und oben drauf der gefeierte Rockstar Ronnie Urini machten darin die Gegend um den Bezirk Währing für das gesunde Volksempfinden unsicher.

Film als hemmungsloses Happening und als hemmungsloser Lebensstil. Die Sauferei war schon damals bei ihm ausgebrochen und wird Carl bis zum Schluss begleiten. Andersens bürgerlicher Name war Karl Brazda, von dem er sich aber zu diesem Zeitpunkt verabschiedete und von seinen Freunden nur mehr „Caro" genannt wurde. Im Film scheint der Liebhaber von B-Movies als Caro Björnson auf, was  ihm die Bezeichnung „Caro B" einbrachte. Caro war in Wien zuerst für eine Finanzberatungsfirma tätig und arbeitete später als Filmkritiker und Filmprogrammierer. Als Verkörperung der Umtriebigkeit tobte er sich in allen dubiosen Spielstätten Wiens—wie dem Schikander, Filmcasino oder bei den Breitenseer Lichtspielen, in denen er sich mit seinem umfangreichen Wissen und seiner Leidenschaft besonders hervortat—aus.

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Foto via Tilsiter Lichtspiele

Trotzdem wollte—und musste—Andersen seine Heimatstadt aus diversen Gründen verlassen und zog 1989 in den Osten von Berlin. Dort entstand in Zusammenarbeit mit dem queeren Filmer Lothar Lambert (Die Alptraumfrau, Berlin Harlem) seine erste filmische Arbeit in Deutschland. Killing Mom den ich in der Stöbergasse zum ersten Mal sah, war für Andersen ein schrilles und ungewöhnliches Pubertätsdrama mit tödlichem Ausgang. Paul Poet bezeichnete Carl in diesem Zusammenhang als „den Fassbinder mit der angeschissenen Unterhose".  Carl kam allerdings ab Mitte der 90er-Jahre immer seltener nach Wien und ich wurde ab dem Sommer 1996 in seiner Wahlheimat Berlin zum gern gesehenen Besucher. Anfänglich war er noch in sozial benachteiligten Lochbezirken wie Lichtenberg daheim, um später im Bezirk Weissensee nahe dem Prenzlauer Berg endlich sein gewünschtes Domizil zu finden. Hier steht auch am Caligariplatz—der früheren Heimat der Studios, in denen der expressionistische Stummfilmklassiker gedreht wurde—das Kulturzentrum namens Brotfabrik, in dessen Kino Carl seine Filme präsentierte.

Einen letzten filmischen Ausflug nach Wien bescherte ihm der erst kürzlich so tragisch verstorbene Michael Glawogger (Workingman's Death, Whore's Glory, Contact High) mit dem Episodenfilm Kino im Kopf (1995). Mit dem Segment „Vampirellas in Ketten" durfte er erneut seine Vorliebe für blutgeile Vampirfrauen ausleben. Sein viertes Werk Titty Twist in Hell—Orphea & Euridyke in Love (1996) geriet dann zu einem totalen Desaster. Schlecht geführte Darsteller, grottige Kameraführung, ein über alle Maßen billiges Videoformat und jede Menge Kunstnebel ließen diesen verhauten Versuch eines abartigen Märchens gnadenlos scheitern.

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Vielleicht auch ein Grund, warum sich Carl zu dieser Zeit die Haare abschnitt und nie mehr lange wachsen ließ. 1997 fuhr ich gemeinsam mit dem exzellenten österreichischen Schauspieler Erwin Leder (Angst, Underworld, Das Boot, Die toten Fische) nach Berlin, um an der Fortsetzung von Mondo Weirdo mitzuarbeiten. Vom Luxus der Liebe (1998) wurde ein perfider Höhepunkt, wenn auch ganz anders als Mondo Weirdo, und die letzte schauspielerische Zusammenarbeit mit Jessica F. Manera. Gedreht wurde hauptsächlich in Carls Wohnung, besprochen wurde der nächste Tag im nahegelegenen Beisl der Geierwally (heute nur mehr Brotfabrik). Die ohnehin schon herausfordernden Umstände wurden noch mal einen Tick interessanter, als eine Darstellerin mitten im Dreh die Stadt verließ und Carl sein Talent zur Notfallimprovisation beweisen musste.

Foto via Tilsiter Lichtspiele

Die Zeit danach war von seiner erneuten Kritikertätigkeit fürs Fernsehen geprägt, was mich in den oft zweifelhaften Genuss so mancher „Fernseh-Schnullis" (O-Ton Andersen—gemeint sind TV-Schnulzen) brachte; anschließend half ich ihm mit dem Rohmaterial seiner nächsten, dokumentarischen Arbeit, wobei ich meine Krankheit zu der Zeit mit Orangensaft und gutem Shit gesund kurierte. Die Sehnsucht nach dem Meer (2000) erzählt von Carl selbst, der sich in eine junge Frau verliebt, die aber eigentlich mit einem gleichaltrigen Burschen zusammen ist. Das Werk ist Realismus pur in schwarz weiß, wurde auf Video gedreht und handelt viel vom Kiffen und Philosophieren über den guten schwarzen Afghanen. Im Sommer darauf holte mich Carl nach Berlin, um nun zum ersten Mal in einem seiner Filme mitzuspielen. Das bedeutete: Sex vor laufender Kamera, kalt und unpersönlich. Ich sagte ja und es war ein großer Spaß! Es wurde noch einiges mehr an Material gedreht, das allerdings erst in einem seiner letzten Filme den Weg in die Öffentlichkeit fand. Andersens Märchen von der Liebe (2001) wurde ein erstaunlich guter Film, der mehrere fiktive und reale Pärchen über ihre Beziehungen reden ließ. Dazwischen ich und die junge Frau, die für diese kaputten Seelen den eiskalten Bumstango gaben.

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Auf der Suche nach einer neuen, etwas anderen For, kontaktierte er für seinen nächsten Film die „ausgezuckte" polnische Performance Künstlerin Malga Kubiak. Das Resultat wurde Lick an apple like a pussy (2002), der den feinen Untertitel „the movie Stanislawski never made" trägt. Kubiak spielt darin eine obsessive Regisseurin, die in einer Waldhütte ein Filmprojekt mit zahlreichen Nackt- und Sexszenen realisieren möchte. Natürlich machen  die Darsteller jede Menge Troubles—und wir sind bei Carls hauseigener Psychohygiene gelandet. Ein Meisterwerk über die Schwierigkeiten des Underground-Filmemachens mit unvergesslichen Momenten.

2007 wurde Andersen eine letzte große Ehrung zu teil. Die Brotfabrik lud in Kooperation mit den Tilsiter Lichtspielen zu 50 JAHRE ANDERGROUND—DIE SELTSAMEN FILME DES CARL ANDERSEN, also einer umfassenden Retrospektive seiner Filmo- und Biografie ein. Zu seiner Enttäuschung waren die Vorstellungen nur sehr spärlich besucht und der vom Leben geplagte Undergroundfilmer rang immer verzweifelter nach seiner längst verdienten Anerkennung. Der nächste Tiefschlag kam im selben Jahr, als er seinen Job im Negative Land verlor. Den rauen Charme vertrug nicht jeder, der sich für Filme interessierte. Manche sahen ihn von der Straße aus und machten einen weiten Bogen um den großen Österreicher mit der tiefen Stimme.

Foto via Tip Berlin

Von da an begann sein stetiger Verfall. Seiner lebenswichtigen Aufgabe entkleidet, suchte er mit neuen Filmprojekten einen Ausweg aus seiner immer wachsenden Depression. Doch dieses Vorhaben gestaltete sich zunehmend schwieriger, da sein ungesunder Lebensstil unerbittlich an ihm nagte. Er schlug sich inzwischen als Sozialhilfeempfänger durch. Die Beziehung zu seiner Freundin ging in die Brüche, entwickelte sich aber glücklicherweise zu einer bis zu seinem frühen Tod währenden Freundschaft. Seine letzten Filme fanden nur mehr sehr wenig Publikum. Selbst Claus Löser von der Brotfabrik konnte mit den Andersen-Filmen der letzten Jahre nichts mehr anfangen. Nur bei den Tilsiter Lichtspielen wurde er noch gespielt. Auf den gespenstisch selbstbezogenen The Ratman and his Muses (2011) folgte der in zwei Episoden unterteilte Neugierde (2011).

Sein wohl interessantes Werk wurde leider nie vollendet. Mit Katja Bienert drehte er eine autobiografische Geschichte rund um einen alkoholkranken Regisseur, der in einer verwahrlosten Wohnung haust. Im gleichen Jahr entstand noch eine Rohfassung seines letzten Films Treibsand (2012), der sein letztes filmisches Werk darstellt. Unterernährt und von schwersten Depressionen geplagt nahm sich Carl Andersen im 54. Lebensjahr am 3. August 2012 das Leben. Auf seinem Küchentisch wurde ein Abschiedsbrief gefunden. Nur sein Hund war bei ihm, als er seine letzte Reise antrat. Der illegale Verkauf seiner Filme im Internet, die er sich vom Mund abgespart hat, sowie die kompromisslose Selbstausbeutung haben Andersen in diese Sackgasse getrieben. Er wurde am Boden vor seinem Computer aufgefunden, an dem er—wie könnte es anders sein—einen Film in Arbeit hatte. Vergleiche zu anderen cineastischen Genies wie Rainer Werner Fassbinder drängen sich auf. Ich war natürlich tief erschüttert, wollte es nicht wahrhaben. Ein guter Freund war von mir gegangen. Leider hatte ich durch einen Konflikt mit Carl in seinen letzten Lebensjahren keinen Kontakt mehr zu ihm.

Damit seine Arbeit nicht verschwindet, gründeten Erwin Leder und Anneliese Holles im Oktober 2012 den „Verein zur Wahrung und Erhaltung des Werks von Carl Andersen" in  Berlin. Der renommierte Autor, Filmregisseur und VICE-Hausfreund Paul Poet widmete ihm bei der Diagonale 2013 in der Reihe Austrian Pulp einen ganzen Abend. Und die Renaissance des Carl Andersen ist damit noch nicht vorbei. Auch heuer wird sich eine umfangreichen Werkschau seinem Gedenken (und Neuaufleben) widmen. Seit einiger Zeit arbeite ich außerdem mit meinem Kollegen Gerald Jindra an einer Dokumentation über Andersens abenteuerliche Lebensgeschichte, die von einem Statement des in Berlin lebenden Autors Hartmut Mechtel getrieben wird, der über Andersens Werk recht pragmatisch sagte: „Glück ist nur eine Illusion und Sex nur scheinbar ein Weg zum Glück". Das ist nicht so geschliffen wie Goethe, aber die Wahrheit. So wie auch Carls Gesamtwerk selbst.