FYI.

This story is over 5 years old.

News

Vodka vs. Vivaldi

Freudig berichtete der Regionalteil der Kronen Zeitung am 11.10.: "Stadtrat beschallt das Billa-Eck". Klingt obskur? Ist lustig. Versprochen.

Freudig berichtete der Regionalteil der Kronen Zeitung am 11.10.: "Stadtrat beschallt das Billa-Eck". Klingt obskur? Ist lustig. Versprochen. Und an den geschilderten Sachverhalten hat sich inzwischen noch nichts geändert. Aber der Reihe nach:

Das "Billa-Eck" ist jener Winkel am Grazer Hauptplatz, auf den sich die "zwielichtige[n] Gestalten" (Krone) zurückgezogen haben—Junkies, Alkies und sonstige Nutzer des öffentlichen Raums, die nicht "ins Bild" passen—seit sie von den einladenden Stufen des nahen Erzherzog-Johann-Brunnens regelmäßig vertrieben werden. Come to think of it: Sie werden eigentlich von überall in der Innenstadt regelmäßig vertrieben, der neuen "Alkoholverbotszone" und dem "Wegweisungsrecht" sei Dank, die in Graz zur Zeit gelten. Und so stehen sie frierend am Eingang eines kleinen Ecksupermarktes rum, im Strom der Passanten, und als solcher fragt man sich schon gelegentlich, ob ihnen nicht vielleicht auch mal ein weniger ungemütlicher Platz zum öffentlichen Zwielichtigsein einfällt. So klein ist Graz ja auch nicht. Irgendwo werden sich hoffentlich ein paar Bänke finden lassen, von denen man sie nicht verscheucht … Das Billa-Eck hat aber noch ein weiteres Alleinstellungsmerkmal in Graz, über die hohe Streetworker-Klientel-Dichte hinaus: Es ist das Eck, auf das Stadtrat Mario Eustacchio (FPÖ, zuständig für Sicherheitsfragen, Altersheime und Verkehr) von seinem Bürofenster aus blickt.

Anzeige

Fotos von J.J.Kucek

Der Sicherheitsstadtrat und die Adressaten seiner Bemühungen also: A match made in … äh … heaven. Fast möchte man dem Mann vergönnen, am Fenster zu stehen und, einer Kreuzung aus Gordon Gekko und Batman gleich, mit grimmiger Freude die Früchte seiner bisherigen Arbeit zu betrachten: Das ganze Gesindl schön übersichtlich an einem Platz! Aber nein: Selbstlos stellt er die Bedürfnisse von Gotham City Graz über das eigene Ego. Oder halt, was er für die Bedürfnisse von Graz halten muss. Die Krone beschreibt sein Vorgehen wie folgt: "[Eustacchio] beschallt nun das Billa-Eck von seinem Rathaus-Büro aus mit klassischer Musik. Das Ziel: Wie in anderen europäischen Städten sollen Vivaldi & Co. die zwielichtigen Billa-Eck-Gestalten so richtig nerven."

Nun fragen wir uns verdutzt: Warum sollen Heroin und Händel, sollen Mephedron und Mozart einander so zwingend widersprechen? Was der freundliche Pressesprecher des Herrn Stadtrats mich wissen lässt, als ich spontan vorbeischaue, klingt jedenfalls gleich ganz anders und lässt mich damit entweder an der Grundehrlichkeit des FPÖ-Personals zweifeln, oder an den journalistischen Standards der Kronen Zeitung (beides Grundpfeiler meines stabilen Weltbildes):

Es ginge ja gar nicht darum, so Herr Brandl aus dem Büro Eustacchio die Leutchen da unten vor dem Fenster zu vertreiben. Vielmehr würden die klassischen Klänge "bessere Gemütszustände evozieren" und, insbesondere zur Mittagszeit, wenn es besonders "zuginge", "deeskalierend wirken". Man wolle ja, Zitat, "niemanden vertreiben aus der Stadt". Man denke zum Beispiel über die Einrichtung einer "selbstverwalteten Soziothek" als Treffpunkt für "diese Leute" nach (ein entsprechender Antrag fand im Gemeinderat leider keine Mehrheit).

Anzeige

Eine Nachfrage bei den per Vivaldi zu besänftigenden Angehörigen der "Straßenszene" (Zitat aus dem FP-Antrag zur Soziothek) ergibt: Zumindest zweien der Jungs am Eck gefällt die Musik sogar. Die anderen ignorieren das Gedudel ebenso gekonnt wie den lästigen Typen von VICE mit seinen blöden Fragen.

Alles eitel Wonne also? Entspanntes Nebeneinander von zwei Parallelgesellschaften—FPÖ und "Straßenszene"—mitten auf dem Grazer Hauptplatz? Geht es also gar nicht darum, mit Stacheldrahtzaun gewordenen Kulturgütern Territorialansprüche zu markieren ("Wessen Stadt—unsere Stadt!")? Geht es gar nicht darum, zu unterstellen,  wer da vor dem Billa gestrandet sei, habe eben "keine Kultur" (wozu dann Richard Schuberth das Eine oder Andere zu sagen hätte)? Oder ist das alles doch ein hämischer PR-Gag des "Sheriffs" Eustacchio? An dieser Frage wird sich dann auch die Behauptung messen lassen, dass die FPÖ "niemanden vertreiben will"…

Übrigens: Es mag in diesem Zusammenhang der Hinweis nützlich sein, woher das Gerücht kommt, Obdachlose und sonstige "Straßenleute" würden keinen Vivaldi mögen: Als die Deutsche Bahn 2002 begann, in ihren Bahnhöfen "Klassik" vom Endlosband laufen zu lassen, stockte sie auch ihr Sicherheitspersonal deutlich auf und setzte neue, strengere Regeln gegen Obdachlose durch, die sich in ihren Liegenschaften aufhielten.

Mehr zum Thema:

Die Wissenschaft sagt: schließt die Foren von Standard und Krone

In der Grellen Forelle haben FPÖ-Wähler keinen Platz

Die Steiermark ist das neue Kärnten