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Vice Blog

Unsere Volontärin antwortet auf die gängigsten Klischees zur VICE-Redaktion

Hier "arbeiten" ausschließlich verdrogte Hipster, die den ganzen Tag zu Sex und Cannabis "recherchieren" und dafür nicht mal bezahlt werden. Oder so.
Foto von der Autorin

Ich hatte vor Beginn meines Volontariats keine Ahnung von der VICE-Redaktion. Versuche, mir mit Hilfe meiner begrenzten Vorstellungskraft ein Bild zu machen, waren ziemlich sinnlos und meistens kam nicht mehr dabei heraus, als der von Taylor Swift besungene "Blank Space", nur ohne Namen drin—nicht mal dafür hat meine Fantasie gereicht.

Ich wäre also ziemlich aufgeschmissen gewesen, wenn mir mein Umfeld nicht geholfen hätte, die weiße Seite in meinem Kopf mit Inhalt zu füllen. Ein guter Freund von mir meinte zum Beispiel, dass bei VICE sicher nur "kiffende Rastafaris" arbeiten. OK, dieser Freund hat auch eine Vorliebe für Slipper mit Quasten, war früher mal bei der JVP und könnte auch ohne Drehbuch bei Eine himmlische Familie mitspielen, aber ihr wisst, worauf ich hinaus will: VICE, das sind die Wilden (und für manche ist "wild" eben auch 2016 noch "Rasta"). Ein anderer hatte die Vorstellung, dass die gesamte Redaktion aus einem einzigen Typ besteht, der alle Artikel, die man ihm schickt, sofort veröffentlicht, weil er ständig verzweifelt auf der Suche nach Content ist. Und das sind nur zwei von vielen unterschiedlich absurden Beispielen.

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Bis zu meinem ersten Arbeitstag war meine weiße Seite daher verschwunden und durch etwas ersetzt worden, das aussah, als hätten Jackson Pollock und Pablo Picasso gemeinsam ein Kind gezeugt. Auf einem Stück Leinwand.

Was definitiv nicht dazu geführt hat, dass ich entspannter war. Es war eher so, als würde ich eine Blackbox betreten, in der irgendwie alles passieren konnte. Würde ich mir mit einer Gruppe eingerauchter Rastas einen Joint teilen, begleitet von Bob Marleys "Three Little Birds"? Oder würde ich vielleicht doch alleine mit einem einzelnen Nerd in einem Büro sitzen und die beklemmende Stille mit peinlichen Anekdoten füllen? Ich wusste es nicht.

Jetzt, wo mein Volontariat bald vorbei ist, finde ich, dass es an der Zeit ist, mit den gängigsten VICE-Mythen aufzuräumen. Ich habe die schönsten für euch gesammelt und kommentiert. Viel Spaß beim Betreten der Blackbox.

Mythos 1: VICE hat keine Angestellten, die Artikel kommen alle von motivierten Freiwilligen

Gerade niemand motiviert gewesen | Foto von der Autorin

Motiviert sind die Redakteure auf jeden Fall, zumindest an allen Tagen abseits von Montag und Freitag. Ich hoffe außerdem stark, dass sie auch freiwillig dort sind und nicht vom Chefredakteur durch einen geheimen Ring dazu gezwungen werden, der die Fähigkeit hat, sie alle zu knechten und zu binden. (Andererseits: Der Praktikantin sagt man halt auch nicht alles.)

Auf jeden Fall gibt es tatsächlich Menschen, die dort arbeiten. Ich habe sie gesehen, mehrmals sogar, groben Schätzung nach in etwa fünfmal pro Woche, acht Stunden am Tag. Das Magazin wird also nicht von einem einzelnen Typ geführt, der redigiert, die Homepage betreut, selber schreibt und gleichzeitig alle Social-Media-Kanäle managet.

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Motivierte Freiwillige, die Artikel einsenden, gibt es natürlich trotzdem. Das weiß ich aus sicherer Quelle, weil ich ja selbst eine von denen war. Dass keineswegs alle davon veröffentlicht werden (und wenn, dann nicht unredigiert), weiß ich leider genauso aus erster Hand.

Mythos 2: Bei VICE arbeiten lauter Hipster

Die obligatorischen Birkenstocks | Foto von der Autorin

Hip sind sie ja schon irgendwie. Aber diese Hipness äußert sich vor allem in ihrer Individualität und ihrer ausgeprägten Vorliebe für die Farbe Schwarz. Urbane Neo-Lumberjacks mit Hirsch-Tattoos oder schlaksige Typen mit reduzierter, einfarbiger schwedischer Designerkleidung und hochgekrempelten Jeans wird man hier genauso wenig finden wie Frauen, die aufgrund ihrer Outfits von hinten so aussehen, als wären sie 80. Gut, man entdeckt das eine oder andere Paar Birkenstocks, aber die sind halt wirklich sehr bequem.

Auch der Musikgeschmack der Redaktion ist, ehrlich gesagt, eher so semi-hipp. VICE-Leser, die dem Hipster-Mythos aufsitzen, könnten unter Umständen glauben, dass die ganze Zeit Frank Ocean oder Kaytranada durch die Redaktion schallt. Ehrlich gesagt wird aber viel öfter Taylor Swift oder Beyoncé gehört. Und falls du eine schlechte Meinung über Rihanna hast: Behalte sie lieber für dich.

Mythos 3: Die sind sicher die ganze Zeit auf Drogen

Symbolfoto (Es hatte natürlich niemand Drogen dabei): Dimitris Kalogeropoylos | Flickr | CC 2.0

Das habe ich auch gehofft. Meine Drogenvergangenheit ist zwar so ziemlich das langweiligste, was man sich vorstellen kann—und ich habe keine Ambitionen, sie spannender zu machen—, aber die Vorstellung, unter lauter Druffies zu arbeiten, die in Gedanken irgendwo anders sind, hätte mir irgendwie gefallen.

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Die Realität sieht allerdings ziemlich anders und relativ normal aus. Hin und wieder kommt jemand verkatert und mit Augenringen, die selbst Augenringe haben, in die Arbeit. Vor allem dann, wenn unter der Woche irgendein Konzert (Rihanna) war. Ansonsten werden Drogen nur außerhalb der Redaktion oder nach Redaktionsschluss konsumiert. Und man legt Wert darauf, dass Meth und junge Modedrogen durch die Bank scheiße sind. Da ist man streng.

Mythos 4: Die haben kein richtiges Büro, sondern arbeiten in einem Hinterzimmer

Die Magazinwand | Foto von der Autorin

In der Fantasie mancher von mir befragter Menschen ist die Redaktion in einem kleinen Zimmer angesiedelt, das von Rauschschwaden völlig vernebelt ist und außer einem Tisch und ein paar Stühlen nicht viel beinhaltet. Idealerweise ist das Ganze eigentlich eine Privatwohnung, die günstig an die VICE-Leute zwischenvermietet wird, weil hier gerade jemand herausgestorben ist und an der Wand hängen alte Polaroids von nackten Menschen, während im Eck halb vertrocknete Pflanzen und ironisch gemeinte ausgestopfte Murmeltiere stehen.

Auch hier kann ich inzwischen sagen: Erstens habe ich mir das genauso vorgestellt, zweitens ist es absolut nicht so und drittens hat es anscheinend tatsächlich mal genau so einen Redaktionsraum gegeben, aber das ist inzwischen zirka 2 gecrashte FM4-Weihnachtsfeiern her. Deshalb war ich auch ziemlich eingeschüchtert, als ich das erste Mal im Büro war. Statt eines Studentenzimmers hat mich ein Empfangsraum mit riesigem Flatscreen, einer Magazin-Wand und Couches erwartet.

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Mythos 5: Es arbeiten nur junge Leute dort

Die Mitarbeiter sind so jung, sie trinken aus Hanftassen und gehen aufs MELT | Foto von der Autorin

Was jung ist und was nicht, ist ja zuallererst mal Definitionssache. Das merke ich immer, wenn ich in meiner eingebildeten Jugendlichkeit auf 13-Jährige zugehe, die mich sofort ehrfurchtsvoll siezen, während ich irgendwas von "YOLO" rede und dabei in entsetzte Gesichter schaue.

Wenn man den Begriff Alter allerdings großzügiger definiert, als pubertierende Drittklässler und das Ende der Jugend nicht mit dem Abklingen der Akne gleichsetzt, muss man diesen Mythos wohl zur Tatsache erklären, denn die Redaktion ist durchschnittlich so jung, wie eine Staffel Lost lang.

(Für diejenigen, die Lost nie gesehen haben: 1. Wie könnt ihr nur? und 2. 25, sie sind in etwa alle 25.)

Mythos 6: Es wird nicht (ordentlich) recherchiert

Eine Mitarbeiterin bei der (nachgestellten) Recherche | Foto von der Autorin

Dass dieser Mythos mit der Realität nicht wirklich vereinbar ist, merkt man spätestens dann, wenn man seinen ersten Artikel abgegeben hat und plötzlich eine halbstündige Debatte mit dem Chefredakteur darüber führt, ob die verwendeten Informationen seriös sind, der Artikel wirklich genügend Quellenangaben zu allen wesentlichen Behauptungen beinhaltet ("Mehr Links, Hannah! Mehr Links!!") und man das Wort "scheinbar" hoffentlich nicht im Sinne von "anscheinend" verwendet hat. Da schmeckt der Kaffee dann ein bisschen bitter.

Noch bitterer, und auch kälter, wird er übrigens nur dann, wenn man ihn To-Go trinken muss, weil man sich auf einer Öffi-Fahrt ins Nirgendwo befindet, um Interviews zu führen. Dass VICE eigentlich ziemlich viele Recherchen macht, seht ihr zum Beispiel hier, hier, hier oder hier. Oder auch hier. Oder hier, hier und hier.

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Mythos 7: Berichtet wird vor allem über Sex und Drogen, mit Clickbait- Headlines wie "Was ihr jetzt gleich lest, wird euch umhauen."

Screenshot via VICE Alps

Wie die Tagespresse schon so schön gesagt hat: Artikel im Stile von "Ich habe auf LSD meinen Hamster anal befriedigt, und es war nicht so toll wie es klingt" gibt es durchaus bei VICE. Also, fast. Nur haben sie das Ganze am Christkindlmarkt gemacht und der Hamster war ein kleiner Plüschhund, der—gottseidank oder leider—nicht vom Autor anal befriedigt, dafür aber abgebusselt wurde. Es gibt auch durchaus Artikel über Sex, wie den hier oder diesen. Aber am Tag, an dem ich das hier schreibe, ist auf der Startseite von VICE Alps genau ein Artikel erschienen, der "Sex" im Titel hat—und darin geht es um sexuelle Belästigung.

Auch redaktionseigene Drogen-Selbstversuche hat es das letzte Mal gegeben, als Tote-Bags gerade der "neueste Shit" waren. Und obwohl sie alle das Wassermelonen-Live-Video von BuzzFeed lieben und ich mir sicher bin, dass sie heimlich heftig.de lesen, wurden alle Clickbait-Versuche meinerseits immer abgelehnt, begleitet von kollektiven Kopfschütteln und schamgesenkten Blicken. Ich glaube, die Chefredaktion war nie so kurz davor, wieder LSD zu nehmen, wie in diesen Momenten.

Wer also denkt er wird hier dafür bezahlt, am Wochenende auf Drogen einen Dreier mit einem Pferd und einen Pornostar am Praterstern zu haben, um am nächsten Tag restfett vom Bett aus irgendwas mit "Punkt Drei wird euch schockieren" zu schreiben, sollte sich lieber nicht bewerben.

Glaubt mir, ich warte noch immer auf meinen bezahlten Rausch.