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Ein Exhibitionist erzählt uns, warum er nicht aufhören kann, Menschen zu belästigen

Der Gründer der einzigen Exhibitionisten-Selbsthilfegruppe Deutschlands findet seine Lust wichtiger als euer Recht darauf, nicht belästigt zu werden.
Das ist nicht unser Gesprächspartner. Foto: eric molina | Flickr | CC BY 2.0

Meine erste und einzige Erfahrung mit exhibitionistischem Verhalten ist schon einige Jahre her: Es gab dieses Gerücht, dass sich in den Wäldern um unseren Reitstall ab und zu ein nackter Mann herumtreiben soll. Ich habe mir darüber nie großartig Gedanken gemacht, bis ich den Besagten beinahe über den Haufen geritten hätte. Er stand hinter einer Wegbiegung an einen Baum gelehnt und masturbierte. Erschrocken ergriffen mein Pony und ich die Flucht. Obwohl eigentlich nichts passiert ist, musste ich noch ziemlich lange darüber nachdenken, was diesen Kerl wohl antreiben mochte, sich im Februar nackt in den Wald zu stellen.

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Die entsprechende Gesetzesgrundlage für exhibitionistische Handlungen und Erregung öffentlichen Ärgernisses in Österreich lautet so:

Wer eine Person durch eine geschlechtliche Handlung
1. an ihr oder
2. vor ihr unter Umständen, unter denen dies geeignet ist, berechtigtes Ärgernis zu erregen, belästigt, ist, wenn die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung mit strengerer Strafe bedroht ist, mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.
(2) Ebenso ist zu bestrafen, wer öffentlich und unter Umständen, unter denen sein Verhalten geeignet ist, durch unmittelbare Wahrnehmung berechtigtes Ärgernis zu erregen, eine geschlechtliche Handlung vornimmt.
(3) Im Falle des Abs. 1 ist der Täter nur mit Ermächtigung der belästigten Person zu verfolgen.

Im deutschen Paragrafen wird das Geschlecht der Person noch genauer benannt: „Ein Mann (sic!), der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft." Für Alfred Esser stellt dieser Paragraf allerdings den Dreh- und Angelpunkt seiner Verteidigung des Exhibitionismus dar.

Laut des Gründers und Leiters der einzigen Selbsthilfegruppe für Exhibitionisten in Deutschland hätten schließlich ebenso viele Frauen exhibitionistische Neigungen, nur dass es bei ihnen eben nicht so stark auffalle, da ein tiefer Ausschnitt manchmal schon reiche, um das Bedürfnis nach Zeigen im Alltag zu befriedigen. Dass sich über ein paar nackte Brüste wahrscheinlich die wenigsten beschweren würden, mag sein, ändert aber nichts an der Tatsache, dass es durchaus traumatisierend wirken könne, von einem Exhibitionisten belästigt zu werden.

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Dass Exhibitionisten weniger daran interessiert sind, Frauen aktiv Schaden zuzufügen, sondern vielmehr zu Gunsten der eigenen Lust in Kauf nehmen, Frauen und Kinder zu traumatisieren, belegt eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Hannover. Die besagt, dass die Rückfallquoten von Exhibitionisten im Vergleich zu anderen Sexualstraftätern extrem hoch ist, Exhibitionismus aber dennoch nicht als Einstiegsdelikt für eine kriminelle Karriere gesehen werden können, da die Folgetaten in einem Großteil der Fälle ebenfalls „nur" aus Nichtkontakt-Delikten bestehen.

Natürlich ist es trotzdem ein ziemlich uncooler Move, sein Gemächt irgendwelchen Passanten ungefragt zu präsentieren. Her Esser kann angeblich nicht anders. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, was es bedeutet, süchtig nach dem Zeigen zu sein.

Foto: Kai Schreiber | Flickr | CC BY-SA 2.0

VICE: Wann haben Sie sich zum ersten Mal vor jemandem entblößt?
Alfred Esser: Mit ungefähr 15 Jahren habe ich das erste Mal meine Hose vor einer erwachsenen Frau heruntergelassen. Es war ein berauschendes Gefühl, vor allem weil sie weder erschrocken noch verängstigt oder angeekelt war. Warum ich das tue, können weder ich noch „sogenannte Experten" plausibel erklären. Vermutlich spielen Gene, Hormone, Erziehung und frühkindliche sexuelle Erfahrungen eine Rolle.

Warum reicht es Ihnen nicht, einfach an den FKK-Strand zu gehen? Was ist der Kick daran, Menschen, die sehr wahrscheinlich keine Lust auf diesen Anblick haben, seine Genitalien zu zeigen?
Vieles ist bis heute nicht abschließend geklärt: Wieso der Verstand teilweise aussetzt, man bis zu einem gewissen Grad die Kontrolle verliert, einfach berauscht und machtlos gegenüber den eigenen Gefühlen ist. Genauso ist es, wenn ich den Kick des Exhibitionisten beschreiben soll. Es läuft etwas im Gehirn ab, dem bestimmt irgendeine chemische Reaktion zu Grunde liegt, die aber noch nicht vollständig erforscht ist. Anders oder genauer kann ich es leider nicht erklären.

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Wie nehmen Sie diejenigen wahr, die zum Opfer der exhibitionistischen Aktivität werden? Können Sie sich auch in die Lage ihres Gegenübers einfühlen?
Wenn ich mich vor einer Frau schamlos zeigte, die es nicht sehen wollte oder verängstigt war, fühlte ich mich unwohl, denn es war auf keinen Fall meine Absicht, sie zu erschrecken oder sie zu verängstigen. Zudem hat die Betrachterin die Möglichkeit, die Zeigeaktion zu ignorieren, wegzuschauen. Zum Glück gibt es auch Frauen, die dem Gegenüber nicht negativ eingestellt sind—sei es, dass es ihnen gefällt, oder sie einfach über das Phänomen der Zeigelust sachlich und objektiv aufgeklärt sind. Solche Gegenüber sind ein Segen für jeden, der gerne zeigt.

Auch wenn eine Frau wegguckt, haben Sie sie alleine dadurch ja schon gezwungen, sich mit Ihrer Nacktheit auseinanderzusetzen. Ich kann mir vorstellen, dass das für viele Frauen keine tolle Vorstellung ist. Sind Sie schon mal wegen Ihrer Neigung in Konflikt mit dem Gesetz geraten?
Wenn ich von über 20 Verurteilungen spreche, so übertreibe ich keinesfalls. Und ich bin mit Sicherheit auch nicht stolz darauf. Von den Prozesskosten der vielen Anklagen, die zum Glück nach zähen Verhandlungen allesamt zur Bewährung ausgesprochen wurden, hätte ich mir einen neuen Porsche plus eine Weltreise kaufen können.

Viele Frauen haben vor allem Angst, dass es nicht nur beim Entblößen bleibt, sondern noch Schlimmeres passieren könnte. Was sagen Sie zu diesen Ängsten?
Hier möchte ich aus einer Studie der KrimZ (Anm. der Redaktion: Kriminologische Zentralstelle e.V.) in Wiesbaden zitieren, die besagt, dass Exhibitionisten in der Kriminologie als monotrope Täter angesehen werden, die nicht zur Gewalttätigkeit und erst recht nicht zu sexuellen Gewaltdelikten neigen. Exhibitionieren ist demnach kein typisches Einstiegsdelikt in spätere, sexuell motivierte Gewaltkriminalität, sondern ein für sich stehendes Thema in Bereich des Sexualstrafrechts.

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Und da kommt ins Spiel, dass Exhibitionismus in unserer Gesellschaft leider noch immer ein Tabuthema ist und durch mangelnde Aufklärung dramatisiert wird. Gäbe es eine Instanz, die sich um objektive und fundierte Aufklärung zur zwanghaften Zeigelust kümmern würde, könnte man einiges an unnötiger Angst und Panikmache verhindern.

Das mag für die meisten eine tatsächlich beruhigende Information sein. Daran, dass man sich belästigt fühlt, ändert es wohl trotzdem wenig. Wussten Ihre bisherigen Partnerinnen von Ihrer Vorliebe? Wenn ja, konnten diese Sie darin irgendwie unterstützen?
Ja, meine Frau hat Kenntnis von meiner Neigung, meiner sexuellen Präferenz, und ohne sie könnte ich mich nicht so intensiv diesem brisanten Thema widmen.

Haben Sie schon mal erlebt, dass jemand positiv reagiert hat? Wenn ja, macht das den Kick kaputt?
Hier liegt der Hund begraben: Der große Irrtum, der Exhibitionisten fälschlich als Motiv angelastet wird, ist, dass sie erschrecken oder ekeln wollen oder gar gewalttätig sind. Genau das wollen und sind sie in der Regel nicht. Ein wohlwollender, neugieriger Blick ist der Wunschtraum der Schausteller.

Sie waren schon einmal in Therapie. Mit welchem Ansatz wurde dort versucht, Ihnen zu helfen?
Über Therapien könnte ich ein Buch schreiben. Seriöse Psychologen oder Therapeuten bestätigen jedenfalls die Ansicht, dass Exhibitionismus wie Homosexualität fest in der Psyche eines Menschen, egal ob Mann oder Frau, verankert sein kann. Wohl kann man lernen, gesellschaftsverträglicher damit umzugehen. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich die Verantwortlichen und die Gesellschaft ernsthaft damit auseinander setzen—also nicht nur kriminalisieren, sondern wie oben bereits gesagt, Aufklärung und Enttabuisierung.

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Foto: Karoly Czifra | Flickr | CC BY-SA 2.0

Sie sehen also eher diejenigen, die sich durch sie belästigt fühlen, in der Pflicht, mit Ihrer Neigung zurechtzukommen, als ihre Neigung in den Griff zu bekommen. Haben Sie deshalb eine Selbsthilfegruppe für Exhibitionisten gegründet? Was sind Ihre Ziele?
Die größte Angst der Betroffenen ist die Gefahr, dass ihre Verwandten und Bekannten davon erfahren oder sie ihren Arbeitsplatz verlieren und somit in soziales Elend abstürzen. Bei meinen vielen Therapien musste ich lernen, dass Psychologen auch nicht allwissend sind beziehungsweise nicht alles erklären können und es trotz aller Gespräche noch viele Ungereimtheiten gibt. Ich wollte für mich selbst weiter forschen und dachte mir, dafür spreche ich am besten persönlich mit möglichst vielen Betroffenen. Aufgabe und Ziel war und ist es, Betroffenen die Möglichkeit zu geben, frei und offen über die in der Gesellschaft als kriminell angesehene Neigung zu sprechen. Durch den Erfahrungsaustausch versuchen wir, genauere Kenntnis über das noch weitgehend unerforschte Phänomen der zwanghaften Zeigelust zu bekommen. Auf Wunsch und Bedarf empfehlen wir kompetenten Rechtsbeistand und Therapiemöglichkeiten. Eine weitere Aufgabe der Gruppe besteht darin, die Öffentlichkeit über die Problematik des Exhibitionismus aufzuklären und gegen den nicht mehr zeitgemäßen Paragraphen 183 anzugehen—denn er verstößt gegen die Gleichstellung von Mann und Frau und die Verhältnismäßigkeit der Strafe zur Handlung ist oft zu drakonisch und willkürlich.

Können Sie nachvollziehen, dass der Schutz desjenigen, der nicht belästigt werden möchte, allgemein über dem desjenigen steht, der sich sein Bedürfnis erfüllen will?
Das ist alles gut und richtig, doch gibt es Dinge in unserem Leben, auf die wir keinen Einfluss haben, die wir einfach nicht kontrollieren können. Ich habe vor einiger Zeit eine Bibelstelle gefunden, die diese Frage vielleicht besser beantwortet, als ich es könnte: In einem Brief des Paulus an die Römer heißt es:
„(…) Ich stimme nämlich dem Gesetz (des) Gottes dem inneren Menschen nach freudig zu, sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern dem Gesetz meiner Vernunft widerstreiten und mich gefangen nehmen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. (…)" Und diese Erkenntnis des Paulus trifft sicherlich mehr oder weniger auf jeden Menschen zu, nicht nur auf uns Exhibitionisten.

Solltet ihr von einem Exhibitionisten belästigt werden, solltet ihr trotzdem—auch wenn die meisten Exhibitionisten es eher beim Entblößen belassen—möglichst schnell das Weite suchen und die Polizei informieren.


Foto: eric molina | Flickr | CC BY 2.0