Wir haben einen OSZE-Wahlbeobachter gefragt, was Österreich von "Bananenrepubliken" unterscheidet

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Die längste Wahl der Welt

Wir haben einen OSZE-Wahlbeobachter gefragt, was Österreich von "Bananenrepubliken" unterscheidet

Nach der Aufhebung der Bundespräsidentenwahl wurde Österreich oft als "Bananenrepublik" bezeichnet. Zu Recht?

Fotos: Christoph Schattleitner, VICE Media.

Für viele ist die Aufhebung der Bundespräsidentenwahl der letzte Beweis, dass Österreich zur "Bananenrepublik" verkommen ist. Schlampereien bei einer Wahl waren "bisher in Bananenrepubliken üblich, nicht in Österreich", sagte etwa Ursula Stenzel von der FPÖ. Interessant dabei ist, dass diese Tiefstapelei aber auch die Eliten erreicht hat. Sowohl Innenminister als auch Vizekanzler bezeichnen die Aufhebung als "Blamage", der Bundeskanzler fürchtet gar, dass der internationale Ruf des Landes dadurch ruiniert werden könnte.

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Ist der österreichische Schlendrian im weltweiten Vergleich wirklich so schlimm? Stehen wir einer Reihe mit sogenannten "Bananenrepubliken"? Und ist dieser Vergleich nicht vollkommen falsch? Gunther Neumann muss es wissen. Der gebürtige Linzer war nicht nur sieben Jahre lang stellvertretender Direktor der OSZE, sondern hat auch für die EU, die UNO und die OSZE rund 20 Wahlen in "Post-Conflict-Staaten" beobachtet. Im Interview hat er uns die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Österreich und Staaten wie Armenien, Kongo, Sri Lanka, Guatemala, Nicaragua, Peru und der Ukraine erklärt.

VICE: Herr Neumann, viele verstehen die Aufregung um die Wahlaufhebung nicht. In der Theorie klingen Stimmabgabe und Auszählung ziemlich einfach. Was macht Wahlen so kompliziert?
Gunther Neumann: Die Herausforderungen sind vor allem bei jungen Demokratien, die ich beobachtet habe, groß. Nehmen wir zum Beispiel die Demokratische Republik Kongo. Dort gab es bis 2006 kein Zensus, also kein Bevölkerungsverzeichnis. Die Menschen wurden erst durch eine große UNO-Mission registriert, wobei Mitarbeiter mit kleinen Booten und mobilen Druckern etwa die Nebenflüsse des Kongo abfuhren.

Gibt es auch in entwickelteren Staaten Probleme?
Auch dort sind die Herausforderungen beträchtlich—vor allem in der Logistik, Administration und Durchführung. Man muss allerdings beachten, dass die Wahlsysteme und damit deren Probleme sehr unterschiedlich sind. In den rund 200 Ländern dieser Welt gibt es an die 500 teils wechselnde Wahlsysteme.

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"In Ecuador kann man am Ende des Wahlzettels 'Gegen alle!' ankreuzen."

Sie haben viele dieser Wahlordnungen näher kennengelernt. Welche verschiedenen Antworten gibt es auf die Herausforderungen?
Wenn man administrative Belange weglässt, gibt es im Groben zwei Systeme. Nämlich das in Mitteleuropa verbreitete Verhältniswahlrecht, wonach die Sitze im Parlament verhältnismäßig auf die gewählten Abgeordneten verteilt werden. Unterschiedlich ist da oft nur die Sperrklausel, die in Österreich das Erreichen von 4 Prozent der Wählerstimmen voraussetzt. In Israel betrug sie hingegen lange nur 2 Prozent, was dazu führte, dass zu viele Einzelinteressen im Parlament vertreten waren. In der Türkei ist es dagegen umgekehrt. Da braucht eine politische Gruppe 10 Prozent der Stimmen. Das macht man, um bestimmte Parteien, etwa der Kurden, möglichst auszuschließen. Beim Verhältniswahlrecht ist die Mehrheitsfindung nicht immer leicht. Das Mehrheitswahlrecht wie in Großbritannien, Frankreich und den USA, erleichtert hingegen eine Mehrheitsbildung durch ein „The winner takes it all"-Prinzip. Dieses System hat allerdings eine starke Tendenz zu Verzerrungen.

Gibt es nationale Besonderheiten?
Es gibt sehr viele Abwandlungen. ln Sri Lanka wird erster und zweiter Durchgang der Präsidentenwahl in einem veranstaltet („instant run-off"). Der Wähler kann also gleich seine Alternative angeben, falls es der favorisierte Kandidat nicht schafft. Und in Ecuador kann man am Ende des Wahlzettels "Gegen alle!" ankreuzen.

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"Es gibt junge Demokratien, in denen die Beisitzer ihre Aufgaben ernster nehmen als die Kollegen Österreich."

Wo finden besonders saubere und wo besonders dubiose Wahlen statt?
Besonders saubere Wahlen finden schon in Ländern statt, in denen sich Demokratien über lange Zeit etabliert haben. Dubiose Wahlen finden überall dort statt, wo die Zivilgesellschaft nicht gut aufgestellt ist, wo es keine saubere Gewaltentrennung gibt, wo die administrativen Strukturen fehlen und sich dafür korrupte Strukturen durch die Gesellschaft ziehen. Man darf aber nicht vergessen: Saubere Wahlen machen noch keine Demokratie. Es kann auch sein, dass Abgeordnete gekauft sind oder sie ausschließlich Einzelinteressen dienen. Im Iran etwa gibt es zwar Wahlen, aber ein Wächterrat wählt aus, wen die Leute wählen dürfen.

Wie bewerten Sie das österreichische System im internationalen Kontext und die Erkenntnis des VfGH?
Die Strukturen weisen Lücken auf, die durch einen österreichischen Schlendrian entstanden sind. Manche Details der Struktur sind überlegenswert, etwa der Umgang mit den Briefwahlstimmen, aber die Beisitzer sind auch nicht ganz freizusprechen. Immerhin haben sie den Schlendrian einreißen lassen. Da muss ich sagen, dass es manche junge Demokratien gibt, in denen die Beisitzer und Vorsitzenden ihre Aufgaben ernster nehmen—weil es das erste Mal ist, dass sie endlich mitbestimmen dürfen und sie sich verantwortlich fühlen. Im Kongo beispielsweise waren die Wahlen auf lokaler Ebene hervorragend, obwohl es keinen Strom gegeben hat und in der Nacht ausgezählt wurde.

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Ist bei uns die Wertschätzung für demokratische Wahlen verloren gegangen?
Ja, da ist eine gewisse Müdigkeit eingezogen und viele denken sich: "Des mach ma schon irgendwie und des hat eh immer gepasst." Aber das ist nicht nur bei uns so, sondern etwa auch in Großbritannien. Diese Dinge gibt es einfach. Die Administration muss sich immer wieder fragen, was eingerostet ist und was nicht mehr so gut läuft.

Was läuft denn nicht gut? Der VfGH hat neben dem Schlendrian in den Bezirken auch die Weitergabe von Teilergebnissen vor Wahlschluss an Medien kritisiert.
Ja, die Sperrfrist (zeitliche Veröffentlichungssperre für Nachrichten, Anm.) halte ich für durchaus gerechtfertigt. In manchen Ländern dürfen darüber hinaus ein oder zwei Wochen vor den Wahlen keine Umfragen mehr veröffentlicht werden. Das lässt sich gut argumentieren, um opportunistisches Wählen zu verhindern. Ich muss da an das Liberale Forum (LIF) denken, das 2008 nicht in den Nationalrat eingezogen ist. Da haben sehr viele Informierte in Ostösterreich die Teilergebnisse aus Westösterreich zu Ohren bekommen, und deshalb anders gewählt, was dem LIF wertvolle Stimmen gekostet hat. In Zeiten digitaler Medien kennt nun mal fast jeder jemanden, der Zugang zu den Ergebnissen hat.

Sollte das Parteien-Beisitzersystem abgeschafft werden?
Nein. Die Alternative wäre ein System, das dem gerichtlichen Schöffensystem ähnelt. Sprich, Beisitzer aus der Gesellschaft verpflichten. Ich finde das nicht so gut, weil die Parteienvertreter dann draußen sind, obwohl sie ein Interesse an der Wahl haben und deshalb wohl dennoch ihre Vertreter schicken oder Druck auf die Schöffen ausüben würden. Außerdem frage ich mich, ob Schöffen wirklich motiviert sind und tatsächlich die geeignetsten Leute sind. In Ecuador etwa werden die ersten 5 Wähler der Schlange zwangsverpflichtet, wenn sich keine freiwilligen Beisitzer melden. Das führt dazu, dass niemand zur Wahleröffnung im Wahllokal ist sondern sich die Leute vor dem Lokal tummeln und warten, bis sich 5 Personen finden.

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"In Nicaragua stellt die Einheitspartei de facto alle Beisitzer, gibt jedoch an, dass die Beisitzer von anderen Parteien stammen."

Gibt es vergleichbare Länder mit Beisitzersystem, die es besser als Österreich machen?
Das ist davon abhängig, was die Beisitzer dürfen. In guten, transparenten Systemen sind Beisitzer nicht ausschließlich Beobachter, sondern dürfen auch die Wählerlisten kontrollieren, vor Wahleröffnung und bei der Auszählung dabei sein. Das ist meist ein wirklich gut funktionierendes System, weil sich Parteien normalerweise für den Prozess verantwortlich fühlen, sobald sie mit drinnen sitzen. Bei solchen Systemen kommt es fast nie zu Streit, die Ausnahme davon ist die österreichische Bundespräsidentenwahl, wo Beisitzer einer gewissen Partei zuerst bekundet haben, dass alles in Ordnung ist und nachher als Zeugen etwas anderes sagten. So etwas ist nie ganz zu verhindern, aber ein effektives Mittel dagegen wären Schulungen für die Beisitzer, die für die Teilnahme an der Schulung bezahlt werden sollten.

Kennen Sie auch ein schlecht funktionierendes Beisitzer-System?
Da muss ich an Nicaragua denken, das ein ähnliches Beisitzer-System wie Österreich hat. Ich war wirklich entsetzt, was sich dort abspielt. Die Einheitspartei stellt de facto alle Beisitzer, gibt jedoch an, dass die Beisitzer von anderen Parteien stammen. Das äußert sich dann so, dass wir Wahlbeobachter die Beisitzer fragten, für welche Partei sie hier sind und diese es dann nicht wissen oder sich widersprachen. Und bei der Auszählung hatten die anderen Parteien dann keine einzige Stimme, obwohl angeblich mehrere Beisitzer dieser Parteien vor Ort waren.

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"Ich bin davon überzeugt, dass in Österreich nicht in nennenswerter Weise manipuliert wird."

In Österreich werden derzeit auch andere Modelle der Bürgerbeteiligung diskutiert. Sollen Bürger bei der Auszählung dabei sein?
Auf den ersten Blick spricht nichts dagegen. In den meisten Ländern hat sich das aber nicht bewährt, weil oft sehr viele Bürger kamen und die Auszählung der Kommission kommentierten. Ungefähr jeder fünfte Stimmzettel ist leicht kontrovers, weil die Leute oft etwas auf den Wahlzettel schreiben oder das Kreuz seltsam machen. Normalerweise diskutiert die Kommission das mit den Beisitzern. Wenn man das aber dem Publikum in einer Arena eröffnet und alle mitdiskutieren können, weiß ich nicht, ob das gut ist.

Die FPÖ hat auch nach dem VfGH-Erkenntnis anklingen lassen, dass jemand manipulieren hätte können. Wäre das in Österreich überhaupt möglich? Ist unser Rechtssystem dagegen gewappnet?
Wir sind zwar gut gewappet, aber kein Rechtssystem ist gegen alles gewappnet. Ich bin davon überzeugt, dass in Österreich nicht in nennenswerter Weise manipuliert wird. Jeder Ernstzunehmende in diesem Land stimmt dem zu—selbst die FPÖ. Bei den Vorwürfen stehen wohl politische Gründe dahinter, vor allem bei der Forderung, die Briefwahlstimmen abzuschaffen. Sie wissen natürlich, dass diese Wähler mobiler und urbaner sind und tendenziell eher nicht FPÖ wählen. Ich bin jedenfalls dafür, das Briefwahlstimmen-System auszubauen. In manchen Ländern wie der Schweiz wird zu 70 bis 80 Prozent vorab per Brief gewählt. In den USA bieten manche Bundesstaaten wie Oregon oder Washington ausschließlich diese Form der Stimmabgabe.

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Und das funktioniert?
Ja, natürlich funktioniert es. Und natürlich tauchen auch immer Fragen auf, ob das noch dem geheimen Wahlrecht entspricht. Ich halte das aber für ein Misstrauensvotum gegen die Bürger. Vor allem in einer entwickelten Demokratie sollte das Briefwahlsystem kein Problem sein. In jungen Demokratien gibt es hingegen noch viele Einflussmöglichkeiten, Druck und Manipulationsversuche. Da ist eine Briefwahl zweifelhaft.

Wie funktioniert Manipulation überhaupt? Was darf es (nicht) geben, damit sie möglich ist?
Das ist relativ komplex. Zum Beispiel kann ein wichtiger Arbeitgeber in einem Dorf seinen Mitarbeitern zu verstehen geben, was sie zu wählen haben, wenn sie den Job behalten wollen. Das ist aber nur der erste Schritt, weil der Arbeitgeber ja auch das "richtige" Wahlverhalten kontrollieren muss. Bei uns kommt man relativ schwer an einen Wahlzettel, aber das ist leider nicht in allen Ländern so. Der Erpresser könnte etwa dem Erpressten einen ausgefüllten Wahlzettel geben und ihn zwingen, einen leeren aus dem Wahllokal mitzunehmen. Damit wird der „Erfolg" sichergestellt. Das kann man relativ großflächig machen, weil es nicht aufwändig ist; ein einziger Wahlzettel reicht aus. Mit Smartphones geht das heutzutage noch einfacher, weil man einfach ein Beweisfoto machen kann. Deshalb sind in einigen Ländern die Handys im Wahllokal abzugeben. Manipulationen passieren aber auch über falsche Wählerlisten, oder abseits der Wahllokal-Ebene. Das ist jedoch alles fernab vom österreichischen Wahlsystem.

Wegen der Schlampereien und der Wahlaufhebung meinen einige, dass Österreich zur "Bananenrepublik" verkommen ist.
Der Ausdruck "Bananenrepublik" ist nicht nur aus politischer Korrektheit despektierlich. Ich habe beispielsweise in Peru, das ein großer Bananenproduzent ist, die besten und transparentesten Wahlen gesehen. Wahlen funktionieren sehr unterschiedlich und sind nicht nur geografisch festzumachen.

Aber wie bewerten Sie diese Kritik? Bundeskanzler Kern hat auch gemeint, dass eine OSZE-Mission in Österreich blamabel für den internationalen Ruf des Landes wäre.
Nein, das sehe ich überhaupt nicht so. Eine Einladung macht aus Gründen der Fairness und Transparenz Sinn; die USA machen das. Österreich hat 2007 dem seit 1991 international vereinbarten Recht der OSZE, in allen teilnehmenden Staaten Wahlbeobachtungen durchzuführen, zugestimmt. Die Beobachtungen können bis zu 500 Leute umfassen—wie zuletzt in der Ukraine—, oder in Form ganz kleiner Missionen passieren, die es auch schon in Österreich gegeben hat. Eine Mission hat 2010 etwa die intransparente Wahlkampffinanzierung und Parteienförderung kritisiert oder bemerkt, dass mit Briefwahlstimmen nicht hervorragend umgegangen wird.

Zum Schluss habe ich noch eine Frage, die vielleicht nicht ganz dazu passt. Aber ich glaube, Sie haben aufgrund Ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Konfliktforschung und Friedenserhaltung eine interessante Perspektive dazu: Halten Sie das Gerede von einer "gespaltenen Gesellschaft" in Österreich für übertrieben?
Ich würde die derzeitige Situation nicht als Spaltung, sondern als Polarisierung bezeichnen, die leider nicht nur von einer Seite vorangetrieben wird. Beim Thema Spaltung muss ich an ein Dorf in Guatemala denken, das sonst immer zusammengehalten und geschlossen abgestimmt hat. Bei einer Wahl kamen aber so viele Einzelinteressen ins Spiel, dass sich das Dorf zerstritten und gespalten hat. Die Verliererpartei hat danach das Wahllokal abgefackelt. Vielleicht sollten wir in Österreich eher darauf achten, Politik zu machen, die für alle tragfähig ist, statt an den Rändern zu polarisieren.

Christoph auf Twitter: @Schattleitner