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Popkultur

Warum die Videothekenkultur niemals aussterben darf

Wir lieben Streamingdienste und Binge-Watching-Sonntage. Trotzdem gibt es Dinge, die einem nur einer dieser Filmnerd-Horte mit fleckigen DVD-Hüllen geben kann.

Foto: Jason Tester Guerrilla Futures | Flickr | CC BY-ND 2.0

Und schon wieder schließt eine Videothek. Die mittlerweile Dritte in meiner Umgebung in letzter Zeit. Das hat zwar für meine DVD-Sammlung auch immer einen fetten Räumungsverkaufszuwachs bedeutet, aber so richtig konnte das entstandene Loch in meinem Herzen damit nicht gestopft werden.

Nur fürs Protokoll: Ich liebe Filme! Ich habe nicht die Zeit oder das Geld, um mir alles anzusehen, was ins Kino kommt, deswegen suche ich die Filme, die ich mir dann tatsächlich anschauen möchte, umso sorgsamer aus. Wahrscheinlich hat jeder Filmfan seine ganz eigenen Rituale. Mich beschleicht allerdings seit ungefähr zwei Jahren immer mehr das Gefühl, dass ein heißgeliebtes Filmritual einfach den Bach runtergeht. Videotheken sterben aus.

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Schon klar. Kino(x).to und andere Seiten haben eine ganze Industrie so verändert, wie Napster und Spotify das für die Musikindustrie vollzogen haben. Andererseits wird der, der vorher schon gerne für Filme bezahlt hat, es auch jetzt noch tun wollen—und landet somit bei legalen Streamingdiensten. Aber kein Mensch, der regelmäßig in Videotheken geht oder gegangen ist, kann mir erzählen, dass Netflix und Co. auch nur ansatzweise einen Ersatz für einen Filmfan sein können. Warum es so wichtig ist, dass unsere Videothekenkultur nicht ausstirbt? Ich werde es euch verraten.

Die Auswahl

Wobei sie einen auch in den Wahnsinn treiben kann, die Flut an Möglichkeiten.

Mir ist klar, dass es auf dem Markt immer um Angebot und Nachfrage geht, trotzdem beschleicht mich manchmal das Gefühl, dass viele Streamingdienste (und ich meine nicht VoD- oder Online-Videotheken mit Einzelpreisen) mit den überschaubaren Highlights versuchen, den Rest des nicht ganz so spannenden Programms zu kaschieren. Schön die günstigen Lizenzen abgreifen und damit das Portfolio vollmachen. Warum ist das in Videotheken so anders? Nicht nur, dass dort seltener Filme einfach aus dem Programm verschwinden, mir fällt auch selten ein Film (vor allem des Mainstream-Kinos) auf, der nicht rechtzeitig zum Verleih-Start im Regal steht. Die Updates kommen zu meiner Begeisterung häufiger und mit größerer Auswahl—außer natürlich bei den Eigenproduktionen der jeweiligen Streaminganbieter.

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Ein Kind der 90er hat sich für uns Filmklassiker der 90er angesehen.

Die Vollständigkeit ist ein ebensolches Phänomen. Videotheken nehmen meistens ganze Reihen in ihre Regale, falls es sich lohnt. Besonders bei Genre-Filmen ist die Sequel-Mania ja von besonderer Penetranz. Da wird dann auch mal aus einem neurotischen Komplettismus heraus die zwanzigste Halloween-Fortsetzung ins Programm genommen, während ich mich bei der Internetvariante damit rumärgern muss, dass Teil zwei da ist, aber der erste nicht oder nur der erste und der vierte. Sicherlich hat das auch was mit Lizenzen zu tun. Aber ganz ehrlich: Bietet mir entweder die ganze Reihe an oder gar nichts. Ein besonderer Abfuck ist übrigens der Hybrid aus VoD- und Flatrate-Streaming. Wenn mir Teil 3 einer Reihe im Paket, für das ich monatlich bezahle, angeboten wird, aber ich für die anderen zusätzlich nochmal bezahlen soll, platzt mir der Kopf.

Außerdem bekomme ich in der Videothek eine ganze Reihe von Klassikern, die ich bei Streamingdiensten höchstens vereinzelt finde. Wie soll ich mich denn da filmhistorisch bilden, wenn ich Citizen Kane—vielen Expertenmeinungen zufolge einer der besten Filme aller Zeiten—wie verrückt online suchen muss?

Verborgene Schätze

Eine gut sortierte Videothek verfügt über eine ganze Reihe von Genrefilmen und Nischentiteln, von denen noch kein Schwein was gehört hat. Das macht den Besuch ja auch so aufregend: Vielleicht wollte man DIESEN EINEN Streifen ausborgen und ist dabei über eine komplette cineastische Parallelwelt gefallen, weil der verantwortliche Mitarbeiter einen sehr grausamen Filmgeschmack hat. Fight Club war zum Beispiel einer dieser Filme, die erst später so richtig beliebt geworden sind. Im Kino ein Flop aber dann über DVD und VHS zum Kult-Klassiker. Das passiert natürlich primär durch Mundpropaganda und Empfehlungen von Freunden, aber wie soll ein Film über Streaming eigentlich zum Homevideo-Hit werden, wenn die Onlinedienste ihn gar nicht erst ins Programm nehmen, weil seine bisherigen Einspielzahlen einfach nicht vielversprechend genug sind? Falls es in Zukunft keine Videotheken mehr geben sollte, wird ein Film, der im Kino ein Misserfolg war, wahrscheinlich eher selten irgendwo anders landen. Und das ist wirklich schade.

Da sich etwas auszuleihen auch immer eine gewisse Verbindlichkeit mit sich bringt, schaut ihr außerdem auch die Filme zu Ende, die euch in den ersten zehn Minuten vielleicht noch nicht so richtig überzeugt haben. Beim Streaming-Anbieter eures Vertrauens hingegen ist es kein Problem, eine komplette Serie abzubrechen, weil einem das Intro nicht gefällt. Das nächste Angebot ist ja nur ein paar Klicks weit weg.

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Der Service

Da fühlt man sich als Filmfreund noch angenommen. Foto: Mehlauge | Wikimedia | CC BY-SA 3.0

Ich weiß, dass dies das Standardargument von Nostalgikern und verklärten Internet-Hassern, zu denen ich mich nicht zähle, ist—aber manchmal ist es auch einfach so wahr: ein Computeralgorythmus kann einfach keinen Menschen ersetzen. Leute, die in einer Videothek arbeiten, haben meistens Ahnung. Das kann von vornherein so sein oder erst durch ihre Anstellung kommen, aber solltet ihr eine Frage zu einem Film haben oder eine Empfehlung für einen spontanen Abend brauchen: Fragt sie! Diese Schauspielerin, der Regisseur, ähnliches Thema, ähnliche Stimmung—ein echter Mensch starrt euch nicht mit leerem Gesichtsausdruck an und sagt: „Keine Ergebnisse gefunden. Neue Suche?"

Seiten wie IMDB bieten vielleicht jegliche Art von Information zu ungefähr allem, sich durch Online-Datenbanken und Filmforen zu wühlen, ist aber ein bisschen so, wie zu Ikea zu fahren, ohne zu wissen, was man braucht. Nach mehreren Stunden kommt ihr, nervlich und körperlich am Ende, raus, habt wieder nur Duftkerzen und Kötbullar gekauft und seid nicht so richtig glücklich.

Der Mensch hinter der Theke einer Videothek hat eine eigene Historie, eigenes Sehverhalten, einen speziellen Geschmack und eine dementsprechende Film-Biografie. Diese Empfehlungen sind total subjektiv gefärbt und das ist ja das Gute! So bekommt man eben nicht nur ein offenes Ohr, sondern auch eine Welt präsentiert, die man selbst vielleicht gar nicht kennt. Mir fällt beispielsweise kein Streamingdienst ein, der sich auf Asia-Kino spezialisiert, aber der damalige Mitarbeiter beim schummrigen Verleih-Keller um die Ecke, der kannte sich aus. Streamingdienste fragen dich, was deine Lieblingsfilme sind und präsentieren dir dann ähnliche. Danke für nichts!

Der romantische Akt des Filmausleihens

Foto: Yaletown BIA | Flickr | CC BY 2.0

„Lass uns einen Film ausborgen" war ursprünglich eine Aktivität. Eine gemeinsame Unternehmung, die so einiges beinhaltete. Da wurde nicht nur im Vorfeld schon über die Auswahl des Films gestritten, nur um sich dann vor Ort für etwas vollkommen anderes zu entscheiden, sondern auch über ganz andere Themen. Welche Snacks nehmen wir mit? Welchen Alkohol trinken wir? Wie viele Filme wollen wir überhaupt schauen? Allein der Gedanke an den Weg zur Videothek an einem lauen Sommerabend durch die Altstadt lässt mich wie einen alten, verbitterten Mann klingen. Ich kann auch verstehen, wenn Menschen, die keine Videothek in ihrer unmittelbaren Umgebung haben, es ganz gut finden, sich nicht erst noch in die U-Bahn setzen zu müssen, um einen Film auszuborgen. Und ja, an einem verkaterten Sonntagnachmittag ist es ganz schön, das Bett nicht verlassen zu müssen, und trotzdem aus einem umfangreichen Film- und Serienkatalog auswählen zu können.

Aber wenn ihr nicht invalide seid und in schöner Regelmäßigkeit Filmabende mit Freunden abhaltet: Nutzt die Möglichkeit, die eure lokale Videothek euch bietet! Genießt es, euch durch die Auswahl zu wühlen—ganz ohne Scrollen, Buffer-Zeiten und dem stetigen nervösen Seitenblick in die IMDB-App. Haltet diese Kultur noch ein bisschen am Leben! Auch wenn großartige Serien gerade unser aller Abende und Nächte beherrschen und Streamingdienste diesbezüglich der feuchte Traum eines jeden Binge-Watchers sind, bleiben Filme für wahre Liebhaber eine Herzensangelegenheit, die es verdient, richtig zelebriert zu werden. Und wer weiß schon, wie viele Leute ihre Liebe des Lebens vor dem Regal mit den ostasiatischen Sitcoms kennengelernt haben?