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Warum wir viel öfter streiten sollten

Bei einem Konflikt reden wir lieber erst einmal mit Freunden, der Mama oder dem Psychotherapeuten. Warum eigentlich nicht mit der betreffenden Person?

Foto: Hans Splinter | Flickr | CC 2.0

Die schönsten Streitgespräche hatte ich mit einem ehemaligen Freund von mir (das Wort "ehemalig" ist in dem Satz nicht ganz unwichtig). Wir waren besonders gut im Aneinander-vorbei-reden. Das ewige Anbringen der eigenen Standpunkte, bei gleichzeitiger völliger Ignoranz des Anderen, ließ unsere Konversationen zirka so aussehen:

Er: Fick dich.
Ich: [Rationale Argumentation.]
Er: Geh sterben.
Ich: [Noch rationalere Argumentation.]
Er: Ich glaube, du solltest jetzt gehen.

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Es war, als würde jemand mit einem klitzekleinen Hammer auf die immer gleiche Stelle meines Kopfes einschlagen, ähnlich wie experimentelle Foltermethoden; nicht tödlich und ohne großen körperlichen Schaden zu hinterlassen, aber dafür extrem zermürbend. Für ihn hat es sich sicher gleich angefühlt.

Das Beispiel symbolisiert gut, warum wir Konflikten wahrscheinlich oft lieber aus dem Weg gehen. Sie sind einfach unglaublich mühsam. Häufig redet man aneinander vorbei, ohne es zu merken, oder es fehlt einfach das grundlegende Verständnis für den anderen. Wer wiederholt schon gerne zig-mal seinen Standpunkt, um am Ende das Gefühl zu haben, er hätte gerade versucht, Donald Trump davon zu überzeugen, etwas Positives über Mexikaner zu sagen?

Eine Strategie, um das alles zu vermeiden, ist natürlich schweigen—zumindest in meinem Freundes- und Familienkreis weit verbreitet. Einfach mal nicht darüber reden und stattdessen lieber durch kleine, passivaggressive Zeichen kommunizieren. Der Streit wird schon weggehen, irgendwie. Vielleicht macht er ja einen polnischen Abgang, verdunstet und wird plötzlich zu Liebe und gegenseitigem Verständnis. Das passiert nur meistens einfach nicht. Stattdessen baut sich die Wut zu einer Mauer auf, die mit dem Nordwall in Game of Thrones mithalten kann.

Ein Jahr lang war es nicht möglich, mich alleine und ohne den Schutz einer Gruppe mit ihr zu treffen.

So war es zum Beispiel bei einem Streit mit meiner Freundin Kathi vor einigen Jahren, der ziemlich lächerlich und gleichzeitig genauso klassisch war. Eigentlich handelte sich um einen typischen Konflikt: Die beste Freundin hat einen neuen Freund und deshalb plötzlich weniger Zeit. Ich war in dem Fall die mit dem neuen Freund und ja, es stimmt schon, ich bin damals wirklich ein bisschen im Pärchen-Loch versumpft. Dort war es halt schön aufregend und gleichzeitig extrem kuschelig. Und weil wir alle wissen, wie lange so etwas anhält, wollte ich die Situation eben auszunutzen.

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Kathi, die mich zu diesem Zeitpunkt selbst oft für ihren Freund sitzen ließ, hatte dafür eher wenig Verständnis. Sie wollte nicht über ihre Wut reden und ich wollte nicht so tun, als ob nichts wäre.

Ein Jahr lang war es daher nicht möglich, mich alleine und ohne den Schutz einer Gruppe mit ihr zu treffen. Wir waren zu wütend aufeinander. Die Lage gelöst hat irgendwann eine Silvesternacht, die schon emotionsschwanger und sentimental begann, und in der dann im weiteren Verlauf des Abends noch eine Flasche Gin und ein langes, intensives Gespräch dazukam, zu dem ich sie mehr oder weniger zwingen musste. Nach beidseitigen Fehlereingeständnissen, die uns aufgrund des Alkoholspiegels einfacher fielen, versöhnten wir uns wieder. Damit war das Thema für immer erledigt. Hätte man auch früher machen können.

Lest hier, wie es ist ein Leben ohne Alkohol zu führen.

Ein weiterer Grund für die Vermeidung von Streit (der vermutlich auch sie und mich so lange von einer Aussprache abgehalten hat) ist—neben dem vorhandenen Frustrationspotenzial—die genauso existierende Chance, dass man sich und anderen Fehler eingestehen muss. Und dass man vielleicht Dinge über sich selbst zu hören bekommt, die nicht unbedingt angenehm sind. Wer will das schon? Es ist natürlich viel feiner, in seinen Ansichten und Taten bestätigt zu werden, anstatt sie kritisch zu hinterfragen.

Darum rennen wir bei einem Konflikt auch lieber zuerst einmal zu allen Freunden, und hören uns im Idealfall an, dass der Andere völlig im Unrecht ist und man selbst natürlich nichts falsch gemacht hat.

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"He just can't handle how amazing you are."


Aber was nützt uns das? Können wir irgendeine Erkenntnis daraus ziehen? Außer, dass wir klarerweise "amazing" sind? Und wird die Konfliktursache dadurch geklärt und behoben?

Der US-amerikanischer Psychologe Bruce Tuckman erstellte bereits in den 1960ern ein Modell über die Entwicklungsschritte von Arbeitsgruppen in Organisationen. Er war der Ansicht, dass es zuerst eine Konfliktphase gibt (Storming), bevor die Gruppe produktiv wird (Performing). Sein Modell beschreibt den gruppendynamischen Prozess in der Arbeitswelt und kann natürlich nicht 1:1 übernommen werden. Aber wenn man den Gedanken frei interpretiert, sagt er nichts anderes als: Löst euren Scheiß, damit es weitergehen kann.

Klingt logisch. Wie soll es sonst zu einer echten Entwicklung kommen, wenn man immer noch mit Altlasten beschäftigt ist? Den Nordwall erklimmt man auch nicht, indem man einfach vor ihm stehen bleibt—man wird schon irgendwann mal mit dem Klettern beginnen müssen. Hätten Kathi und ich unseren Konflikt nicht ausgetragen, würden wir vermutlich noch heute befangen in einer Gruppe von Menschen nebeneinander sitzen, so tun als wäre nichts und die verlorene Nähe akzeptieren, anstatt unsere lange Freundschaft zu feiern, wie wir es inzwischen machen.

Dann weiß man aber zumindest, dass die Beziehung nicht funktioniert und muss sich nicht mehr Sisyphus-ähnlich mit etwas plagen, das nie besser wird und nie endet.

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Klar, Tuckmans Theorie geht davon aus, dass der Streit irgendwann überwunden wird. Das ist aber bei Weitem nicht immer der Fall. Den Verlauf von Konflikten hat Friedrich Glasl, Ökonom und Organisationsberater, anhand von neun "Eskalationsstufen" beschrieben. Er geht davon aus, dass ein Streit mit der "Verhärtung" der Fronten beginnt und im schlimmsten Fall damit endet, dass beide "gemeinsam in den Abgrund stürzen". Ab diesem Zeitpunkt gibt es laut Glasl kein Zurück, eine Versöhnung ist dann nicht mehr möglich.

So wie bei mir und meinem oben erwähnten—nicht umsonst ehemaligen—Freund. Dann weiß man aber zumindest, dass die Beziehung nicht funktioniert und muss sich nicht mehr Sisyphus-ähnlich mit etwas plagen, das nie besser wird und nie endet.

Broadly: Vor allem Narzissten und Psychopathen wollen mit ihren Ex-Partnern befreundet bleiben.

Das soll nicht bedeuten, dass jeder Streit ausgetragen werden muss, oder dass jeder jedem seine aktuellen Befindlichkeiten zu jedem Zeitpunkt um die Ohren hauen sollte. Kleinigkeiten können verschwiegen und sogar vergessen werden. Sinn macht streiten vor allem dann, wenn der unterschwellige Konflikt die Beziehung zu der jeweiligen Person ernsthaft beeinflusst.

So unangenehm es ist: Einen Streit wirklich direkt zu führen, bringt einen dazu, sich selbst zu hinterfragen, wegzugehen von der Suche nach ständiger Bestätigung der eigenen Ansichten und sich stattdessen anderen Meinungen auszusetzen. Dafür lernt man sich selbst besser kennen und beginnt Dinge zu sehen, die sich sonst im toten Winkel der eigenen Wahrnehmung befinden. Im besten Fall macht uns das zu reflektierten und kritischen Individuen. Wenn man Bestätigung haben will, kann man danach ja noch immer das besonders vorteilhafte Foto vom letzten Strandurlaub auf Instagram posten.