"Es geht um meine Existenz" – Eine Lernende und eine Rentnerin diskutieren die AHV

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"Es geht um meine Existenz" – Eine Lernende und eine Rentnerin diskutieren die AHV

Am 25. September stimmt die Schweiz über eine neue AHV ab. Wir liessen ein halbes Jahrhundert Altersunterschied über die Vorsorge sprechen.

AHV-Einzahlerin Leya und AHV-Bezieherin Anja | Foto von der Autorin

Mit der Abstimmung am 25. September kommt einmal mehr das Thema der Altersvorsorge vor das Volk. Die Initianten der Initiative AHVplus möchten die AHV stärken. Sie sagen, die Pensionskasse sei zu instabil und viele der heutigen Rentner kämen bei stetigen Preiserhöhungen kaum über die Runden. Die Gegner der Vorlage sind hingegen der Meinung, dass das AHV-System bereits jetzt brüchig sei und wir nicht noch mehr Geld in etwas investieren sollten, das zum Scheitern verurteilt sei.

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Jeden Monat geht ein Teil deines Einkommens an die heutigen Rentner. Genau an diejenigen, über die du dich morgens ärgerst, weil sie ihre Seniorenausflüge immer genau auf die Stosszeiten legen und sich in Scharen alle Sitzplätze im Bus beschlagnahmen. Diese Mitfinanzierung kannst du gut oder schlecht finden. Fakt ist, dass die AHV immer noch obligatorisch ist für alle Verdienenden. Diesen Beitrag hat die Seniorengruppe während ihrer Zeit als Arbeitstätige geleistet und die leistest auch du heute, selbst wenn du nicht sicher bist, ob du jemals von dem eingezahlten Geld profitieren wirst. Schliesslich steht die Zukunft der AHV im Moment in den Sternen.

Um herauszufinden, wie es um den Willen zum Solidaritätsbeitrag steht, haben wir uns mit der 18-jährigen Lehrlingstochter Leya und der 68-jährigen Rentnerin Anja zum Mittagessen verabredet und liessen ein halbes Jahrhundert Altersunterschied über die Vorsorge sprechen.

Anja: Was ich von der Initiative denke? Ich habe bis 64 voll gearbeitet und danach bis 66 Jahre 20 Prozent. Jetzt habe ich eine Rente, die knapp reicht. Die Preise werden andauernd erhöht, zum Beispiel die Krankenkasse: Gerade letzte Woche habe ich gelesen, dass die Krankenkassenprämien nächstes Jahr um vier Prozent steigen. In den 80er-Jahren habe ich etwa 80 Franken im Monat gezahlt und jetzt zahle ich etwa 580 Franken. Und die Prämien steigen immer weiter. Dann denke ich mir natürlich: "Ich habe über 40 Jahre gearbeitet und eigentlich dürfte ich von den Jüngeren erwarten, dass sie jetzt auch für mich etwas in die AHV einbezahlen."
Andererseits ist das natürlich schwierig, weil die AHV den Bund enorm viel kostet. Aber wenn ich nur von meiner Situation ausgehe, muss ich fast "Ja" sagen. Es geht schliesslich um meine Existenz.

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Leya: Ja, ich kenne das auch von meiner Grossmutter. Sie kann sich mit der Rente nicht alles selber leisten. Meine Familie gibt ihr monatlich noch 500 Franken dazu, damit sie über die Runden kommt. Sonst würde es für sie einfach nicht reichen. Aber ich finde die Initiative sehr schwierig. Möchte ich als Lehrling mehr zahlen? Weiss ich, ob ich in 40 Jahren überhaupt genug Geld zum Überleben bekomme?

Anja: Das weiss man natürlich nicht. Aber es gab bereits andere Ideen vor der AHVplus. Zum Beispiel schlug der Ständerat vor, dass man die Renten um 70 Franken erhöht. Doch der Vorschlag wurde abgelehnt. Vielleicht hätte das schon etwas geholfen und die Umsetzung wäre nicht so teuer gewesen wie die jetzige Vorlage. Der Bundesrat hat auch die "Altersvorsorge 2020" in Angriff genommen. Was die beinhaltet, wissen wir natürlich nicht. Aber wenn ich bei der kommenden Initiativvorlage Nein sage, dann ist meine Chance quasi vorbei, denn ich weiss nicht, was 2020 wirklich alles drin sein wird.

VICE: Die Minimalrente liegt im Moment bei 1.175 Franken im Monat, während die Maximalrente für eine Einzelperson 2.350 Franken beträgt.

Leya: Was ist denn die Bedingung, ob man mehr oder weniger Rente erhält?

Anja: Wie viel Rente man erhält, ist davon abhängig, wie lange man gearbeitet hat. Und bei dieser Rechnung werden vor allem Frauen vernachlässigt. Sie bekommen vielleicht Kinder und legen eine Arbeitspause ein. Trotzdem ist die Anzahl Jahre, während denen du einbezahlt hast, massgebend dafür, wie viel Rente dir dann später zusteht. Und die AHV-Abgabe ist obligatorisch. Du kannst nicht sagen: "Ich möchte keine AHV bekommen, also zahle ich das nicht." Das geht nicht.

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Wenn ich bei der kommenden Initiative Nein sage, dann ist meine Chance quasi vorbei.

VICE: Gegner der Initiative sagen, sie sehen ein grundsätzliches Problem darin, dass es nun die Babyboomer sind, die ins Rentenalter kommen und es im Moment weniger Erwerbstätige gibt als Rentner, die man finanzieren müsste. Diese Grundsatzproblem der AHV hat die NZZ an einem Beispiel so veranschaulicht, dass früher 100 Erwerbstätige einen Rentner finanziert hätten. Heute ist es sozusagen umgekehrt: Ein Erwerbstätiger müsse 100 Rentner bezahlen, was natürlich nicht aufgeht. Das sei auch der Grund, warum die AHV seit ein paar Jahren rote Zahlen schreibt.

Ein weiteres Argument der Initiativgegner ist, dass 15 Prozent der Rentner Millionäre seien und mit der Vorlage noch mehr Geld bekämen. Zudem sterbe nur ein Viertel ohne Vermögen, während zwei Drittel mit einer Erbschaft rechnen könnten. Ein Viertel der Erbenden mit Summen von 100.000 bis 500.000 Franken.

Anja: Ja, das ist natürlich schon so. Egal ob du Milliardär bist oder zwei Franken im Portemonnaie hast, du bekommst eine Rente aus dem AHV-Fond. Das ist der schwierige Punkt bei der Solidarität der AHV.

VICE: Ein weiterer Kritikpunkt an der Vorlage ist, dass Waisen- und Witwenrenten nicht miteinbezogen wurden. Jetzt, wenn du alles so ein bisschen gehört hast, Leya, wie würdest du jetzt abstimmen?

Leya: Ich finde es wirklich schwierig. Gerade wenn es heisst, dass die AHV in 30 Jahren vielleicht nicht mehr existiert: Für mich macht es nicht viel Sinn, jetzt für etwas Geld abzugeben, wofür ich dann später vielleicht gar nichts zurück erhalte. Und auch wenn ich die jetzigen Rentner wie zum Beispiel meine Grossmutter unterstützen will, bin ich mir nicht sicher, ob meine Grossmutter überhaupt noch lebt, wenn das Ganze in die Gänge kommt. Ich finde es wirklich schwierig, weil man das nicht so vorausplanen kann.

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Anja: Du bist ja wirklich so jung—du bist jetzt 18, oder? Für dich ist es natürlich schwierig, dich mit solchen Fragen herumzuschlagen. Ich verstehe das. Ich habe übrigens erst kürzlich wieder über die Erhöhung des Rentenalters gelesen. Bei den Frauen hat man das Rentenalter ursprünglich auf 62 gesetzt. Als ich in Rente ging, war es auf 64 gestiegen und jetzt will man es für Frauen auf 65 erhöhen. Die Jungparteien sind nun der Meinung, dass das immer noch zu tief sei. Sie wollen das Rentenalter in Zukunft bei 67 oder mehr Jahren ansetzen.

Leya: Es gibt ja heute schon viele, die über das Rentenalter hinaus arbeiten, weil ihnen das Geld aus der AHV nicht zum Leben reicht. Ich weiss trotzdem nicht, wie viel Sinn diese Erhöhung macht. Man weiss ja nicht, wie man sich weiterentwickelt. Wie ist es, wenn ich 67 bin? Vielleicht habe ich dann irgendwelche Leiden, die es mir nicht ermöglichen, so lange erwerbstätig zu sein. Ich finde, die Leute sollten auch noch über ihr eigenes Leben entscheiden können: Wollen sie noch weiter arbeiten oder sich pensionieren lassen? Wollen sie weiter arbeiten, weil das Geld der AHV sowieso nicht ausreichen wird oder möchten sie früher in Rente gehen, weil sie nicht mehr mögen? Beides klingt nicht besonders positiv.

Ich weiss nie genau, welche Seite diejenige ist, die meine Ansichten widerspiegelt.

Anja: Ja, das ist so. Das sind schwierige Zeiten und schwierige Entscheidungen, sehr schwierige. Das Ganze ist so schnelllebig und mit Stress verbunden. Wir haben so viele Leute, die auf Grund des Stresses Probleme haben—Stichwort Burnout.
Oder ein anderer Gedanke, der mir in den Sinn kommt: Wenn du bis 67 arbeiten musst und vielleicht mit 60 Jahren deine Arbeitsstelle verlierst, wer nimmt dich dann noch? Wenn heute schon über 50-Jährige Mühe haben, eine Stelle zu finden.

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Leya: Ich weiss, dass die heutige Jugend gespalten ist. Es gibt die eine Seite, die sich für Zukunftspolitik und Nachhaltigkeit und all das interessiert und auch dafür einstehen will. Aber gerade in meinem Alter kenne ich auch Leute, die finden, dass ihnen die Abstimmungen viel zu kompliziert sind und sie lieber gar nicht darüber nachdenken möchten, bis sie dann so alt sind, dass es sie interessiert. Bis zu einem gewissen Punkt gehöre ich auch zu ihnen. Ich möchte mir momentan noch möglichst viele Sorgen ersparen, damit ich das Leben noch ein wenig geniessen kann.

Anja: Das solltest du auch in deinen jungen Jahren!

Leya: Deswegen finde ich es so schwierig, wenn man von einem 18-Jährigen erwartet, dass man über so etwas abstimmt und sich bereits jetzt entscheiden muss, ob man das möchte oder nicht. Und dann diese Stimmbücher. Ich finde, die sind überhaupt nicht volksnah. Wenn ich so eines durchlese, denke ich: "Komm, ich stimme jetzt einfach gar nicht ab. Ich verstehe ja nichts, wenn ich das lese!" Ich weiss nie genau, welche Seite diejenige ist, die meine Ansichten widerspiegelt. Vor allem wird beim Lesen des Stimmbüchleins auch nicht klar, wem die Initiative überhaupt etwas nützt.

Anja: Du hast absolut recht, das ist wirklich so. Auch für mich reicht dieses Büchlein nicht. Ich fange meistens einen Monat vorher an mich zu informieren. Immer wenn über ein Abstimmungsthema geredet wird, lese ich Zeitungen oder verfolge Diskussionen, zum Beispiel die SRF-Arena. Da schaue ich manchmal gerne zu, wie sie streiten. So kann ich mir eine Meinung dazu machen—oder auch nicht, je nachdem, ob mich das Thema wirklich interessiert. Aber dieses Mal finde ich, dass es sehr viele, sehr wichtige Sachen sind, über die wir abstimmen. Da ist es natürlich ein bisschen deprimierend, wenn man hört, dass nur 30 Prozent der Bevölkerung ihre Stimme abgegeben haben. Darum ist es ja wahnsinnig wichtig, dass wir eben abstimmen gehen, wenn wir eine Meinung über etwas haben!

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Leya: Ja, und die Politiker haben oft das Gefühl, alle seien derselben Meinung. Eigentlich sollte man auch abstimmen, wenn man findet, dass die Vorlage zwar nicht genau das Richtige ist, aber man an dem Thema grundsätzlich weiter arbeiten soll. Einfach, um ein Zeichen zu setzen.

Anja: Ja, es ist trotzdem wichtig, ein Zeichen zu setzen. Was bei der AHV-Abstimmung noch dazu kommt ist, dass das Initiativkomitee argumentiert, dass die AHV ein sehr gutes Preis-Leistungs-Verhältnis habe. Deswegen sei es besser, in die AHV zu investieren. Die zweite Säule, also die Pensionskassengelder, wackeln ja im Moment ebenfalls sehr, weil die Banken Minuszinsen gemacht haben. Daher finde ich, dass es besser wäre, Geld in die AHV zu investieren, anstatt die Pensionskassen noch mehr zu unterstützen. So hätten die Leute zumindest ein wenig etwas. Bei den Banken weiss man ja nie.

Leya: Und meine Generation weiss ja nicht, ob es noch genug Erwerbstätige geben wird, die unser Leben nach der Pensionierung finanzieren werden. In dieser Hinsicht ist es auch schwierig, sich eine Meinung zu dem Thema zu bilden. Ich kann überhaupt nicht sagen: "Ja, ich bin voll von der Sache überzeugt."

Anja: Aber weisst du, was die Lösung wäre, wenn du so denkst? Wir brauchen Kinder!

Leya lacht.

Anja: Ihr müsst einfach ganz viele Kinder machen, dann habt ihr die Generation, die euch unterstützt. Einfach viele Kinder machen! Also wenn du zum Beispiel fünf Kinder hättest …

Leya: … dann könnte jedes mir einfach zehn Franken pro Monat geben, damit ich dann später davon leben kann.

Anja: Ja, aber das ist heutzutage ein Problem, denn man hat ein Kind oder höchstens zwei Kinder und das verursacht all die Probleme.

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