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Geht Deutschland pleite, wenn es die Reparationen an Griechenland bezahlt?

Wir haben einen Experten gefragt, was mit Deutschland passieren würde, wenn wir den Griechen 280 Milliarden Euro bezahlen müssten. Nicht unbedingt das, was wir erwartet hatten.
Titelbild: Reichstag via photopin (license)

Schließlich hat Griechenland es doch geschafft. Etwas mehr als 460 Millionen Euro wird das Land heute an den Internationalen Währungsfonds (IWF) überweisen, eine Rate auf das erste Hilfspaket von 2010. Viele Beobachter hatten offen bezweifelt, dass Griechenland dazu in der Lage sein würde, obwohl der Finanzminister Jannis Varoufakis das immer wieder betont hatte. Dass sie es jetzt doch geschafft haben, dürfte die Verhandlungen um das nächste Rettungspaket für Griechenland etwas entspannen.

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Entspannung haben die Verhandlungen auch bitter nötig: Zuletzt fühlte die griechische Regierung sich so in die Enge getrieben, dass sie einen verzweifelten Trumpf ausspielte: Der Vize-Finanzminister Dimitris Mardas wurde vorgeschickt, um zu erklären, dass Griechenland von Deutschland 278,7 Milliarden Euro in Reparationen für von Nazi-Deutschland in Griechenland verübte Verbrechen forderte. In der Geschichte der großen, fröhlichen Europa-Party ist das genau der Moment, in dem jemand erst den Stecker aus der Anlage zieht und dann für alle sichtbar in den Punsch kackt.

Die Forderung sorgte in Deutschland dann auch für wenig Begeisterung. SPD-Chef Sigmar Gabriel bezeichnete sie als „dumm", der haushaltspolitische Sprecher der Union, Eckhardt Rehberg, erklärte das Thema Reparationen für „politisch und juristisch abgeschlossen", die griechische Forderung nannte er „nicht nachvollziehbar oder irgendwie belastbar".

Seitdem gibt es eine lebhafte Diskussion darüber, ob Deutschland nach 70 Jahren immer noch verpflichtet ist, die Griechen für die Verbrechen der Nazi-Zeit zu entschädigen (hier gibt es übrigens eine gute Aufstellung darüber, aus was sich die Forderung konkret zusammensetzt).

Das Mausoleum von Distomo. In dem griechischen Dorf richteten die Deutschen am 10. Juni 1944 ein Massaker an, dem mehr als 200 Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen. Foto: Distomo mausoleum via photopin(license).

Im Allgemeinen scheinen sich aber alle einig zu sein, dass die Zahl von 280 Milliarden absolut astronomisch ist und Deutschland das natürlich niemals bezahlen könnte. „Dieses Geld hat die Bundesrepublik nicht", hieß es auch in der taz. Wir wollten aber wissen, was eigentlich passieren würde, wenn Deutschland sich entscheiden sollte, das Geld einfach zu bezahlen. Würde die Summe Deutschland in den Ruin treiben? Müssten alle Deutschen eine Nazi-Verbrechen-Sondersteuer auf Produkte mit Deutschlandfahnen zahlen, um das Geld irgendwie wieder reinzukriegen? Sollen sie all ihr Geld abheben und im Blumentopf vergraben? Um diese drängenden Fragen zu beantworten, habe ich Professor Arne Heise von der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Uni Hamburg angerufen. Seine Antwort war, gelinde gesagt, überraschend:

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VICE: Herr Doktor Heise, 280 Milliarden Euro sind auch für Deutschland eine Menge Geld, oder?
Arne Heise: Einfach, um mal die Größenordnung zu sagen: 280 Milliarden, das ist ungefähr die Größenordnung des Bundeshaushaltes im Jahre 2015. Der Bundestag hat da 299 Milliarden beschlossen. Das wäre also eine Verdopplung des Bundeshaushalts.

Wir haben ja in diesem Jahr nach langer, langer Zeit zum ersten Mal wieder eine schwarze Null beschlossen, das heißt, den Ausgaben von fast 300 Milliarden Euro stehen auch fast genau die gleichen Einnahmen gegenüber. Wenn wir jetzt den ganzen Haushalt noch mal oben drauf bekommen, dann hätten wir ein Finanzierungsdefizit von 280 Milliarden. Das würde bedeuten, dass die Netto-Neuverschuldung in diesem Jahr mal eben 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes betragen würde. Das ist einen Größenordnung, die die Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen nicht hat aufnehmen müssen, das wäre historisch einmalig.

Der Staat investiert im Moment öffentlich um die 60 Milliarden. Das ist ungefähr ein Fünftel der verlangten Summe—das ist aber auch viel zu wenig!

Mal angenommen, die deutsche Regierung würde der Forderung der Griechen nachgeben und zusagen, ihnen 280 Milliarden Euro zurückzuzahlen. Wie würde das überhaupt funktionieren? Wo würde das Geld herkommen?
Man müsste sich eben am Finanzmarkt verschulden und über die europäischen Verrechnungskanäle nach Griechenland überweisen. Griechenland hätte dann plötzlich 300 Milliarden an zusätzlichem Geld, was ungefähr ihrem Bruttosozialprodukt entsprechen würde.

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Und würde das alles auf einmal überwiesen werden?
Das wird man ganz sicherlich nicht alles auf einmal realisieren können. Aber der internationale Finanzmarkt ist ja liquide genug, um so was zur Verfügung zu stellen. Wir haben ja zur Zeit eher das Problem, dass wir ganz viele Anlagen suchende Gläubiger haben, aber kaum jemanden, der in die Schuldnerposition treten will. Das Geld aufbringen, wäre also überhaupt nicht das Problem.

Und was hätte das für Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft, wenn sich das Land plötzlich so verschulden würde?
Na ja. Obwohl ich jetzt versucht habe darzustellen, was für außerordentliche Größenordnungen das sind: Das hätte vermutlich überhaupt keine Auswirkungen.

Nein?
Der Schuldenstand, der gegenwärtig in Deutschland bei etwa 80 Prozent liegt, würde eben um etwa 10 Prozentpunkte ansteigen, auf 90 Prozent. Natürlich müsste man darauf Zinsen zahlen, aber die Verzinsung deutscher Staatsschulden ist gegenwärtig minimal—unter einem Prozent. So günstig wie gegenwärtig ist die Bundesregierung noch nie an Geld gekommen. Auch der Zuwachs der Zinslast wäre also absolut aufzufangen. Das hätte also vermutlich wirklich keine großen Auswirkungen. Zumal es ja eine einmalige Zahlung wäre, sehe ich auch nicht, dass die Finanzmärkte darauf groß reagieren würden.

Wow. Man könnte also sagen: Wenn man das überhaupt jemals bezahlen wollte, wäre das wegen der billigen Zinsen genau jetzt eigentlich der beste Zeitpunkt.
Das sowieso, ja. Jede Verschuldung ist gegenwärtig am günstigsten, weil die Zinsen so niedrig sind. Also nochmal: Das sind unvorstellbare Summen, und es wird auch sicher nicht in dieser Form dazu kommen, aber wirklich schädigen würde es die deutsche Volkswirtschaft nicht.

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OK, es würde weder die Wirtschaft schädigen, noch die Finanzmärkte durcheinanderbringen. Könnten Sie sich sonst irgendwelche negativen Auswirkungen vorstellen?
Eigentlich nicht. Viele Anleger würden sich sehr freuen, weil Deutschland als einer der am besten gerankten Staaten im Moment keine neuen Kredite aufnimmt. Das müssten sie dann machen, und die Gläubiger hätten dann wieder die Möglichkeit, ihr Geld einigermaßen sicher anzulegen. Das würde die Finanzmärkte in gewisser Weise also auch entspannen.

Na gut. Würden die 280 Milliarden den Griechen denn wenigstens wirklich helfen?
Ja klar. Griechenland hat gegenwärtig ein Liquiditätsproblem. Also, sie brauchen jetzt kurzfristig Geld, das sie durch Steuereinnahmen nicht generieren. Das Problem wäre dann auf einen Schlag beseitigt. Wenn sie jetzt eine Tranche an den IMF [Internationalen Währungsfond] zurückzahlen müssen, hätten sie eine kleine Schatztruhe, aus der sie das nehmen können. Aber die ist irgendwann auch verfrühstückt.

Sie haben nämlich auch ein Solvenzproblem: Wenn man strukturell, auf lange Sicht, deutlich weniger Einnahmen als Ausgaben hat, ist das natürlich durch eine Einmalzahlung nicht vom Tisch. Das Problem ist strukturell, das wird auch durch so eine Riesensumme nicht beseitigt.

Aber was passiert, wenn andere Länder es den Griechen dann nachmachen und Reparationen für die Nazizeit fordern?
Das ist ja das eigentliche Problem. Deutschland hat ja nicht nur Griechenland überfallen und dort „Schuld" hinterlassen, sondern ganz Europa. Das könnte dann also auch von anderen Staaten kommen—und dann könnte es natürlich auch für Deutschland irgendwann unerträglich werden. Polen und die frühere Sowjetunion zum Beispiel haben natürlich am meisten unter Nazi-Deutschland gelitten. Wenn man dazu eine Rechnung bekäme, das wären unermessliche Summen, die da zusammenkämen.

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Aber wenn man das so hinkriegen könnte, dass das eine Leistung Deutschlands ist, die nicht rechtlich abgesichert ist, aber einem gewissen Wohlwollen entspricht—dann wäre das sicherlich jetzt der beste Zeitpunkt, das zu machen.

Was ist denn Ihre persönliche Einschätzung? Sollte Deutschland das bezahlen?
Ja, ich würde der Regierung empfehlen, jetzt nicht absolut störrisch zu werden und das nicht kategorisch zurückzuweisen. Man sollte ein Zeichen geben, dass man bereit ist, sich um die Forderungen verantwortungsvoll zu kümmern—im Zweifelsfall auch eine neutrale Expertenkommission zu nehmen.

Aber: völlig getrennt von den Finanzproblemen, die Griechenland in der Eurokrise jetzt hat. Damit hat das nichts zu tun. Auch wenn das Griechenland jetzt ein bisschen helfen könnte—noch mal: die haben strukturelle Probleme, da hilft so eine Einmalzahlung nichts. Man sollte da also entgegenkommen, das vom tagespolitischen Geschäft aber völlig trennen.


Titelbild: Reichstag via photopin (license)