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„Wenn du das runter kriegst, ist Parfüm trinken kein Problem mehr“—Ein Abend mit Berlins polnischen Obdachlosen

Warum billiges Parfüm besser schmeckt als CK One, wie einem Ephedrin bei der Minensuche hilft und warum das Leben auf der Straße in Deutschland leichter ist—Geschichten aus dem Weinbergspark.
Bild von einem Obdachlosen

Berlin ist eine Stadt mit vielen Obdachlosen—und immer mehr davon kommen aus Polen. 2013 schätzte eine Sozialarbeiterin, dass täglich 50 bis 60 neue polnische Obdachlose in ihrer Mission auftauchen. Wundere dich also nicht, wenn die Person, die dich auf deinem Berlin-Urlaub um deine Pfandflasche oder etwas Kleingeld bittet, zum Abschied „Dziękuję" statt „Danke" sagt.

Nicht alle Berliner freuen sich über den Zuzug aus dem Osten—in Berlin Mitte haben manche Anwohner regelrecht Angst vor den manchmal lauten polnischen Obdachlosen, und niemand versteht so richtig, warum immer mehr Polen aus dem Nachbarland rüberkommen, um in Berlin obdachlos zu sein.

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Ich wollte herausfinden, was meine Landsleute in die deutsche Hauptstadt zieht—fernab von Heimat, Familie und bekannter Sprache. Schwer zu finden sind sie ja nicht—in einem Park im Berliner Bezirk Mitte hatte ich schon oft eine Gruppe feierwütiger Menschen um die 30 beobachtet. Also habe ich mir einen Sixpack Bier und eine Flasche Wodka geschnappt und mich für einen Abend unter Kuba, Ilona und all die anderen gemischt.

Die Truppe am Samstagnachmittag

„Alter, du hältst hier im Park eine Flasche Bier in der Hand. Kannst du das in Polen? Nein—es sei denn, du willst unbedingt 100 Złoty Strafe zahlen." 1:0 für Kuba. Der Junge ist keine dreißig, lange Dreads, grauer Kapuzenpulli, abgesehen von seinem gewieften Lächeln wirkt er völlig unscheinbar. Wer würde denken, dass er seit vier Jahren trockner Alkoholiker ist, der in seiner Hochphase alles, aber auch wirklich alles getrunken hat. Zum Beispiel „Denaturat". Das ist ein Industrie- und Haushaltsmittel (ca. 92% Alkoholgehalt), mit dem u.a. Lacke entfernt werden können.

Don't drink this at home. Foto: Hiuppo | Wikimedia | CC BY 2.5

Im Grunde ist es nahezu pures Ethanol, vermengt mit chemischen Bitter- und Farbstoffen, damit die Leute es nicht trinken—die Vollprofis trinken es natürlich trotzdem. „Wenn du das runter kriegst, ist Parfüm kein Problem mehr. Ich würde dir aber kein Calvin Klein empfehlen. Diese ganzen teuren Teile schmecken alle nach Seife. Die billigen, wie wir sie früher auf dem Basar von den Russen gekauft haben, mit Kräuterduft, die sind am besten."

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Kuba gehört zu einer größeren Clique aus überwiegend Polen, die regelmäßig hier in einem Park in Berlin Mitte abhängen. Einige von ihnen haben zur Zeit ein Dach über dem Kopf, die meisten nicht. Die Stimmung im Park ist ausgelassen, die Sonne scheint uns durch die Baumkronen ins Gesicht, die Flaschen werden rumgereicht, ich kenne alle erst seit gestern.

Einer von ihnen ist Struna. Ich komme mit ihm ins Gespräch, und es stellt sich raus, der Bursche war im Kosovo, Bosnien und Irak. „Zehnte Panzerbrigade, zehntes mechanisiertes Bataillon, Aufklärungskompanie, wir waren immer an der vorderster Front. Medaillen habe ich bekommen, aber auch eine Kugel in den Arsch." Auf die Frage, wo es am schlimmsten war, erwidert Struna ,Bosnien'. „Kosovo im Winter war auch hart, doch vergleichsweise ruhig; aber in Bosnien, ich sage dir, haben sich Serben, Kroaten und Bosnier gegenseitig vernichtet." Eine Straße voller Minen und kein Weg drum herum: „Ein Einziger ist vorangegangen, meistens derjenige, der am beklopptesten oder high war—man hat uns nämlich mit Ephedrin gefüttert."

Später erzählte mir Struna, wie seine Militärkarriere damit endete, dass er in einer Kneipe im Kosovo die Waffe eines ihm verhassten Offiziers aus dem Halfter riss und zwei Kugeln neben sein Bein feuerte. Als er dann früher als geplant nach Hause kam, sah er, wie seine Verlobte mit einem Anderen bumste. Filmreife Szenen. Er nahm einen Aschenbecher und zog ihn beiden Beteiligten über die Gesichter. Nach ein paar Umwegen landete er in Berlin. Nun ist er hier im Park und trinkt mit mir Wodka. Und wenn du hier Wodka trinkst, gibt es eine Regel: „Wechsel nie die Hand!"

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Zig-Zag und Ilona

Ilona hat zu Beginn die ersten Mischen gemacht, jetzt ist sie dafür verantwortlich, dass alle Nachschub bekommen. Sie ist die Schankmeisterin sozusagen, früher war sie vor allem Ehefrau und Mutter. Und davor hat sie ihren Magister in polnischer Philologie gemacht. Sie wollte arbeiten, vielleicht Karriere machen, der Vater war Chirurg, die Mutter Tierärztin. Dann hat sie ihren Mann kennengelernt, eine Tochter und einen Jungen bekommen und hat ihre Träume durch andere ersetzt. Schließlich kam die Trennung, ein Nervenzusammenbruch und alles, was sie erst mal wollte, war etwas Ruhe und Zeit für sich. „Paul, glaub' mir, ich bin mit der Absicht nach Berlin gekommen, maximal einen oder zwei Tage zu bleiben." Das war 2011. Mittlerweile ist sie vom Glas Sekt zu besonderen Anlässen bei Wodka direkt aus der Flasche angekommen. „Der Prozess ist schleichend. Zuerst genierst du dich eine Kippe vom Boden aufzuheben. Du wartest bis alle Passanten vorbeigegangen sind und keiner zusieht. Genauso mit den Mülleimern, wenn du nach Pfandflaschen oder Essen suchst."

Die Berliner Mission mit ihrer medizinischen Versorgung und den sanitären Anlagen ist für die Gruppe so etwas wie ein Heilsbringer—insbesondere im Gegensatz zu ähnlichen Einrichtungen in Polen. Andrzej erklärt: „In einer polnischen Mission kannst du bestenfalls Suppe bekommen. Die ähnelt aber eher Wasser als Suppe. Und was kriegst du schon in Polen an Sozialleistungen gezahlt? 200 bis 400 Złoty? Das kriegst du hier auf der Straße an einem guten Tagen zusammen."

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Sie sehen meinen skeptischen Blick und klären mich auf. Ilonas Freund Rafał zum Beispiel ist Experte im Metall sammeln. Auch er ist seit 2011 in Berlin und wie Kuba keine dreißig: „Leerstehende Gebäude sind gut, ideal sind Krankenhäuser, die abgerissen oder renoviert werden. Dort gibt es Messing, Kupferkabel, alles. Es gab Tage, da habe ich allein mit Metall 150 Euro gemacht."

Ilona und Rafał

Ein Betrag, dem man bei einem durchschnittlichen Arbeitstag von acht Stunden auch mit Pfandflaschen oder Betteln erreichen kann. Alles klar, nette Summe. Doch noch bevor mein Kopf diese Info vollends verarbeiten kann, kommt der halbnackte „Linki" angesprungen. Stattlicher Kerl, hat einen Mammut und zwei Elefanten auf dem Bauch.

Linki, wa.

Die Idee zum Tattoo kam ihm nach einem Koks- und Pep-Trip. Dabei hörte er in seinem Zimmer das Lied „Militär" von der Punkband Dritte Wahl und machte leider den Fehler, aus dem Fenster zu kucken. Dort standen zwei Elefanten und ein Mammut, die mit ihren Augen Laserstrahlen auf ihn schossen. Am nächsten Tag stellte sich heraus, dass es Straßenlaternen waren. Egal, das Tatoo-Motiv stand. Linki ist Westfale, spricht aber trotzdem sehr passables Polnisch—hat er sich über die Jahre einfach selbst beigebracht.

Während er mir sein zweites Tatoo erklärt (das Kürzel H.W.D.P für Huj w dupe polici, frei übersetzt „Der Polizei den Schwanz in den Arsch"), zieht sich sein Kumpel „Sąsiad" komplett nackt aus. Der Auftrag: Mal so richtig im Teich baden gehen! Linki entscheidet sich im letzten Moment, lieber doch ein Bier zu trinken, aber der polnische Kollege weiß dessen Ausfall mit einer artistischen Einlage gleich doppelt wieder wettzumachen:

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Das Video wurde mittlerweile leider gesperrt, weil Sąsiads freischwingender Penis Youtubes AGB verletzt.

Zwei Rückwärtssalti mit drei Promille? Später noch einen Seemannsköper und ein paar Bahnen schnorcheln? Guter Mann. Langsam verstehe ich, welchen Reiz das Rumhängen im Park hat. Da holen mich Ilona und Andrzej wieder auf den Boden zurück: „Das ist eine Momentaufnahme. Täusche dich nicht, die Straße ist hart. Du kannst mit einer Personen den ganzen Abend lang trinken, und wenn du einschläfst, bringen es einige trotzdem fertig, dir den Rucksack unter dem Kopf zu klauen. Egal, ob Pole oder Deutscher." Während Ilona redet, macht sie eine neue Flasche Wodka auf und kippt die ersten Schlücke auf den Boden. Dann streicht sie mit dem Schuh zweimal über die Pfütze und macht so ein Kreuz: „Für die, die gestorben sind und nicht mehr mit uns trinken können."

Zig-Zag

Ich frage, wie viele von ihnen es nicht gepackt haben. Alleine aus Ilonas Bekanntenkreis sind es sieben. Fast immer ist es der Alkohol in Kombination mit Vitaminmangel, dem Dreck und damit Infektionen. Sie kennt das. Es gab eine Zeit, in der ihr Freunde vor jedem Toilettengang Wasser hinten in den Schritt gießen mussten, damit sie die eitrige Unterhose von der Haut bekam. „Man muss auch mal Pausen vom Trinken nehmen, sonst hält man das nicht lange durch." Kuba ergänzt, das alles sei zwar „theoretisch" richtig, aber so wirklich wird von den meisten hier keiner wirklich nüchtern. Als Alkoholiker braucht man einen gewissen Pegel, um zu funktionieren. Im Laufe des Abends bekommt einer der Jungs, der vorher nur still am Rand saß, einen kleinen epileptischen Anfall. Er verdreht plötzlich die Augen, bis man nur noch das Weiße sehen kann, und fängt an unkontrolliert zu zittern. Vermutlich ist sein Alkoholpegel zu niedrig gewesen. Schnell kippen sie ihm zwei Kurze in den Mund, kurz danach wird wieder gelacht, gefeiert und und „Sto Lat" angestimmt. Ziggi hat nämlich Geburtstag. Jeder hat etwas mitgebracht und alle helfen mit, das Essen vorzubereiten. Herzliche Menschen.

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Das Geburtstagsessen

In einer ruhigen Minute frage ich Ilona, ob sie ihre Kinder nicht vermisst. Natürlich tut sie das. Aber noch schämt sie sich zu sehr, um wieder zurückzukehren. „Ich komme aus einer kleinen Ortschaft, und jeder weiß, dass ich in Mülleimern nach Essen suche und trinke. Vorgestern habe ich mit meiner Tochter telefoniert. Sie sagt: ‚Mama, ich habe mit Oma und den Müllmännern gesprochen, dass sie bei uns den Müll nicht mehr abholen sollen. Dann kannst du wieder zurückkommen und einfach hier suchen.' Ich weiß, noch vermissen die beiden mich, aber irgendwann wird die Zeit kommen, da werden sie nichts mehr von mir wissen wollen."

Ein weiterer Grund zu bleiben ist Rafał. In ihm hat Ilona ihre Liebe gefunden—ein Bereich ihres Lebens, in dem sie bisher ebenfalls nicht viel Glück hatte. Nach ihrem Ehemann hat sie hier in Berlin einen Litauer kennengelernt, der im Alter von nur 24 Jahren starb. Dann war sie noch mit einem Letten zusammen. Er hat sie nicht gut behandelt und wurde—wie sich später rausstellte—von Interpol gesucht. Nun sitzt er zwanzig Jahre wegen zweifacher Körperverletzung mit Todesfolge ab. Eine Frau und ein Mann schuldeten ihm Geld.

Ilona und ich gehen wieder zurück zu den Anderen, stoßen gemeinsam an und verlieren uns in der Menge. Allmählich herrscht Aufbruchstimmung. Die Jungs packen den Müll und die leeren Flaschen in ihre Lidl-Tüten, einige singen, andere verabschieden sie bereits von mir. Doch bevor wir komplett auseinandergehen, nimmt mich Ilona noch mal kurz zur Seite und sagt: „Paul, das sind meine letzten Worte: Ich bin glücklich."