FYI.

This story is over 5 years old.

News

Wie die Lufthansa Erdogan stürzen wollte: die irrsinnigsten Verschwörungstheorien aus der Türkei

Erdoğan und seine Verbündeten weisen sämtliche Anklagepunkte zurück und flüchten sich in Verschwörungstheorien: die Palette der Sündenböcke, die in den irrsinnigen Theorien konstruiert wurde, reicht von der jüdischen Lobby über die NSA bis hin zur...

Lufthansa-Airbus in Ankara, Foto von Babbsack

Am 17. Dezember begannen in der Türkei die größten Korruptionsermittlungen in der Geschichte des Landes. Im Visier der Ermittlungen stehen Minister, Bauunternehmer, reiche Geschäftsleute, Iraner und sogar Personen, die Verbindungen zu al-Qaida haben.

Der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan und seine Regierungspartei AKP stehen am Tiefpunkt ihrer mittlerweile zwölfjährigen Amtszeit. Der Regierung werden Bestechlichkeit und Geldwäscherei vorgeworfen. Außerdem geriet Erdoğan durch die Entlassung mehrerer Minister, Polizisten und Staatsanwälte in die Kritik.

Anzeige

Erdoğan und seine Verbündeten weisen sämtliche Anklagepunkte, von denen viele auf stichfesten Beweisen beruhen, zurück. Stattdessen flüchten sie sich in abenteuerliche Verschwörungstheorien: „Es gibt einen internationalen Einfluss“, sagte der türkische Premierminister und überließ es seinen Verbündeten, die inhaltlichen Leerstellen zu füllen. Die Palette der Sündenböcke, die in den irrsinnigen Theorien konstruiert wurde, reicht von der jüdischen Lobby über die NSA bis hin zur guten alten Lufthansa.

Unterwandert die NSA die Türkei? 

[Die New York Times hatte berichtet](http:// http://www.nytimes.com/2014/01/15/us/nsa-effort-pries-open-computers-not-connected-to-internet.html?_r=1), dass der US-Geheimdienst in weltweit fast 100.000 Computern Überwachungssoftware eingeschleust hat. Könnte es sein, dass auch die Türkei Ziel der amerikanischen Hackerangriffe ist? İbrahim Karagül, der stellvertretende Herausgeber der regierungsfreundlichen Tageszeitung Yeni Şafak, behauptet, die NSA sei in eine große Verschwörung gegen die Türkei verwickelt. „Eine geheime Kraft formt die Türkei um“, schrieb er. „Der Korruptionsskandal ist Teil einer globalen Geheimdienstoperation.“

„Wenn es zu ernsthaften Unstimmigkeiten mit einem anderen Land kommt, gibt es vielerlei Wege für eine Großmacht, bestimmte Botschaften zu senden“, meint Soli Özel, Professor für Internationale Beziehungen an der Kadir Has-Universität in Istanbul. „Dieser Weg zählt nicht unbedingt dazu. Ich glaube nicht, dass die USA an einer Verschwörung gegen die Türkei beteiligt sind. Mit welcher Absicht? Wurde [Erdoğan] am 16. Mai nicht in Pracht und Herrlichkeit vom US-Präsidenten empfangen?“ Ironischerweise waren es einst türkische Ultrasäkularisten, die Erdoğans Machtaufstieg für eine Verschwörung der USA hielten, berichtet Sedat Ergin in der Tageszeitung Hürriyet.

Anzeige

Ehemalige NSA-Station auf dem Teufelsberg, Foto von Jochen Jansen

Die Lufthansa ist schuld

Einer der wichtigsten Berater des türkischen Premiers Erdoğan ist der ehemalige Journalist Yiğit Bulut. Der einstmals überzeugte Nationalist kritisierte Erdoğan erbittert, bis er zu einem seiner größten Unterstützer wurde. Letzten Sommer, als sich die Gezi-Park-Proteste auf dem Höhepunkt befanden, schätzte Erdoğan Buluts Theorien über die eigentlichen Ursachen der Aufstände so sehr, dass er ihn zu seinem Chefberater ernannte. Bulut argumentierte einmal, dass ausländische Kräfte versuchen würden, Erdoğan durch telekinetische und ähnliche Methoden umzubringen.

Außerdem stellte er die These auf, dass Deutschland sich gegen die Türkei verschworen hätte: Hinter den Gezi-Protesten stünde die Lufthansa, die sich, wie er meinte, von Erdoğans Plänen, einen dritten Flughafen in Istanbul zu bauen, bedroht gefühlt habe. Dem geplanten Flughafen soll ein Wald in der Fläche Manhattans weichen und mit dem Internationalen Flughafen in Frankfurt als einem der größten Flughäfen der Welt konkurrieren. Nach den Gezi-Protesten wurde die Theorie zunächst auf Eis gelegt, in Folge des 17. Dezembers kam sie jedoch wieder in Umlauf—die Korruptionsermittlungen richten sich nämlich auch gegen die drei Firmen, die das türkische Flughafenprojekt betreuen.

Fethullah Gülen, Foto von Diyar se

Der islamische Klerus will Erdoğan stürzen 

Anzeige

Durch die Korruptionsermittlungen haben sich in der Türkei neue Allianzen gebildet. Am interessantesten ist, dass die Säkularisten, die einst die größten Gegner von Erdoğan waren, nun einer Meinung mit dem Premier sind—zumindest hinsichtlich Fethullah Gülen, einem islamischen Kleriker, der sich momentan in seinem selbstgewählten Exil Pennsylvania aufhält. Der 75-jährige Gülen ist Vorsitzender eines Netzwerks, das über großen Einfluss auf die türkische Polizei und das Justizsystem verfügt, und war einst ein Verbündeter Erdoğans.

Die Wege der zwei Machthaber trennten sich jedoch, als Erdoğan Privatschulen schließen wollte, die eine wichtige Einkommensquelle für Gülens Bewegung darstellten. Kürzlich bezeichnete Erdoğan Gülens Bewegung als „Gang unter dem Deckmantel der Frömmigkeit“ und plädierte dafür, ihren Einfluss auf den Staat zu tilgen. Seit Beginn der Ermittlungen hat Erdoğan Polizeichefs und Mitglieder des Justizsystems entlassen. Die türkischen Säkularisten haben Gülen schon seit jeher als allgegenwärtige Bedrohung wahrgenommen. Für sie war er ein potenzieller Khomeini, der eines Tages aus dem Exil zurückkehren und die Macht über die Türkei ergreifen könnte.

Arbeitet Gülen für die CIA? 

Erdoğan und seine Verbündeten verweisen immer wieder auf „internationale Kräfte“, die darauf abzielen, die Türkei zu zersetzen. Weiter gefüttert werden derartige Verschwörungstheorien durch die Tatsache, dass Gülen in Pennsylvania lebt, aber auch durch Gerüchte, dass Graham Fuller, ein ehemaliger US-Geheimdienstmitarbeiter, 2001 angeblich ein Empfehlungsschreiben für Gülens Green-Card-Antrag verfasste. Diese Behauptungen wies Fuller in der Vergangenheit zurück.

Anzeige

„Dass das in der Türkei Verdacht erregt hat, ist kaum überraschend. Ebenso wenig dürfte es verwundern, dass Türken, die gegen die islamische Regierung sind, den Schluss gezogen haben, dass die Amerikaner ein seltsames Experiment mit ihrem zwar illiberalen, aber säkularem Land getrieben haben, um ein ,vorbildliches‘ muslimisches Land zu kreieren—gegen den Willen [der Bevölkerung] und auf Kosten der Sicherheit“, schrieb die Türkei-Expertin Claire Berlinski vom American Foreign Policy Council in Washington, D.C, in einer E-Mail. „Auch wenn dies für Amerikaner verrückt klingt, liegt es in unserem Interesse zu verstehen, in welchem Maße dies in der Türkei geglaubt wird—aus Gründen, die nicht so absurd sind, dass wir sie missachten sollten.“

US-Kongress, Foto von Bjoertvedt

Der Kongress und die jüdische Lobby

Erdoğan und seine Verbündeten behaupten, dass die Korruptionsermittlungen ein Resultat der weltweiten (lies: der amerikanischen und israelischen) Unzufriedenheit über den türkischen Handel mit dem Iran seien. Im Fokus steht dabei vor allem die Halkbank. Die staatliche Bank spielte eine Schlüsselrolle bei den verdeckten Gas-für-Gold-Geschäften mit dem Iran.

Die Türkei hatte iranisches Naturgas erworben, konnte das Geld aufgrund der internationalen Sanktionen allerdings nicht einfach überweisen. Also zahlte die Türkei das Geld auf ein Konto bei der Halkbank ein, das daraufhin von einem iranischen Handelspartner abgehoben wurde. Der Handelspartner tauschte das Geld in Gold um und schaffte es über Dubai in den Iran.

Anzeige

Im April 2013 unterschrieben 47 Mitglieder des US-Kongresses einen Brief, in dem sie diese verdeckten Geschäfte mit dem Iran als bedenklich erklärten. Der Brief wurde auch von der AIPAC unterstützt, einer einflussreichen jüdischen Lobby in Washington D.C.

Als die Korruptionsermittlungen begannen, nahmen Erdoğan und seinen Verbündeten den Brief als Beweis dafür, dass sich „internationale Gruppen“ in die Türkei einmischten.

Julian Assange, Marina Harris/Julian Assange

WikiLeaks-Depeschen beweisen die Verschwörung

In einem Bericht in der türkischen Tageszeitung Sabah, die bis vor Kurzem einem Unternehmen gehörte, das von Erdoğans Schwiegersohn geführt wird, wurde behauptet, dass die Verschwörung gegen die Türkei anhand von WikiLeaks-Depeschen bewiesen werden könne. Die Zeitung zitierte zwei Depeschen aus den Jahren 2008 und 2009, die die „Halkbank davor warnten, Verbindungen mit iranischen Finanzinstituten auszuweiten.“ Viele andere WikiLeaks-Depeschen enthüllen außerdem, dass US-Diplomaten die Korruptionsvorwürfe streng überwacht haben. Von den damaligen Botschaftern Ross Wilson und James Jeffrey gab es keine Stellungnahme dazu.

„Die Depeschen von Eric Edelman [dem ehemaligen US-Botschafter in Ankara] aus den Jahren 2004 und 2005 enthalten viele Beobachtungen darüber, wie sich die Korruption in der Türkei ausgebreitet hat“, erinnert Sedat Ergin. „Die Enthüllungen der Edelman-Zeit sind tatsächlich ein reichhaltiges Material, mit dem die derzeitige Korruption erklärt werden kann.“

Der Botschafter ist schon lange weg. Und weil es in Ankara jetzt an Edelmännern zu mangeln scheint, werden wir uns noch auf ein paar unterhaltsame Verschwörungstheorien einstellen können, bevor irgendjemand tatsächlich die Verantwortung für irgendetwas übernimmt.