Wie es ist, sich in China als schwul zu outen

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Wie es ist, sich in China als schwul zu outen

„Mein Sexualkundelehrer erwähnte Homosexualität einmal. Er sagte nichts weiter, als dass es sich dabei um eine psychische Krankheit handeln würde."

Will schmunzelt vor sich hin, während er zusieht, wie der Türsteher seinen Rucksack durchsucht. Will weiß, dass er nur Gleitmittel und Kondome finden wird. Eine dichtgedrängte Menge chinesischer Männer checkt einander in einem Innenhof aus. Der Bass pulsiert aus dem beliebtesten Schwulenclub von Peking. Der Türsteher winkt uns rein und sagt: „Vielleicht erzählt ihr besser keinen westlichen Leuten, was hier drin vor sich geht." Die schweren Messingtüren schwingen zur Seite und der Club verschlingt Will.

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Eine Woche früher und mehr als 1600 Kilometer weiter westlich, in der Provinz Sichuan, hatte ich Will (Name geändert) zum ersten Mal in einer staubigen, hell erleuchteten Schnellstraßenunterführung interviewt. Er war gerade mit dem Tai-Chi-Sparring mit seinem Meister fertig geworden—vor dessen Tür er sich damals 12 Stunden lang ehrerbietig auf dem Boden ausgestreckt hat, bevor er angenommen wurde. Wir drei—Will, sein 60-jähriger, kettenrauchender, beeindruckend gelenkiger Tai-Chi-Lehrer und ich—unterhielten uns über eine Haltung, die heutzutage sehr häufig in China anzutreffen ist: Wertschätzung für das Nebeneinander des Alten und des Neuen, von Tradition und Fortschritt. Der Tai-Chi-Lehrer und ich sahen beide Will an und nickten.

2001, als Will neun war, strich die Chinesische Gesellschaft für Psychiatrie Homosexualität und Bisexualität aus der offiziellen Liste der psychischen Störungen. Hierbei wurden alle sexuellen Orientierungen einschließlich Bisexualität aus dem Verzeichnis der geistigen Krankheiten gestrichen, jedoch nicht Transsexualität.

Heute ist China das zu Hause der vermutlich größten LGBT-Bevölkerung der Welt. Grindr mit seinen 5 Millionen Nutzern weltweit sieht neben der chinesischen Entsprechung Blue mit ihren 15 Millionen Nutzern (12 Millionen davon innerhalb Chinas) ganz schön alt aus. Die Regierung schweigt jedoch zu dem Thema. „Sie befürworten es nicht, aber sie verurteilen uns auch nicht. Es ist frustrierend, aber man kann damit leben", sagt Will.

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Will ist ein 22 Jahre alter Student aus Peking und macht zur Zeit seinen ersten Uniabschluss in Chengdu in der Provinz Sichuan, bekannt als Chinas „Tor zum Westen". Will bezeichnet sich selbst als schwul und hat bereits in Festlandchina und Taiwan an Demonstrationen teilgenommen. Nächstes Jahr wird er an der angesehensten Universität Chinas, Tsinghua, mit seinem Philosophie-Master anfangen.

Mein Sexualkundelehrer erwähnte Homosexualität einmal. Er sagte nichts weiter, als dass es sich dabei um eine psychische Krankheit handeln würde.

Wills Ziel ist es, „das chinesische Denken zu modernisieren", wozu gehört, die Kompatibilität der rigiden chinesischen Dogmen mit neuem Gedankengut zu beweisen. Will ist der Meinung, dass China im Vergleich zur christlichen und islamischen Welt das Potential hat, in punkto gleichgeschlechtlicher Liebe zu den progressivsten Ländern der Welt zu werden, wenn die Aufklärung darüber im Bildungssystem verankert wird.

VICE hat sich mit Will getroffen, um über das Coming-out in der chinesischen Gesellschaft und die Normalisierung von schwulem Sex zu reden.

VICE: Du bist in den 1990ern in China aufgewachsen. Wann ist dir klar geworden, dass du schwul bist? Wann bist du das erste Mal mit dem Konzept der Homosexualität in Berührung gekommen?
Will: Ich war 11, als mir klar wurde, dass es so etwas wie „Homosexualität" gibt. Es wurde oft beiläufig in der Öffentlichkeit, in Filmen und anderen Medien, erwähnt; alle sprachen von '同性恋,' tóng xìng lìan, doch ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Niemand hat mir eine Definition gesagt, also habe ich geraten, indem ich die einzelnen Schriftzeichen angesehen habe.

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Das chinesische Wort für schwul und lesbisch ist ein und dasselbe: '同性恋,' tóng xìng lìan. Das erste Zeichen bedeutet „gleich". Das zweite Zeichen bedeutet in erster Linie „Geschlecht". Allerdings ist die Aussprache exakt dieselbe wie bei dem Schriftzeichen 姓, xìng, was "Familienname" bedeutet. Wenn man in China jemanden kennenlernt, dann ist es höflich, zu fragen, wie ihr xìng lautet. Dabei fragt man also nicht, welches Geschlecht der Mensch hat, sondern „Wie lautet Ihr Familienname?".

Statt also zu verstehen, dass es um „gleich Geschlecht Liebe" geht, dachte ich, die Leute sprechen von „gleich Familienname Liebe", zwischen zwei Menschen mit demselben xìng, demselben Familiennamen. Ich dachte, sie würden daten, weil sie denselben Nachnamen haben. Wir Jungs haben in der Schule Witze gerissen: „Dein Familienname ist Wang. Mein Familienname ist Wang. Wir sind tóng xìng lìan!"

Erst als ich 11 war, stolperte ich über eine Website namens „Freund, Weine Nicht". Die Seite ist inzwischen uralt, aber ich glaube, sie existiert noch. Darauf gibt es viele kleine Geschichten, Romane, Forums, Bilder von Männern. Das Forum beschreibt einen schwulen Lebensstil. Ich habe all das gesehen und gedacht: „Oh—ich bin schon die ganze Zeit schwul und habe es nur nicht gewusst."

Man muss nicht erst die chinesischen Web-Filter überwinden, um auf die Seite zu gehen?
Nein. Jeder kann drauf. Ich kenne viele—sehr, sehr viele—junge und sogar ältere chinesische Männer, die diese Seite oder eine ähnliche gefunden haben und denen dadurch klar geworden ist, dass sie nicht pervers oder gestört sind.

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Was hast du getan, als dir aufgegangen ist, dass du schwul bist?
Ich habe experimentiert. Ich hatte die Information—ich wusste, was ein Blowjob war—aber [mir fehlte die] Bildung bezüglich der emotionalen Seite einer Beziehung. Ich war erst 12. Als Nächstes kam Analsex. Er war zehn Jahre älter als ich. Es war aber einvernehmlich. Tatsächlich habe ich ihn sogar verführt. Heute ist das wahrscheinlich illegal. Wahrscheinlich hätte er das nicht tun sollen. Ich war 13.

Es war nicht gut. Ich war emotional noch nicht reif dafür. Ich hatte kein solides Verständnis der emotionalen Seite von Sex. Ich hatte überhaupt keine sexuelle Aufklärung. Es gab kein Moralisieren bezüglich Sex zwischen Männern, wie bei Männern und Frauen, nichts mit „kein Sex vor der Ehe" oder „beim ersten Mal sollte es um Liebe gehen" und solche Dinge. Wenn man nur die Websites und die Bücher vor sich hat, dann denkt man nicht, dass es sich bei Sex mit einem Mann um ein Tabu handelt oder dass man warten sollte, bis man älter ist, um es auszuprobieren. Es gab keinen Grund, sich vorher viele Gedanken darüber zu machen.

Wie war die sexuelle Aufklärung in der Schule? Haben eure Lehrer und Lehrerinnen Homosexualität erwähnt?
In der Grundschule hatten wir ein Fach, das hieß „Pubertätserziehung". Der Lehrer war unser Schularzt, der auch unser Biologielehrer war. Er führte uns einen Film vor, der Die Welt des menschlichen Körpers hieß. Etwa um diese Zeit erwähnte er Homosexualität einmal. Er sagte nichts weiter, als dass es sich dabei um eine psychische Krankheit handeln würde.

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Wie hast du dich deiner Familie gegenüber geoutet?
Für den durchschnittlichen schwulen Chinesen wird das Schwierigste immer das Coming-out gegenüber den Eltern sein, aber nicht aus denselben Gründen wie bei westlichen Typen. Chinesische Leute legen sehr großen Wert auf 孝道, xìao dào [meist übersetzt als „Respekt gegenüber den Eltern" oder „Kindespflicht"]. Eine ablehnende Haltung gegenüber Homosexualität basiert meist auf 不孝, bù xiào, also dem mangelnden Respekt gegenüber den Eltern, der Nichterfüllung der Kindespflicht.

Das ist konfuzianisches Konzept, nicht wahr? Kannst du erklären, wie Respekt vor den Eltern damit zusammenhängt, eigene Kinder zu bekommen?
Konfuzianismus ist keine Religion im westlichen Sinne. Aber er ist das Fundament der chinesischen Tradition, des moralischen Systems.

Chinas Problem mit Homosexuellen sieht wie folgt aus: Mit dem gleichen Geschlecht Sex haben macht Nachkommen unmöglich. Das mit dem gleichen Geschlecht ist nicht unbedingt schlimm, aber keine Nachkommen haben ist 不孝, bù xiào, nicht respektvoll und gehorsam gegenüber den Eltern. Es gibt eine Zeile aus dem Konfuzianismus, den die meisten Chinesen in ihre Herzen gemeißelt haben, ob bewusst oder gesellschaftlich vermittelt: 不孝有三,无后为大 (Bùxiào yǒusān, wú hòu wéi dà). Es bedeutet: „Es gibt drei Hauptarten, die Kindespflicht zu vernachlässigen, und die Schlimmste ist es, keine Nachkommen zu haben."

Das Problem mit dem Homosexuellsein in China ist also nicht, dass es irgendwie „widernatürlich" oder eine Sünde wäre, wie im Westen. Das Problem ist logistisch: Wie kommt man an einen Sohn.
Genau. Es gibt andere Probleme, was die Familienstruktur angeht, aber den Kern des Ganzen bildet eben diese eine Sache. Im Grunde ist die schlimmste Sünde, die man begehen kann, ein schlechter Sohn zu sein, und die schlimmste Art, wie man diese Sünde begehen kann, ist, indem man kein eigenes Kind bekommt.

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Wie haben deine Eltern auf dein Coming-out reagiert?
Mein Vater hat nichts gesagt, sondern hat sich einfach zurückgelehnt und an die Decke gesehen. Meine Mutter hat gesagt: „Wenn du sicher bist, dann können wir das nur akzeptieren." Drei Tage später hat sich mein Vater mit mir zusammengesetzt, um die wichtigen Details zu besprechen.

Warum ohne deine Mutter?
Das hatte nichts mit ihr zu tun. Es war eine Sache zwischen meinem Vater und mir.

Was für Details habt ihr besprochen?
Ich habe eine ziemlich große Rolle in der Familie. Ich bin der einzige Sohn meines Vaters. Ehrlich gesagt hat er angesichts der Ein-Kind-Politik Glück, überhaupt einen Sohn zu haben. Seine Brüder haben nur Töchter. Der Familienname kann nur durch einen Sohn weitergegeben werden, und das ist meine Pflicht.

Es gibt viele moderne Optionen, an einen Sohn zu kommen, die ein bisschen dem männlich/weiblich Aspekt aus dem Weg gehen. Künstliche Befruchtung [Leihmutterschaft] ist zum Beispiel ein Weg, den Stammbaum fortzusetzen, ohne ein Mädchen zu heiraten. Es kommt in China auch immer häufiger vor, dass Schwule mit Lesben eine Vereinbarung treffen. Ich weiß, das kommt im Westen vielleicht nicht so gut an. Es ist natürlich alles einvernehmlich.

Gibt es in der chinesischen Tradition spezifische Regeln zur Homosexualität?
Im Alten China galt Homosexualität als so eine Art persönliches Hobby. Damit meine ich, du konntest eine Frau heiraten, deinen Sohn bekommen, aber dich auch mit einem schönen Mann vergnügen. Es gibt ein paar literarische Werke und Lieder, die schwule Tugenden preisen, aber es gibt auch welche, die sich über den schwulen Blödsinn lustig machen. Alles in allem gibt es keine ernste oder tiefgreifende Diskussion der Homosexualität.

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Heute ist Homosexualität, vor allem männliche Homosexualität, ein großes Thema in den chinesischen Medien. Wie haben sich seit deiner Kindheit die Ansichten geändert?
Es gibt jetzt viele beliebte Witze, in denen Schwule vorkommen. Es gibt schwule Figuren in TV-Serien, auch wenn sie es nicht direkt beim Namen nennen. Es gibt virale Videos der Freundschafts-App Zank, die sich hauptsächlich an schwule Männer richtet. Manchmal ist die Aufmerksamkeit negativ, manchmal ist sie positiv, hauptsächlich findet es einfach öfter Erwähnung.

Schwule werden manchmal stereotyp als „notgeil" dargestellt, als wären sie immer auf der Suche nach Gelegenheiten für Analsex.

Irgendwie ist es, als würde man uns endlich sehen. Wir existieren jetzt. Witze hin oder her, es kann dazu beitragen, dass viele junge Leute sich dem Konzept der Homosexualität öffnen und mehr Akzeptanz entwickeln.
Mehr und mehr Leuten wird klar, dass Homosexualität genetisch ist, was zwar nicht definitiv nachgewiesen ist, aber das schiebt die Schuld auf [die Genetik] statt auf das Kind oder seine Erziehung. Und die Leute verstehen den Leitspruch: „Wir sollten den Lebensstil homosexueller Leute respektieren." Dennoch, Vorurteile gibt es überall. Schwule werden manchmal stereotyp als „notgeil" dargestellt, als wären sie immer auf der Suche nach Gelegenheiten für Analsex.

Wer ist zur Zeit das größte chinesische Vorbild für Homosexuelle?
Seltsamerweise ist das Tim Cook. Sein Coming-out hat aufgrund der riesigen Beliebtheit der Apple-Produkte sehr viel bewirkt. Wenn die Leute im Internet sagen, dass Schwule eklig sind oder so, dann antworten andere: „Schreibst du das gerade von einem iPhone?"

Manche setzen sogar noch einen drauf. Wenn online jemand etwas über Schwule sagt, dann feuern andere zurück: „Was benutzt du gerade, um diesen Kommentar zu schreiben?" Alan Turing war schwul. Keine Schwulen, keine Computer.

Was hältst du für das wichtigste Thema für die LGBT-Bevölkerung hier in China?
Auf jeden Fall sexuelle Aufklärung, Sexualkunde. Homo-Ehe ist eine Sorge für später. Im Moment verstehen [viele] Leute nicht einmal die Grundlagen des Homosexuellseins.

Abgesehen von dem Aspekt der körperlichen Sicherheit ist auch der psychologische Aspekt sehr wichtig. Wie soll man sich als homosexueller Mensch in dieser Gesellschaft schützen? Wie geht man mit seiner Sexualität um? Wem soll man es sagen, wem soll man es nicht sagen? Wie viel soll man wem erzählen? Wenn man Gefühle für einen Hetero hat, wie soll man damit umgehen? Weil mir das alles niemand gesagt hat, habe ich so einige düstere und manchmal gefährliche Wege eingeschlagen, bevor ich ein besseres Verständnis entwickelt habe.