Wie ich mich nach der Ermordung meines Vaters an ihm rächte

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Wie ich mich nach der Ermordung meines Vaters an ihm rächte

Ein Bericht aus erster Hand über das Leben mit einem alkoholkranken und gewalttätigen Vater, der seine Familie für immer gezeichnet hat—und dessen Sohn ihn zu Kunst machte.

Meine Aufnahme an der Kunsthochschule habe ich mit einem klitzekleinen Film geschafft, den ich aus alten Heimvideos aus meiner Kindheit zusammengeschnitten hatte. Das Datum 5. 1. 2000 flimmert in der linken unteren Bildschirmecke, und es war der 10-jährige Kim, der damals herumlief und die Zimmer in seinem Elternhaus filmte.

In dem Video passiert eigentlich nicht viel. Man sieht den langweiligen Alltag einer dänischen Provinzfamilie: Meine Eltern trinken Kaffee im Wohnzimmer mit den klobigen Echtholzmöbeln, ich spiele mit meiner kleinen Schwester Emilie, wir sehen nach unserem einsamen Zwerghamster in seinem Käfig, wir kriegen Abendessen. Aber über allem im Haus hängt eine Düsternis. Etwas schwelt unheimlich unter jeder Oberfläche, und es kommt nur selten vor, dass daraus kein Brand wird. Mein Vater war Alkoholiker. Er war sehr krank, und je älter ich wurde, desto mehr trank er sich in den Abgrund. Doch er war dabei, meine Familie mit in die Tiefe zu reißen.

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„In dem Video … warum macht dein Vater plötzlich mit seinen Unterarmen ein Kreuz vor seinem Gesicht?", fragte mich ein Mann aus dem großen Personenkreis, der mein Werk im Rahmen der Aufnahmeprüfung beurteilen sollte. Und das stimmt, in dem Video macht mein Vater vom Sofa aus ein großes Kreuz in meine Richtung. Ich erklärte, dass er wohl wollte, dass ich mit dem Filmen aufhöre, doch dass er meiner Familie im Suff auch ansonsten immer mehr seltsame Handzeichen gab, anstatt mit uns zu sprechen. Das Kreuz vor dem Gesicht machte er oft, und für mich ist es zu einer Art Symbol für meinen Vater geworden. Kurze Zeit später erhielt ich eine Mail, in der stand, dass ich an der Akademie aufgenommen war.

2010 wurde mein Vater in einem Treppenaufgang in der dänischen Stadt Slagelse gefunden. Er war erschlagen worden. Wir waren alle zutiefst schockiert. Wir waren überzeugt gewesen, dass es seine Leber sein würde, die ihn eines Tages umbringt. Meine Familie und ich wussten aus zweiter Hand, dass er aus seinem Haus weit draußen auf dem Land geflogen war, weil er seine Rechnungen nicht bezahlt hatte. Er zog rastlos durch Slagelse und am Ende wurde er erschlagen. Meine großen Schwestern Ida und Maria und ich fuhren ins Krankenhaus, um seine Leiche zu identifizieren.

Auf der Tür stand „Wiedererkennung". Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Er lag in weiße Laken gehüllt, das Gesicht frei. Es brannten einige kleine Teelichter. „Das ist er!", brach es aus Ida hervor und meine Schwestern beeilten sich, wieder in den Nachbarraum zu kommen. Ich hingegen blieb stehen und sah ihn an.

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Das Gesicht sah schief aus. Die linke Seite der Stirn war merklich ausgebeult und er hatte ein riesiges Veilchen. Das musste wehgetan haben. Viele Wimpern fehlten ihm und die Lider sahen aus, als habe man sie zugeklebt. Der Mund war groß und geschlossen. Die Oberlippe stand ein bisschen über die Unterlippe, als würde er ein Pfff-Geräusch machen. So ein Geräusch hat er häufig gemacht, wenn er hackedicht auf dem Sofa saß und einschlief. Er ähnelte einem Headbanger in Zeitlupe, wie er so dasaß und in seinem Rausch einsam mit dem Kopf nickte. Ich überlegte, ob ich ihn noch einmal anfassen sollte, jetzt wo es meine letzte Gelegenheit dazu war. Sollte ich ihm über die Wange streichen oder übers Ohr? Ich traute mich nicht. Ich hatte Angst, dass meine Berührung seine Starre aufheben und er von seinem Tisch aufspringen und mich anherrschen würde.

Screenshot aus dem Film ‚ODE' vom Autor

Im darauffolgenden Jahr begegneten wir dem Mann, der meinen Vater erschlagen hatte. Zu beiden Seiten seiner dicken Arme liefen Polizisten. Er trug einen weißen Kapuzenpulli und hatte eine hässliche Tätowierung im Nacken. Er sah dumm aus—und das war er auch. Die Gerichtspsychiater beschrieben ihn als schwachsinnig. Es gab einen Moment, als er die Treppe in seinem Hausflur als steil beschreiben wollte, doch er fand das Wort nicht und sagte stattdessen „unangenehm". „Die Treppe war … Sie wissen schon, unangenehm." „Meinen Sie steil?", nickte die Verteidigerin. „Ja." Dann kamen die genauen Beschreibungen der Verletzungen meines Vaters. Der Staatsanwalt las aus einer violetten Mappe vor: schweres linksseitiges Trauma, Rippenbruch, innere Blutungen, Weichteilschwellungen, Nasenbruch—es nahm gar kein Ende. Es war alles so surreal. Mein Vater tat mir so leid, und das fühlte sich fast genauso unwirklich an wie der ganze Rest.

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Während einer Frühstückspause blieb ich alleine im Saal sitzen. Ich beeilte mich, einen Blick in die lila Mappe zu werfen. Ich musste es mit eigenen Augen sehen. Wenn es jemand anderes aus meiner Familie gewesen wäre, jemand, den ich geliebt hätte, dann wäre es anders gewesen. Ich wäre in dieser Situation völlig zusammengebrochen. Aber weil es hier nur um ihn ging, den Mann, der mir so viel Leid zugefügt hatte, konnte ich eine kühle Schutzschicht um meine Gefühle aufrechterhalten und mir die Fotos ansehen.

Da lag er also, genau wie sie es beschrieben hatten. In seinem eigenen Blut, die Kleidung etwas zerrissen, im Treppenaufgang. Er hatte Sandalen an. Neben dem Hosenbund ruhte seine Hand mit einem Goldring am Finger. Das Gesicht war so rund und rot wie eine Tomate. Und dann waren da die Obduktionsfotos. Der geöffnete Körper. Ein Bild von seiner Schädeldecke, die neben seinem Kopf lag wie ein abgeschraubter Deckel, damit das Gehirn erzählen konnte, wie es zerschmettert worden war. Kleine Pfeile in blauer Tinte zeigten auf die Blutgerinnsel.

Als ich die Mappe zuklappte, wusste ich, dass die Bilder darin eine Geschichte verborgen hielten, die ich erzählen musste. Mein schreckliches Leben mit meinem Vater, das ich in Kunst verwandeln wollte. Ich fing an, unter dem Namen Kim Kim Lieder vorzutragen, die unter anderem von meinen Erinnerungen an ihn handelten. Doch die Bilder von ihm ließen mich nicht los. Ich wusste, dass sie auf mich warteten.

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Es verging einige Zeit, und dann geschah etwas Merkwürdiges, von dem ich bis heute nicht genau weiß, was ich davon halten soll. Ich wurde zu einer Hellsehervorführung in der Nähe von Kopenhagen mitgenommen. Die Veranstaltung fand in einem großen Spiritisten-Haus statt, und die englischsprachige Hellseherin war von weither gekommen (ich nehme an, sie war eine führende Hellseherin), doch ich war nur zufällig da hinein geraten und hauptsächlich zum Spaß dort. Der Saal war voller Menschen, und ich versteckte mich mitten unter ihnen und hörte zu. Das Medium saß auf einem großen silbernen Stuhl mit Zebramuster und fing an, Geisterkontakt herzustellen. Sie brachte mehrere Menschen zum Weinen, als sie behauptete, Kontakt mit deren verstorbenen Lieben zu haben, denn ihre Aussagen waren sehr detailliert.

„Ist hier eine Tochter, die ihren Vater verloren hat?", fragte das Medium dann. „Jemand in diesem Bereich des Zimmers." Sie deutete ein bisschen an mir vorbei. Ich dachte gar nicht an mich selbst oder an meinen Vater. Niemand gab einen Ton von sich. Als Nächstes fragte das Medium, ob es sich für jemanden unter den Anwesenden bekannt anhöre, wenn dieser Mann möglicherweise ungeliebt war und die Menschen auf seinen Tod vielleicht mit so etwas wie „So what?" hätten reagieren können. Sie breitete die Arme aus. Ich hob zögerlich meine Hand. „Versuch, ja zu sagen", sagte sie und zeigte auf mich. Ich gab ein heiseres Ja von mir. „Oh, und ich dachte, es ginge um eine Tochter!" Ihre Augen waren seltsam und sehr blau, und sie zoomten irgendwie in meine Augen rein, aber ich versuchte, mich völlig neutral zu verhalten, damit sie nichts an meiner Körpersprache ablesen können würde. Doch dann tat sie etwas, das ich niemals vergessen werde. Sie hob ihre Arme und bildete damit ein Kreuz vor ihrem Gesicht. „Er steht gerade da und macht das hier", sagte sie. Ich war erschüttert.

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Das Elternhaus des Autors

Die Hellseherin sagte, er habe furchtbar viel getrunken, denn sie könne den Alkohol schmecken, und sie fände, dass er ganz schlimm nach Wein rieche. Ich dachte an den Fusel, den mein Vater in unserem Keller gebraut hatte. Nachdem die Bäckerei meiner Eltern pleite gegangen war, hatte er mit seinem neuen Hobby angefangen: selbst gemachter Wein. Es standen immer mindestens 15 riesige Weinkrüge in der Gegend herum, in denen der stärkste „Weißwein" gärte, den man sich nur vorstellen kann. Aus den Gefäßen kamen Blubbergeräusche wie aus einem Frankenstein-Labor.

Nun kamen die ganzen Erinnerungen aus den Schatten gekrochen. Ich sah meinen kleinen Kinderkörper, der in den Ferien auf einem Hüpfkissen auf und ab sprang. Der Kragen meines Hemds hatte sich um meinen Kopf gelegt und ich tat mithilfe des flatternden Kleidungsstücks so, als hätte ich langes Haar, das im Wind weht, wie meine Schwestern. Plötzlich riss er mich vom Kissen und zischte, dass nachts Geister kommen und mich fressen würden, wenn ich sowas jemals wieder täte. Also tat ich es nie wieder. (Stattdessen habe ich heute echtes langes Haar, das mir fast bis zum Hintern reicht.)

Zwischen uns erstreckte sich eine riesige Kluft. Ich glaube, er war enttäuscht, dass ich für ihn nicht der Sohn war, den er sich erhofft hatte. Er hat mich einmal mit einem dünnen Seil ausgepeitscht. Er hat mich getreten, als ich am Boden lag. Er hat mich am Kragen hochgerissen, sodass ich keine Luft bekam. Seine Kinder gingen ihm alle auf die Nerven, und ich erinnere mich daran, wie er häufig böse herüberstarrte, wenn ich bei meiner Mutter saß. Als wäre er ein vernachlässigtes Kind, dessen Mutter ihm weggenommen wird. Wenn er beim Essen, das sich immer anfühlte wie das einer Trauergesellschaft, seinen Kindern etwas sagen wollte, dann tat er es immer durch meine Mutter: „Birte, sag Maria, dass sie aufhören soll, Zigaretten zu rauchen, wenn sie zu Besuch ist."

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Zwischen meinen Eltern gab es manchmal schreckliche Auseinandersetzungen. Wenn es losging, hatte ich das Gefühl, dass alles aus war, dass meine Welt auseinanderbrach, und das tat sie auch. Als ich klein war, schrie und weinte ich viel vor Angst. Einmal war ich in der Küche, als ich hörte, wie der Käfig unseres Kanarienvogels umkippte, und gleichzeitig sprang die Ofentür auf. Ein richtiger Angstschrei fühlt sich an wie ein Messer, das einem in den Bauch gerammt wird. Einer der schlimmsten Vorfälle war, als mein Vater meine Mutter an den Knöcheln zurückriss, sodass sie die ganze Kellertreppe hinunterfiel. Zersprungene Teller, zerstörte Fenstertüren und ich, der die Notrufnummer wählt. Wenn die Polizei kam, dann konnte er schon mal behaupten, meine Mutter würde versuchen, ihn umzubringen, weil sie sich weigere, ihm Essen zu machen.

Der Autor als Kind

Ich glaube, das ganze Chaos hat meine Mutter so sehr gelähmt, dass sie die Alarmglocken einfach nicht läuten hören konnte. Wir haben viel zu viele dunkle Jahre durchgemacht, in denen sie im Alleingang darum kämpfte, ihn zum Besseren zu ändern. Doch stattdessen machte er uns alle mehr oder weniger kaputt. Meine Mutter hatte die abwegige Vorstellung, sie könne ihn retten—die wohl größte und verbreitetste Lüge, die sich die Partnerinnen und Partner von Alkoholikern erzählen. Doch letztendlich war auch diese Hoffnung verbraucht und sie suchte das Weite.

Wir zogen in eine kleine Wohnung und mein Vater zog in ein trauriges Haus auf dem Land. Unser Leben mit ihm endete an dieser Stelle, doch er suchte unser Leben dennoch ständig heim. Nach seinem Tod waren wir frei, doch eigentlich waren wir nicht frei, denn nun hatten wir untereinander mit Streit zu kämpfen und unsere Gefühle lasteten schwer auf uns. Eine alkoholikergeschädigte Familie ist wirklich eine gebrannte Familie. Narben lassen sich nicht wegwaschen.

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MUNCHIES: Zucker ist Gift, aber das ist OK

Die Hellseherin stand da und sprach durchgehend mit mir, und ich strengte mich an, ihr zuzuhören. Sie fing an, ihn als intelligenten Mann zu beschreiben. „Er hatte einen sehr tiefgründigen Geist", doch das habe er offenbar nicht zeigen können. Er habe sein Leben zerstört. Ja, sagte ich. Ich stellte mir sein zerstörtes Gehirn vor, mit all den elektrischen Impulsen, Gedanken und Gefühlen. Ich dachte darüber nach, ob er tief im Inneren wohl genauso gefühlvoll und kreativ war wie ich, aber einfach völlig kaputtgemacht worden war—ein Leben, das in Stücke gerissen und dann ganz schief und krumm wieder zusammengesetzt wurde.

Er würde nie mit seiner linken Hand schreiben. In seiner Kindheit hatte man ihm die Hand mit einer Dose beschwert und ihn gezwungen, stattdessen mit der Rechten zu schreiben. Von Anfang an erging es im schlecht. Ich fing an, ihn mir als tiefgründigen Menschen vorzustellen. Ich dachte mir, dass er wohl tiefgründig gewesen sein musste, um überhaupt so tief in den Abgrund fallen zu können. Zum Schluss sagte das Medium, dass sie versuchen würde, eine Brücke zwischen uns zu bauen, wenn ich das zulassen würde. Sie sagte, all die Dinge, die er getan hatte, täten ihm Leid, doch er würde es mir nicht übelnehmen, wenn ich ihm nicht vergeben wolle. Er wisse sehr wohl, dass er es nicht verdient habe. Und zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich sagen, dass ich meinem Vater in einer Sache zustimmte.

Meine große Schwester Maria hat eine Erinnerung an mich, die mir immer ein bisschen Angst gemacht hat. Sie hat mich im Korb unseres Hundes gefunden. Ich war vier Jahre alt und schluchzte: „Ich bin verloren." Das ist ein ziemlich unangenehmes Bild, denn wie oft hört man kleine Kinder schon so etwas sagen? Aber vielleicht ist genau das meine Stärke, die mich gerettet hat. Ich kann mich nicht daran erinnern, im Hundekorb gelegen zu haben, aber ich erinnere mich noch deutlich an das Gefühl, verloren zu sein. Solche Dinge sind ein Teil meines Erbguts. Doch ich habe mich schlicht geweigert, das zu meiner Geschichte werden zu lassen.

Kim hat das Leben mit seinem Vater und dessen Tod in dem Kunstfilm ODE verarbeitet. Darin tritt er mit seiner Familie auf und stellt unter anderem die Obduktionsfotos seines Vaters nach. Laut Kim stellt der Film eine Möglichkeit dar, sich durch Rache anstelle von Vergebung von Traumata zu befreien.

Am 21. September 2016 wird ODE in Kopenhagen gezeigt.