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Popkultur

Wie ich als 13-Jährige vor meiner Webcam strippte

In einer Zeit, als es noch kein Sexting gab, ließ ich für meine Mitschüler online regelmäßig die Hüllen fallen. Bis heute bereue ich jedoch nur, dass alles irgendwann herauskam.
Foto: Bonninstudio | Stocksy

Dieser Artikel ist zuerst bei Broadly erschienen.

Letzten Monat habe ich mit meinem Vater telefoniert und dabei ging es auch um das Thema Sexting. Er fragte mich mit skeptischer Stimme, ob ich schon von dem 14-jährigen Jungen aus Nordengland gehört hätte, der jetzt ins Polizeiregister aufgenommen wurde, nachdem er ein Nacktbild an ein gleichaltriges Mädchen geschickt hatte.

„Ist das nicht schrecklich? Der Junge wird doch seines Lebens nicht mehr froh", meinte mein Vater und erzählte danach, wie die Schule des Jungen die Polizei verständigte, nachdem besagtes Foto unter den Schülern die Runde gemacht hatte. Ich saß am anderen Ende der Leitung und mir schnürte es fast die Luft ab.

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Wir redeten weiter über den uns unbekannten Jungen—über sein Leben, seine Gefühle und die schwere Zeit, die er jetzt durchmachen muss und die noch eine ganze Weile andauern wird. Im Grunde sprachen wir aber gleichzeitig auch über mich.

Sexting ist natürlich ein Begriff aus der Erwachsenenwelt. Seine Herkunft zeigt schon den fehlenden Bezug zur Jugend und wenn man das Wort mit dem Verhalten von Minderjährigen in Verbindung bringt, dann schwingt dem Ganzen meistens ein Unterton von elterlicher Panik mit. Sexting ist jedoch nichts wirklich Neues, sondern eher das Ergebnis einer natürlichen Entwicklung—nämlich wie Jugendliche ihre Sexualität im immer weiter fortschreitenden digitalen Zeitalter kommunizieren. Vor Snapchat, WhatsApp und Co. gab es die MMS und bevor es versaute Nachrichten auch zum Mitnehmen gab, begnügten wir uns mit einer einfachen Webcam.

In den längst vergangenen Tagen des MSN Messengers war eine Webcam so etwas wie ein Statussymbol. Deshalb musste ich ein solches Gerät auch unbedingt haben. An meinem 13. Geburtstag war es schließlich soweit und ich durfte mir meinen ersten eigenen Computer zusammenstellen. Meine einzige Bedingung: eine Webcam musste dabei sein. Meine Eltern erfüllten mir meinen Wunsch, obwohl sie sich gleichzeitig auch darüber wunderten, warum mir die Webcam so wichtig war.

Einmal wurde ich auch gefragt, ob ich mich nicht selbst befriedigen könnte, was ich jedoch verneinte. Das war alles.

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Fairerweise muss ich an dieser Stelle anmerken, dass ich mir meiner Sexualität schon lange vor der Anschaffung meiner Webcam bewusst wurde. Alles fing an, als ich sieben Jahre alt war und auf der Toilette meiner Mädchen-Grundschule heimlich mit meinen Freundinnen das Küssen übte. Ich war nicht viel älter als neun, als ich auf ein Porno-Pop-up klickte und mir klar wurde, dass Selbstbefriedigung auch von Bildern und Videos begleitet werden kann.

Als ich mit elf Jahren dann auf eine Schule für Jungs und Mädels kam, wurden mir zum ersten Mal auch Sprüche hinterhergerufen: Vorbeifahrende Männer machten mir wegen meines „geilen Arsches" Komplimente. Von diesem Zeitpunkt an war ich mir nicht nur meiner eigenen sexuellen Begierde bewusst, sondern auch der von anderen Menschen. Dieses Bewusstsein gab mir quasi eine Art Freifahrtschein, meine eigene Sexualität bereits in jungen Jahren zu erforschen. Zumindest glaubte ich das.

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Eigentlich war es ganz umkompliziert (zumindest für mich): Mit 13 hatte ich eine Abmachung mit fünf oder sechs Mitschülern getroffen und loggte mich immer sofort beim MSN Messenger ein, wenn ich von der Schule nach Hause kam. Dann chattete ich mit allen möglichen Leuten, die gerade ebenfalls online waren, aber sobald mich einer der besagten Mitschüler anschrieb, widmete ich mich ihm voll und ganz.

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Normalerweise wiesen sie mich an, mich bis auf die Unterwäsche oder manchmal auch ganz auszuziehen. Nach gut zehn Minuten verlief das Gespräch dann ins Nichts und ich widmete mich dem nächsten Jungen. Einmal wurde ich auch gefragt, ob ich mich nicht selbst befriedigen könnte, was ich jedoch verneinte. Das war alles.

Nach einem Jahr voller Webcam-Strips wurde mein Leben innerhalb eines Tages jedoch komplett auf den Kopf gestellt: Einer der Jungs erzählte alles seiner Mutter—vielleicht hat sie es aber auch irgendwie anders herausgefunden. Obwohl mein Treiben bei mehr oder weniger allen Schülern meines Jahrgangs bekannt war, machte die Tatsache, dass man nun auch außerhalb des ausgewählten Kreises Bescheid wusste, das Ganze wohl nicht mehr cool.

Als ich am ersten Tag der neunten Klasse die Schule betrat, wusste ich, dass jeder im Bilde war—meine Eltern, die Eltern der anderen Schüler und wohl auch alle Lehrer. Zu Hause erwartete mich dann ein Brief meiner besten Freundinnen. Darin erklärten sie mir, dass mein Verhalten abstoßend sei und sie deswegen nicht mehr mit mir befreundet sein wollten. Plötzlich war ich eine Außenseiterin.

Von den Jungs in meinem Umfeld erwartete man quasi, sexuell interessiert zu sein. Mein eigenes Verlangen und Vergnügen war hingegen tabu.

Zwar nahmen mich meine Eltern wegen der Sache einmal ordentlich zu Brust—ein Gespräch, das vor allem von Wut, Ekel und Enttäuschung geprägt war—, aber sonst kam das Thema kaum auf den Tisch. Da sich meine Mitschüler und Lehrer stillschweigend darauf geeinigt hatten, dass mein Handeln falsch und schlecht war, konnte ich auch in der Schule jegliche Hilfe und jeglichen Trost vergessen. Zu Hause wurde mir dann noch mein Tagebuch weggenommen, um darin nach weiteren Hinweisen auf sexuelles Fehlverhalten zu suchen. Außerdem führten meine Eltern ein strenges Ausgehverbot ein und hatten zudem noch ständig ein Auge auf mich.

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Durch die ganze Sache wurde ich auch in die Welt der Doppelmoral eingeführt: Die Jungs, für die ich mich regelmäßig ausgezogen hatte, kamen in der Schule mit einem blauen Auge davon. Ihnen wurde von ihren Freunden sogar noch auf die Schulter geklopft—mich hingegen stempelte man als Schlampe ab.

Ich begann damit, mich selbst zu verletzten, und entwickelte die Dysmorphophobie, die später auch noch für meine Essstörungen verantwortlich sein sollte. Bis dato war ich ein selbstsicheres und frühreifes junges Mädchen gewesen, aber plötzlich stellte ich alles an mir in Frage. Ich wusste nicht, ob mein Verhalten und die sexuellen Gefühle und der Spaß, die ich dabei verspürte, richtig waren. Von den Jungs in meinem Umfeld erwartete man quasi, sexuell interessiert zu sein. Mein eigenes Verlangen und Vergnügen war hingegen tabu.

Mein Selbstempfinden und Selbstwertgefühl lösten sich in Luft auf.

Wenn ich heute über meine Webcam-Zeit nachdenke, dann erinnere ich mich immer daran, wie zufrieden ich damals war. Ich wollte sexuell aktiv sein. Das war eine bewusste Entscheidung. Für mich war das Strippen nicht nur eine selbst ausgewählte Handlung, sondern wurde durch das beidseitige Einverständnis auch legitimiert. Das Ausziehen hat mich nicht verändert. Was mein sexuelles Selbstempfinden letztendlich kaputt gemacht hat, war die Reaktion meines Umfelds.

Vielleicht ist meine Geschichte auch eine Ausnahme. Leider gibt es nur wenige Statistiken zur sexuellen Aktivität von Kindern und selbst wenn, dann ist es immer noch schwierig zu differenzieren, was davon dem gesellschaftlichen Druck und Zwang geschuldet ist. Rein gesetzlich betrachtet habe ich damals unwissentlich Kinderpornografie produziert und verbreitet. Allerdings halfen mir meine Webcam-Strips nicht nur dabei, mich im Bezug auf meine Sexualität besser zu verstehen, sondern gaben mir auch Selbstvertrauen. Und ganz grundlegend betrachtet hat mich mein Exhibitionismus auch angeturnt. Die wahren Schäden sollte ich erst ein Jahr später davontragen.

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„Jeder hat das Recht, seine Sexualität auszudrücken—so lange dabei niemand zu Schaden kommt. Das beinhaltet auch ganz allgemein die Gesellschaft", erklärte mir Dr. Fiona Grey von der Organisation Rape Crisis South London. „Durch unsere Arbeit mit jungen Menschen haben wir den Eindruck bekommen, dass es beim Sexting nur ganz selten darum geht, seine Sexualität auszuleben. Stattdessen findet das Ganze eher in einem Umfeld statt, in dem Zwänge sowie ein hoher Druck vorherrschen."

Zwar können es Gesetzgeber und Pädagogen kaum glauben, aber es war wirklich meine eigene Entscheidung, vor der Webcam zu strippen.

Welche Bedeutung hat nun die freiwillige Natur meines damaligen Handelns, wenn alle Involvierten das Mündigkeitsalter noch nicht erreicht haben? So gut wie keine. Im Vereinigten Königreich geht man im Rechtssystem nicht davon aus, dass Kinder im Bezug auf sexuelles Verhalten eigene, fundierte Entscheidungen treffen können. Dementsprechend wird ein solches Szenario in Fällen wie meinem gar nicht erst in Betracht gezogen.

Genau wie der 14-jährige Junge aus England war auch ich mir damals nicht über die möglichen rechtlichen Konsequenzen meines Handelns im Klaren. Dr. Grey meinte dazu: „Rape Crisis South London klärt an verschiedenen Schulen über die Verbreitung von sexuellen Bildern sowie die dazugehörigen Gesetze auf. Dabei sind die Jugendlichen immer ganz schockiert darüber, dass sie damit wegen der Produktion und Verbreitung von Kinderpornografie angezeigt werden können." Als ich sie fragte, ob man den Schülern nicht beibringen könnte, die gegenseitige Privatsphäre zu respektieren, um so ein sichereres Umfeld fürs Sexting zu schaffen, antwortete sie mir: „Das Problem hierbei ist nicht der fehlende Respekt für die Privatsphäre. Nacktbilder werden von jungen Leuten oft als eine Art Währung verwendet und Jungs verbreiten solche Fotos, die sie von Mädchen bekommen haben, um ihre Männlichkeit und ihre Heterosexualität zu beweisen."

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Zwar können es Gesetzgeber und Pädagogen kaum glauben, aber es war wirklich meine eigene Entscheidung, vor der Webcam zu strippen. Diese Meinung vertrete ich auch heute noch. Hätte man den Kindern meines Alters damals beigebracht, mit dem Thema sexualisierte Kommunikation vertrauens- und respektvoll umzugehen, anstatt sie komplett davon abzuhalten (was übrigens kaum durchführbar ist), dann wäre der Schaden, der mir und anderen jungen Menschen in meiner Situation zugefügt wurde, bei Weitem nicht so groß ausgefallen.

Kindliche Sexualität ist ein Tabuthema. Während junge Mädchen von gemischten Signalen quasi erschlagen werden, wenn die Medien den weiblichen Körper und seine sexuelle Reife in den Himmel loben und gleichzeitig verurteilen, kehrt man die wirklichen Erfahrungen der Kinder unter den Teppich. Ich kann nicht genau sagen, wie stark die Sexualität meines 13-jährigen Ichs von diesen Botschaften beeinflusst wurde, aber ich weiß, dass ich mich damals in meinem Körper wohl fühlte und sich das erst später aufgrund meines sozialen Umfelds änderte.

Erst vor ein paar Wochen konnte man in den Nachrichten von einem 17-jährigen Jugendlichen aus North Carolina lesen, der seiner 16 Jahre alten Freundin Nacktbilder geschickt hatte und deshalb wegen sexueller Ausbeutung einer Minderjährigen angeklagt wurde. Solche Fälle tauchen immer mal wieder auf und es ändert sich nie etwas an der Art und Weise, wie das Gesetz mit ihnen umgeht. Natürlich sind Vorschriften zum Mündigkeitsalter extrem wichtig, um Kinder vor Pädophilie zu schützen, aber bei derartigen Sexting-Fällen können sie den involvierten Kindern und Teenagern auch mehr schaden als nützen.

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Ein Anwalt für Menschenrechte sowie öffentliches Recht, der lieber anonym bleiben will, meinte mir gegenüber, dass die aktuellen Gesetze nicht mehr der zeitgenössischen Teenager-Sexualität entsprechen würden. „In diesem Bereich prallen zwei Welten aufeinander—zum einen die Neugierde und Experimentierfreudigkeit der Jugendlichen und zum anderen die Ziele der Vorschriften", sagte er. „Deshalb haben es Gesetzgeber gerade nicht einfach, denn sie müssen herausfinden, wie man Kinder gesetzlich vor Missbrauch und Ausbeutung schützt und das Ganze gleichzeitig dem derzeitigen Verhalten von Teenagern anpasst."

Von einem gesetzlichen Standpunkt aus betrachtet gibt es wohl nur wenige Möglichkeiten, die Art und Weise zu ändern, wie man mit solchen Fällen umgeht. „Es wäre sehr gefährlich, jetzt alle möglichen Verhaltensweisen von Teenagern zu legitimieren, weil man dadurch das Missbrauchsrisiko extrem erhöhen würde", fuhr der Anwalt fort. „Jede Option, die wir bisher durchgesprochen haben, führt letztendlich dazu, dass man Pädophilie begünstigt."

Es ist jedoch unmöglich, junge Menschen davon abzuhalten, neue Dinge auszuprobieren—egal ob nun Sexting oder Webcam-Strips. Deshalb sollten wir uns eher darauf konzentrieren, diesen jungen Menschen ein sichereres Umfeld zu bieten und sie zu unterstützen und aufzuklären, wenn sie online oder offline sexuell aktiv werden wollen. Dabei ist es dann allerdings doch ziemlich entmutigend, wenn man bedenkt, dass die heutige Gesellschaft immer noch nicht dazu bereit ist, Minderjährigen beizustehen, die entweder selbst entscheiden, Teil einer sexuellen Kommunikation zu sein, oder sich dazu gezwungen fühlen.

Zum Glück hat mir mein damaliges Handeln keinen Eintrag im Polizeiregister beschert. Leider wurde ich von meinem sozialen Umfeld trotzdem wie eine Schwerverbrecherin behandelt—und kein Kind dieser Welt sollte solche Konsequenzen wie ich erleiden müssen.


Foto: Bonninstudio | Stocksy