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Wie wir früher im Bluewin-Chat Pädophile verarschten

In unserer späten Kindheit war das Internet langsam und wir trieben uns zusammen mit dem Rest der Schweiz im Bluewin-Chat rum. Bald haben wir gemerkt, wie schnell man da in Kontakt mit Pädophilen kommt.
Titelbild Irais Peraza

Weder wir, noch ein Pädophiler, sondern einfach ein Typ vor seinem Laptop. Foto von Irais Peraza; Wikimedia Commons; CC BY-SA 4.0

Es begab sich zu einer Zeit, in der das Internet Web 1.0 war, das Taschengeld eigentlich immer direkt für Stunden im Internet und die Stunden meist im Internet draufgegangen sind. In dieser Zeit waren jene Teile des Internets am besten, in denen keine Bilder waren, da Bilder wichtige Franken/Stunde kosteten. Da ich damals etwa 13 war und mir darum alles viel „gfürchiger" und märchenhafter erschien, stell ich mir vor, dass das normale Internet war, was heute das Darknet ist (obwohl das ziemlich sicher hoffnungslos übertrieben ist, ich bin halt auch noch nie im Darknet gewesen).

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Wir waren Try-and-Error-Kinder und haben darum lustige Sachen ausprobiert, beispielsweise konnte man mit dem Windows Messenger- und dem MSN-Messenger-Client gleichzeitig mit zwei unterschiedlichen Accounts im selben Chat sein. Also luden wir die Dorf-(besser: Agglo-)Nazis, die meist Mailadressen wie 848heildirhelvetia@hotmail.com hatten, in Chats ein und prügelten gemeinsam mit den eigenen Fakeaccounts auf unsere echten Accounts ein. Es machte wenig Sinn, aber umso mehr Spass. Die Nachmittage gingen um und sinnvoller als Gamen war es allemal.

Foto von Bortzmeyer; Wikimedia Commons; CC BY-SA 3.0

In jener Zeit loggten wir uns auch jeden Tag drei Mal in den Bluewin-Chat ein. Nach offiziellen Zahlen waren zu Spitzenzeiten jeweils 6.000 Menschen gleichzeitig im Bluewin-Chat. Erst wurden wir von den Administratoren immer rausgeschmissen, da es eine Weile brauchte, bis wir gecheckt haben, dass ganze Sätze in Grossbuchstaben als „Schreien" verstanden werden. Im grossen Massen-Chat konnte aber eh niemand ein Gespräch führen, da der Feed die ganze Zeit mit Aussagen wie „Milano per siempre!" oder „FC Aarau—die Geilschte!" verstopft war. Daneben gab es auch hunderte Themen-Chaträume, etwa den beliebten „rüebliland"-Room.

Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase haben wir auch verstanden, dass man in Chaträumen mit Identitäten spielen kann. Irgendwann gehörten wir auch zu denen, die sich mit dem Nickname „girl_14" einloggten.

Gründe dafür gab es zwei: Loggten wir uns unter einem Nickname ein, mit dem wir uns identifizierten—ich etwa mit „Psychokatalog", sowas hält man in dem Alter für originell—waren wir echte Schisser. Wir trauten uns kaum, irgendwelche Fremden anzuquatschen, geschweige denn Nummern auszutauschen und wenn wir im Chat lügten, etwa über unser Alter, wurden wir vor den Röhrenbildschirmen rot. So mit Wallungen und so.

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Der zweite Grund war, dass wir als „girl_14" oder „Melissa_12" für andere User viel interessanter waren. Ich schwöre, dass man bis zur Schliessung des Bluewin-Chats zu jeder Nachtzeit als „girl_14" online gehen konnte und innert zehn Sekunden fünf offene Chats hatte: „Hey, wie gohts?" „Hey, wa machsch?" Das ganze Programm der geheuchelten Harmlosigkeit. Wer diese Menschen waren, die am liebsten Leute anquatschten, die sich selbst für so generisch halten, dass sie sich nur über Geschlecht und Alter definieren, ist mir bis heute nicht klar. Die nannten sich ja auch nicht „boy_16" oder „creepydude_42".

2009, als wir schon mindestens fünf Jahre lang nicht mehr drin gewesen waren, wurde der Bluewin-Chat geschlossen. Man wolle nicht länger dem Vorwurf ausgesetzt sein, dass der Bluewin-Chat Pädophilen den Kontakt zu Kindern ermögliche, erklärte der Betreiber. Es seien wenige Einzelfälle gewesen und man habe schon lange viel in Prävention investiert. Was diese Prävention konkret gebracht hatte, kann ich nicht beurteilen. Tatsächlich schmissen die Administratoren jeden raus, der fluchte; es wurden eben sogar Grossbuchstaben verfolgt. Aber was im Einzelchat passierte, passierte im Einzelchat. Der war so isoliert wie ein Schlafzimmer.

Trotz den Präventionsmassnahmen war es wirklich nicht schwierig, sexuell belästigt zu werden und wir provozierten das auch regelmässig. Manchmal war es harmlos, sogar langweilig: Wir loggten uns als „girl_14" ein, wurden von irgendeinem älteren Mann angeschrieben, gaben ihm eine Fake-MSN-Adresse an und chatteten mit ihm, bis uns das langweilig wurde. Vielleicht war es auch ein Glück, dass wir 13 waren und deshalb die Aufmerksamkeitsspanne von 13-Jährigen hatten, denn sonst hätten wir wohl noch öfter Intimitäten von Männern erfahren, die aktiv und unverblümt Kontakt zu Kinder suchen.

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Ein paar Mal wurden aber regelrechte Horrorfeste daraus: An einem Abend, der sich zum festen Denkmal in unseren Kindheitsanekdoten entwickelte, wollte einer meiner Freunde, dass ihn Leute aufs Handy anrufen, da er von seinem Anbieter für Anrufe Gratis-SMS erhielt, also wählten wir uns in die Textwüste „Bluewin-Chat" ein—und zwar routiniert als „girl_14". Wir wurden mit Anfragen bombardiert und suchten uns die Chatpartner „molliger_man" und „strumpfhosenliebhaber_37" aus. Der erste hat uns auch angerufen, aber an das Gespräch erinnere ich mich nicht mehr wirklich. Dem Zweiten schrieben wir, dass wir Netzstrümpfe tragen (13-Jährigen-Humor), was er überraschenderweise nicht ganz so prickelnd fand. Er mochte eher Baumwolle und Nylon.

Nach einer Weile gaben wir ihm „unsere" Nummer. Er rief an, abgenommen hatte derjenige von uns, der wunderbar Mädchenstimmen imitieren konnte—ich konnte das nur schon nicht, weil meine normale Stimme, noch ganz nach Mädchen klang. „strumpfhosenliebhaber_37" rief an; wir schalteten auf Freisprechanlage und unterdrückten unser Kichern.

strumpfhosenliebhaber_37: „Hallo, bisch du elei diheime?"
„Nei, mini Kollegin isch no do."
„Und was mached ihr?"
„Nüt."
„Hend ihr gern Strumpfhose ah?"
„Nöö."
„Und dini Eltere sind nid diheime?"
„Nöö."
„Und was machsch, wenn dini Eltere nid diheime sind?"
„Mengmol lisme."
„Aha, aber hesch nid au Interässe a andere Sache?"
„Nöö."
„Tüend sich dini Brüscht de scho entwickle?"
„Nöö."
„Wie alt bisch du denn?"
„Zwölfi."
„Und tuesch du gärn dis Fützli streichle?"
„Nööö."

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Da prusteten wir los und unser „Sprecher" betätigte die Taste mit dem roten Hörer. Solche Abende erlebten (und provozierten) wir sicher fünf, sechs Mal. Es waren eigentlich sexuelle Übergriffe, aber wir fanden sie lustig, weil sie virtuell blieben. Und wir hatten auch wenig Ahnung davon, ob unsere Chat- und Telefonpartner uns wirklich für eine 12-jährige Sie hielten oder ob sie nicht eher auf herzige Buben aus waren und das Rollenspiel mit uns auf die Spitze trieben.

Für uns war das nur ein Spass, aber ich habe keine Ahnung, was (mit einem) passiert, wenn man in so ein Gespräch mit der Erwartung einsteigt, ein nettes Mädchen oder einen netten Jungen am Apparat zu haben. Solche erwachsenen Freaks waren ja dauernd und mit immer neuen Nicknames im Chat unterwegs und sie werden wohl nicht nur an Kinder/Jugendliche geraten sein, die auf's Verarschen aus waren.

Andere frühpubertäre Ausflüge ins Internet hatten für mich schlimmere, reale Folgen, etwa den einen IQ-Test, der auf die Seite eines Dialers führte und meinen Vater am Ende um die 300 Franken kostete. Trotzdem schockiert es mich heute ein wenig, das diese Chat-Erfahrungen wie selbstverständlich zum Fundus unserer Jugendanekdoten gehören. Und nicht nur zu meinen: Ich kenne zig Leute, die dasselbe Hobby hatten.

Als ich 16 war—da gab es den Bluewin-Chat noch—, lief mir ein alter Sack durch ganz Aarau nach. Er murmelte und kam immer näher. Als ich mich umdrehte und fragte „Händ Sie es Problem?" wiederholte er, was er die ganze Zeit murmelte „D-dörf ich din Schwanz alänge?" Ich brauchte eine Sekunde, dann fluchte ich wie es nur ging. Er haute ab, aber das Erlebnis ging mir eine Weile lang nach. Wahrscheinlich lag es daran, dass es nicht im vermeintlich sicheren Rahmen des Internets passierte, sondern in der echten Welt. Das Internet ist kein Spielplatz, jedes Wort und jede Handlung hat Folgen im (Innen-)Leben, aber trotzdem verwechseln wir alles, was auf dem Bildschirm passiert mit einem Spiel. Und heute haben wir anders als in den Spitzenzeiten des Bluewin-Chats auch noch dauernd eine Verbindung ans Netz in der Hosen- oder Handtasche. Ich mag mir nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn statt dem Bluewin-Chat Chatroulette oder gar Snapchat unsere späte Kindheit geprägt hätte.

Benj auf Twitter: @biofrontsau

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