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Wiener Originale

Wiener Originale: Gerry Geiger

Augustin-Verkäufer und Frauenheld Gerry Geiger über Obdachlosigkeit, Krebs, Räusche und den Gürtel.

Fotos von Christoph Schlessmann

Wenn du dir einen Treffpunkt mit Gerry Geiger ausmachen willst und er schlägt ein Lokal am Gürtel vor (zum Beispiel das Gürtelbräu), dann sagt er dazu: „Das findest du ganz leicht. Ist das 4. Lokal, wenn du von der Thaliastraße nach Norden gehst." Den Gürtel kennt vermutlich niemand so gut wie er. Jeden Tag außer Sonntag geht er dort von Lokal zu Lokal und verkauft den Augustin—zwischen vier und 16 Stunden am Tag. Pro Augustin verdient er 1,25 Euro, an guten Abenden (am Wochenende) verkauft er davon 10 bis 15 Ausgaben.

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Gerry kennt man von jenen flüssigen Gürtelabenden, von denen man einen großen Teil vergessen oder verdrängt hat. Aber diese Erscheinung löscht auch der größte Rausch nur schwer aus dem Gedächtnis. Seine unendlich vielen Armreifen hat er von Frauenbekanntschaften, wie er sagt. Außerem ist er seit Jahren 35—er wird nicht mehr älter. Gerry hat mir von seinem Leben als Obdachloser erzählt, von Krebs, Rausch und dem Gürtel.

VICE: Wie viele Stunden arbeitest du am Tag?
Gerry: Montag und Dienstag so 4 bis 6 Stunden, Mittwoch und Donnerstag 8 Stunden und am Wochenende sicher 12 Stunden. Manchmal auch 16.

Von wann bis wann dann am Wochenende?
Um halb 3 fange ich an, am Nachmittag. Meistens fange ich am Yppenplatz an. Dann fahr ich kurz heim, was essen und dann fahr ich wieder los.

Also am Wochenende bist du von nachmittags bis mitten in die Nacht unterwegs?
Ja. Im Winter weniger, im Sommer mehr. Obwohl bei den großen Straßenfesten im Sommer verdienst eh nichts, da kauft keiner was.

Warum?
Ich weiß es nicht. Die sagen dann, sie haben sich gestern eh einen gekauft und du kannst ja nicht wissen, ob das stimmt. Du musst ihm dann glauben, dass er wirklich einen hat. Ich kann ihn zwar fragen, ob er ihn dabei hat, aber das kannst ja auch nicht machen, vielleicht hat er ihn ja daheim liegen. Du kannst halt fragen, wann er ihn gekauft hat.

Machst du das?
Du, wenn der Augustin neu rausgekommen ist, mach ich Stichproben. Dann frag ich: „Wann hast du ihn denn gekauft?"—„Vorgestern."—„Ja, da hast dann den Alten gekauft." Und frag ihn, ob ich ihm den Neuen geben soll.

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Pro Augustin, den du verkaufst, bekommst du einen Teil, oder?
Die Hälfte. Also 1,25 Euro.

[Die Kellnerin kommt. Gerry bestellt einen Spritzer.]

Jetzt geht's ja, bei der Arbeit musst du aber nüchtern sein, oder?
Ja, das schon. Aber bei mir ist das bisschen anders. Bei mir hat es noch nie eine Beschwerde gegeben. Die Leute kennen mich ja.

Muss man am Gürtel betrunken sein, damit man die Leute aushält?
Müssen nicht. Aber nüchtern kannst eigentlich nicht arbeiten. Da brauchst schon einen langen Atem. Also du hältst die Leute schon besser aus, wenn du betrunken bist. Wenn du nüchtern bist und du riechst die Fahnen von den Leuten … Das hält man eine Zeit lang aus, aber nicht lange. Da musst einen guten Magen haben, bei den ganzen Rauschigen.

Gibt's irgendwas Schräges am Gürtel? Menschen, Lokale, …
Die Junkies bei der U-Bahn Josefstädterstraße. Die gehen mir auf die Nerven. Die kennen mich seit Jahren und jeden Tag fragen sie mich. Aber ich brauch ja nichts. Ich hab ja immer meine Kopfhörer drin, aber sie fragen trotzdem immer.

Was fragen sie dich immer?
Alles mögliche. Ich soll ihnen ein Bier zahlen, zum Beispiel. Dann sag ich: „Schau ich so aus, als könnt ich euch ein Bier zahlen?". Die sollen mir lieber bis morgen 10 Euro borgen.

Und die Leute, die am Gürtel fortgehen? Wie sind die?
Mit denen versteh ich mich eh immer gut. Nur einmal ist einer zum Würstelstand bei der Thaliastraße gekommen. Er mit Anzug, ich mit meiner Zeitung in der Hand, um 2 oder 3 in der Früh, kommt der zu mir und motzt mich an. Keine Ahnung warum. Sag ich: „Was willst du? Lass mich anglahnt."—der fand nicht gut, wie ich ausgeschaut hab. Dann hat er mich gepackt und ich ihn. Ich hab dann gesagt, er soll mich auslassen, dann lass ich ihn auch aus—wollte er nicht. Dann hab ich ihm das Hemd zerrissen und er hat gleich mit seiner Mama telefoniert und geheult, dass sein Hemd kaputt ist. Ich brauch aber nirgends hingehen, wo ich mich schön anziehen muss. Ich zieh mich an, wie ich mag. Mir doch wurscht. Ins Gericht bin ich auch so gegangen.

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Ins Gericht? Warum Gericht?
Na ja, wegen meinem Verfahren mit der PVA.

Was war das für ein Verfahren?
Die haben mich aus der Pension geschmissen, weil es mir eh schon wieder besser geht und ich wieder arbeiten kann. Na ja, aber ich muss ja meine Drogen nehmen.

Welche Drogen?
Ich hab Leukämie. Seit 10 Jahren ungefähr. Die Gebietskrankenkassa hat gesagt ich soll ansuchen und jetzt wo es mir aber besser geht, hat mich die PVA rausgeworfen. Vor Gericht hab ich dann aber eh verloren. Dann hab ich eine Sperre von 12 Monaten bekommen. Hab ich auch noch nie gehört, dass die PVA dir einfach eine Sperre reinhauen kann.

Die Medikamente zahlt aber schon noch die Krankenkasse oder?
Ja, die muss ich ja nehmen. Sonst wär ich schon unter der Erde. Kann so eh auch passieren, weißt ja nie, wie lange das dauert.

Ich hab gehört, du warst zwei Jahre obdachlos. Wie ist das passiert?
Ja, zwischen zwei und drei Jahren. Ich war so gescheit und hab einen Kredit aufgenommen, weil ich meine Wohnung herrichten wollte und dann hab ich mich mit meinem Chef zerstritten, weil der wollte, dass ich für den gleichen Lohn noch mehr arbeite. Dabei war ich eh schon so unterbezahlt. Ich hab gesagt, dass ich das nicht mache, also hat er gesagt, dann muss ich gehen. So bin ich obdachlos geworden.

So schnell geht das?
Na ja, es hat schon gedauert, aber ich konnte eben viel nicht mehr bezahlen und dann ging's schon schnell.

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Wo hast du damals geschlafen?
In der Gruft war ich einen Tag oder so, aber das ist nicht meins. Da musst alles festnageln, weil sonst hast in der Früh vielleicht keine Schuhe mehr.

Schauen da die Leute alle auf sich selbst? Ist das nicht so, dass man zusammenhilft?
Nein, da schaut jeder nur auf sich. Also vielleicht jetzt nicht mehr, aber als ich dort war. Also bin ich dann wieder weggegangen. Und sicher war es im Winter sehr kalt. Aber ich hab dann ein Versteck gefunden, das hat keiner gekannt. Das hab nicht einmal ich selbst gekannt. Ich hab das nur zufällig entdeckt. Keiner hat gewusst, dass das ein Klo ist. Da musste ich nicht einmal zusperren.

Aber jetzt hast du wieder eine Wohnung.
Ja, ich bin dann zum Augustin und dann ist es immer besser gegangen. Du kannst halt nicht dein ganzes Geld versaufen. Hab ich nie gemacht. Sicher am Anfang auch ein bisschen, aber ich hab immer was auf die Seite getan. Und jetzt hab ich wieder alles, was ich brauch.

Wie war diese Zeit im Nachhinein betrachtet?
Ja schrecklich. Aber viele wissen nicht, was es heißt, obdachlos zu sein.

Ja klar, ich kann mir auch absolut nicht vorstellen, wie das ist.
Na, für dich wär das nichts. Für Frauen ist es aber auch noch schlimmer, als für Männer. Aber zum Glück gibt es Frauenhäuser und Tageszentren für Frauen.

Wenn du jetzt Obdachlose siehst, was denkst du dann? Hast du Mitleid, weil du weißt, wie beschissen das ist, oder eher kein Mitleid, weil du weißt, dass sie es rausschaffen könnten—so wie du?
Manche wollen gar nichts ändern. Ich hab mal einen gekannt, der hätte drei Mal eine Wohnung bekommen, aber er wollte nicht. Ist dann auch auf der Straße gestorben. Der war schon seit 20 Jahren auf der Straße und da wollte er auch bleiben. Und bei manchen ist es so, dass sie im zwar Winter schon eine Wohnung brauchen würden, aber im Sommer nicht. Also wollen sie sich die Arbeit gleich gar nicht machen.

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Bist du schon einmal aus einem Lokal rausgeschmissen worden?
Ich nicht. Beim Nestroyplatz gibt's ein paar Lokale, auf denen steht „Augustin—Nein danke" oder so auf der Tür. Da dürfen wir gar nicht erst rein. Mir ist das wurscht, ich kann nicht sagen, warum die das machen, hab ja selbst kein Lokal.

Werden andere Augustin-Verkäufer schon manchmal aus Lokalen am Gürtel geschmissen?
Es gibt ja auch falsche Verkäufer, die sind meistens zu Zweit unterwegs und wollen eigentlich Sachen stehlen. Ins Chelsea darf zum Beispiel nur ich, weil mich der Besitzer schon seit Jahren kennt und weiß, dass ich ehrlich bin.

Wie viele Zeitungen verkaufst du dann an einem Abend, am Wochenende zum Beispiel, wenn es richtig gut läuft?
10 oder 15 in einer Nacht.

Nervt dich das manchmal, wenn schon 20 Leute hintereinander „nein danke" sagen?
Geh! Gar nicht. Vielleicht haben sie ihn schon oder sie kaufen ihn später noch.

Hat sich der Gürtel verändert, seit du hier bist?
Ja, als das Café Carina gestorben ist, war es schlimm. Jetzt gibt's es eh wieder, aber als die U-Bahn renoviert worden ist, war es zu. Da liegt immer meine Tasche, wenn ich meine Runde anfange.

Fängst du jetzt mit deiner Runde an?
Ja, gleich dann. Bei dem schlechten Wetter mach ich die Runde ein bisschen kürzer.

Hast du also immer Zeitungen dabei?
Immer. Manchmal kommen auch Leute auf der Straße zu mir, weil sie mich kennen, und fragen, ob ich ihnen einen Augustin verkaufe. Dann würd ich mich ärgern, wenn ich keine Zeitungen dabei hätte.

In unserer Reihe Wiener Originale sprechen wir mit interessanten Persönlichkeiten über das Leben und andere wahnsinnige Dinge.

Hanna auf Twitter: @hhumorlos