Wir haben Mittelschicht-Kids gefragt, warum sie zum Spaß klauen
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Wir haben Mittelschicht-Kids gefragt, warum sie zum Spaß klauen

"Ich wollte ja schon gerne so weiterleben wie bei meinen Eltern."

Mein guter Freund Faraz ist eine diebische Elster. Seit Jahren steckt er sich in Supermärkten die Taschen voll und bereitet uns so mit den einfachsten Tricks die köstlichsten Mahlzeiten. Eine schnelle Safran-Suppe? Kein Problem. Seine WG-Küche ist an guten Tagen besser ausgestattet als ein angesagtes Restaurant in bester Gegend.

Sein größter Coup ist ihm vor einigen Wochen gelungen: Mit einem über eBay aus China bestelltem Security-Detagger hat er aus Langeweile einen Givenchy-Pullover im Wert von über 900 Euro gestohlen. Kurz in die Ankleide, den Detagger aus- und den Pullover eingepackt, die Kalbslederhandschuhe, die er zum Anprobieren mitgenommen hatte, mit einem Lächeln zurückgegeben und raus aus dem Laden.

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Eine Woche später ist er bei H&M bei Einstecken einer Hose und zwei Hemden aufgeflogen. Diebstahlwert 70 Euro, Strafe 35 Sozialstunden. Da er aber eh schon neben seinem Bachelor-Studium mit Geflüchteten arbeitet, spielt und Botengänge macht, war diese Strafe für ihn vollkommen hinfällig: Er hat einfach so weiter gemacht wie bisher. Und im Nachhinein noch einen Minijob als Übersetzer bekommen.

Für mich ist Faraz das potenzierte Sinnbild vom jugendlichen Mittelstand: Jung, gutaussehend, Filmstudent, solide sozial engagiert, großer Freundeskreis, bestimmt Helikoptereltern. Er braucht nicht zu stehlen, aber tut es trotzdem.

Dabei ist Faraz nur einer von vielen, hat es jedoch vielleicht ein bisschen übertrieben. Jeder von uns hat schonmal etwas mitgehen lassen, dazu muss man nicht unbedingt muss man nicht unbedingt Teil einer Teenie-Gang gewesen sein. Und bevor du jetzt von dir behauptest, dass du eine weiße (und dazu noch ordentlich bezahlte) Weste trägst, bitte ich dich, dich doch einmal gründlich in deiner Wohnung umzuschauen.

Ein Buch aus der Bibliothek, ein tolles Stück Käse aus dem Spar. Aschenbecher aus der Bar, Weingläser vom Italiener. Im Lokal um die Ecke betrinken und dann aus jugendlichem Leichtsinn die Zeche prellen. Das Perfide daran ist ja, dass wir gerade nicht aus der Not heraus stehlen. Die meisten von uns haben ausreichend Geld, um auszukommen. Wir brauchen die meisten Gegenstände ja nicht einmal. Stecken wir uns die Taschen aus Langeweile voll? Werden wir für den zarten Kick zu Dieben?

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Um es auf den Punkt zu bringen: Stehlen im Supermarkt scheint so normal wie das Samplen eines Songs. Ab und zu erzählt man seinen Freunden davon. Das kleine Hintergehen der großen Geschäfte ist ein nettes Gesprächthema. Eine Freundin zum Beispiel fragt bei ersten Dates gerne mal, ob der gegenüber schonmal was mitgehen lassen hat. Denn jeder hat eine gute Geschichte zu erzählen, und wenn sie nur aus dem nahen Umfeld kommt. Warum stehlen wir ab und zu, obwohl wir es eigentlich nicht müssen?

Ich habe mich mit mehreren Vertretern der Generation Y getroffen und sie darum gebeten, ihre letzten Diebesgüter auszupacken und meine Fragen zu beantworten. Keine Sorge: Nur einer wurde bisher erwischt.

Markus, 26, arbeitet in einer Agentur

VICE: Hey Markus, was war das Letzte, das du hast mitgehen lassen?
Markus: Das Buch hier, von Charles Bukowski. Das lag auf einem Flohmarkt in der Grabbelkiste und hätte wahrscheinlich eh auch nur 50 Cent gekostet. Aber ich habe es mal ausprobiert und es eingesteckt. Hat geklappt.

Hat dir das Buch gefallen?
So sehr, dass ich es heute mitgebracht habe.

Du hast mir auch schon mal von einem Baumarkt erzählt, bei dem was geklaut hast.
Ja, früher war ich in einer Sprayer-Crew. Kennst du diese Farbmisch-Maschinen in Baumärkten? Dort werden hochkonzentriete Pigmente aus großen Flaschen eingesetzt, um dir dann deine Wandfarbe zu mischen. So eine Flasche hat rund 1000 Euro gekostet.

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Wir haben dann im Baumarkt ein paar Etiketten ausgetauscht, wir haben uns dann vier Flaschen für je 20 Cent besorgt … Okkergelb, Rot, Blau und Grün. Damit kann man dann quasi alles mischen. Ein Freund hat es am nächsten Tag nochmal probiert, da hat es dann nicht mehr funktioniert.

Einigen Burschen und Mädchen ist erst im Laufe des Gesprächs aufgefallen, dass sie Alltagsgegenstände, die sie tagtäglich benutzen, gar nicht bezahlt haben. Kurz bevor wir das Café dann in getrennte Richtungen verließen, kam es nochmal aus Markus raus.

Ach warte, da fällt mir noch was ein. Ein Freund hat mal an meiner alten Uni ein Stativ mitgehen lassen. Und da dachte ich mir, als ich mal wieder vor Ort war: „Grafiktablets … davon hat die Uni ja genug …" Achja, und hast du Feuer für mich?

Kun, 28, arbeitet in der Filmbranche

VICE: Hi Kun. Was stiehlst du?
Kun: Teures Parfüm, Magazine und Spirituosen.

Warum stiehlst du?
Es fühlt sich gut an—und spart natürlich Geld. Meistens stehle ich aus Langeweile, ich plane sowas nicht. Wenn ich einen Gegenstand sehe, der gut aussieht, dann nehm ich ihn einfach mit. Es macht mich manchmal sauer, wenn etwas offensichtlich überteuert ist. Dann nehme ich mir vor, das Ding zu klauen.

Hast du kein schlechtes Gewissen, wenn du teure Gegenstände einsteckst?
Nein. Nicht, wenn sie von großen Ketten kommen.

Erzähl mir die beste Geschichte von dir und deinen Freunden.
Ein Freund aus Paris hat mal ein Nylon-Tank-Top von Carven gestohlen, das 900 Euro oder so gekostet haben soll. Er hat den Preis gesehen, ist extrem sauer geworden und ist mit dem Tank-Top in seinem Beutel aus dem Laden gegangen. Ich musste so sehr lachen, denn es ist wirklich ein fantastisches Tank-Top—etwas oversized, schweres Nylon und wenn man es unten zusammenknotet, kannst du es als Einkaufstasche mit Soviet-Print benutzen!

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Faraz, 21, studiert Szenische Künste

VICE: Hi Faraz! Wie hat das mit dem Klauen bei dir eigentlich angefangen?
Faraz: Eigentlich wie bei jedem anderen wahrscheinlich auch. Ich war früher öfter mal mit Freunden unterwegs, die gestohlen haben, und ich war beeindruckt davon, wie easy das doch ist. Als ich umgezogen bin, hat es dann richtig angefangen bei mir. Denn ich wollte ja schon gerne so weiterleben wie bei meinen Eltern.

Stiehlst du andere Gegenstände, als du einkaufst?
Ich klaue definitiv auch andere Dinge, als ich kaufe. Vor allem die Teile, die mich nicht so überzeugen. Weil man beim Klauen nicht überzeugt sein muss vom Kleidungsstück, gerade Basics habe ich immer gerne eingesteckt. Das war ein tolles Gefühl, mit einem Seemannssack nach Hause zu kommen und einfach alles gestohlen zu haben.

Was hast du bisher gestohlen?
Na ja, Gewand und Lebensmittel. Ich bin da richtig auf Tour gegangen. Vorher habe ich mich schick gemacht und bin dann in Städte gefahren, um mehrere hunderte Euro einzuklauen [sic!]. Ich hab letztens die Story mit dem Security-Detagger nochmal erzählt und hatte dabei drei Sachen an, die ich geklaut hatte. Das Outfit hat dann im Endeffekt 1.500 Euro gekostet. Um das mal zu vergleichen: Mein monatliches Einkommen beträgt in etwa 300 Euro.

Hast du dein Verhalten geändert, nachdem du erwischt wurdest?
Ich mach das gar nicht mehr. Ich habe zwei Jahre lang exzessiv gestohlen und mir immer gesagt, wenn ich irgendwann erwischt werden sollte, höre ich halt auf. Dadurch war das ganze Prozedere des Erwischtwerdens für mich auch ziemlich entspannt.

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Gibt es auch unangenehme Momente beim Stehlen?
Ich hab schon ab und zu überlegt, was ich da eigentlich mache. Das Unangenehmste war wohl, wenn man mit Freunden unterwegs war, die nicht klauen. Dann fühlt man sich schon schlecht, wenn man mit drei- bis viermal so vielen Sachen aus dem Laden geht und andere für ihre Gewand 80 Euro bezahlt haben.

Und dir selbst gegenüber hast du immer ein reines Gewissen?
Wenn man sagt Klauen ist nicht cool, weil du im Kant'schen Sinne jede deiner Handlungen darauf abklopfen musst, wie gesellschaftstauglich sie sind … Das ist vollkommener Quatsch. Mir war es wirklich einfach egal. Was eher reinspielt, ist, wenn man positives Feedback bekommt. Wenn andere es feiern, feierst du es auch noch mehr.

Hast du dich auch mal nicht getraut?
Eigentlich hab ich überall gestohlen, aber viele Aktionen waren ziemlich knapp. Vor einem Jahr habe ich viel fotografiert und 35mm-Filme mitgehen lassen. Durch die Ladenregale habe ich dann mitbekommen, dass ein Typ mich anscheinend gesehen und einer Verkäuferin Bescheid gegeben hat. Ich habe also alles zurückgelegt und wurde dann erwartungsgemäß an der Kasse angesprochen. Ich habe dann eine richtige Show abgezogen und erzürnt meine Tasche aufgemacht, die dann ja leer war. Das hat sich ganz schön mächtig angefühlt, vor allem dem Typen gegenüber. Am nächsten Tag bin ich wieder in den Laden und habe die Sachen dann wirklich geklaut. Dann waren allerdings Sicherungen dran, es hat gepiept und ich bin weggelaufen.

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Henning, 27, studiert Theater und Kunst

VICE: Hi Henning, was hast du so bisher mitgehen lassen?
Henning: Ich überleg gerade, was in meinem Zimmer alles geklaut ist—ah, da seh ich doch schon was! Ich hab auf der Kunstuni ein Heft aus einer Kiosk-Installation von einem jungen Künstler eingesteckt.

Oh, du hast einen Studenten bestohlen?
Ja. Das war auch ziemlich blöd und da bin ich nicht stolz drauf, aber das lag wahrscheinlich auch an dem Vibe auf dem Rundgang. Überall waren Burberry ragende Agenten, die mit ihren Telefonen Bilder an die Agenten weitergeleitet haben. Dadurch wurde dann für mich die Kunst zu Nippes und ich habe mir ein kleines Souvenir mitgenommen, ich kannte ja niemanden. Im Nachhinein ist das natürlich keine schöne Sache gewesen.

Weil du eine Straftat begangen hast?
Weil es gegen Moralkonventionen verstößt … und die Bibel … ach komm. Man bekommt das ja anerzogen, dass Klauen schlecht ist. Also per se in jeder Form. Ich lese gerade ein Buch von Marc Augé, in dem er über die dezentralisierte Übermoderne und die Gesellschaft des Übermaßes schreibt. Wohin man guckt, sieht man Ramsch. Jedes dritte Geschäft verkauft ja eigentlich nur Müll. Man ist übersättigt von Konsumgegenständen und verliert jeden Bezug zu einem Wertgefühl und scheißt dann am Ende drauf. So nach dem Motto: „Diesen Artikel finde ich ganz nice, aber den gibt es noch eine Million mal und deswegen steck ich den jetzt ein." Und bei Unternehmen, die in ihre Bilanzen schon eine gewisse Schwundmenge mit einrechnen, denke ich: Who cares.

Wo würdest du dann nicht mehr zulangen? Angenommen, du siehst im Apple Store ein neues MacBook ohne Sicherheitsschloss. Und wenn es direkt am Eingang stehen würde …
… würde ich nicht eine Sekunde zögern. Gerade dann ist die Befriedigung doch groß, wenn der Gegenstand extrem teuer war. Also, come on, wie kann man ernsthaft Gewissensbisse haben oder in einen moralischen Zwiespalt geraten, einen globalen Konzern wie Apple zu bestehlen … Das ist zumindest moralisch überhaupt kein Ding.

Hast du das Klauen eigentlich nötig?
Wenn ich mich beobachte, stehle ich mehr, wenn ich weniger Geld habe—und andersherum. Also ist das schon an meine finanzielle Situation geknüpft. Wenn mein Konto OK ist, dann brauch ich das Risiko nicht eingehen. Wohingegen man einfach mal wieder mit 300 Euro im Minus ist—dann geht man das Risiko viel lieber ein. Weil man natürlich nicht so gern verzichtet. Und nicht einsieht, dass es sich direkt auf den Lebensstandard niederschlägt, wenn man aus irgendwelchen Umständen gerade nicht so flüssig ist. Oh Gott, das klingt grade furchtbar abgehoben.

Wie hast du am Anfang darüber nachgedacht, wenn du was eingesteckt hast?
Vor ein paar Jahren hätte ich meine Diebstahlpraxis noch mit irgendwelchen linken Allgemeinheitsphrasen wie „Eigentum ist Diebstahl" oder „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen" gerechtfertigt.

Würdest du das heute als dumm bezeichnen?
Nee, aber man zerstört den Kapitalismus halt nicht, wenn man Kodak-Filme bei DM einsteckt …

Aber man schadet ja schon in gewisser Weise dem Laden.
Natürlich ist das immer ein kleiner Schaden. Aber kein Diebstahl der Welt hat die Macht, dem globalen Kapitalismus auch nur irgendetwas anhaben zu können. Politische Rechtfertigungen sind einfach kurz gedacht und scheinheilig. Klauen als kleine, rebellische Akte im sonst so konformen Alltag, sozusagen. Das spielt dann in dem Moment, in dem man das macht, schon eine Rolle. Am Ende geht es einfach ums Grenzenaustesten.