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GAMES

Wir haben mit den Machern des ersten 'GTA'-Theaterstücks gesprochen

‚Yet Another World' ist ein Bühnenstück, das halb real, halb virtuell stattfindet—und bei dem die Zuschauer selbst mitspielen können.

Auf der Bühne eine schlanke, hochgewachsene Blondine, die uns von der Zukunft des digitalisierten Menschen erzählt. Vor ihr das aufmerksame Publikum. Eine ganz normale Aufführung, bei der nur die Story etwas ungewöhnlich ist? Nicht so ganz. Jeweils drei Zuschauer teilen sich einen Fernsehbildschirm, auf dem  GTA IV läuft.

Kurz darauf werden wir aufgefordert, der „Simulation" beizutreten. Die Controller werden in die Hand genommen und einen Tastendruck später befinden wir uns mitten in  Yet Another World, dem ersten deutschsprachigen Theaterstück, das zu großen Teilen in einem Videospiel stattfindet.

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Benjamin Burger und Anne Andresen, die Köpfe hinter der schweizerischen Gruppe Extraleben, die seit 2011 gemeinsam an dem Projekt arbeiten, vermengen die urbane Kulisse des Videospieleklassikers GTA IV mit Versatzstücken aus Jonathan Lethems Roman Chronic City und führen den Zuschauer live und in Echtzeit einmal quer durch den New-York-Nachbau Liberty City. Im Rahmen der International Games Week war das Stück zum ersten Mal in Berlin zu sehen und wir haben uns nach der Aufführung mit den beiden Köpfen hinter dem ambitionierten Projekt zusammengesetzt. Können Games wirklich Hochkultur sein? Und wie hält man die Mitspieler davon ab, die Story zu boykottieren und sich gegenseitig niederzumetzeln? Wir haben nachgefragt

Alle Bilder: Extraleben

Warum ausgerechnet GTA IV?
Benjamin: Ich habe tatsächlich verschiedene Spiele ausprobiert: World of Warcraft, diverse Shooter wie Call of Duty, Mirror's Edge … Ich glaube, ich habe es sogar mit Strategiespielen probiert und versucht, das alles miteinander zu verknüpfen. Open-World hat aber mehr Möglichkeiten geboten und das urbane Setting bei GTA IV hat am meisten hergegeben. Die Welt von World of Warcraft gibt ästhetisch zum Beispiel schon so viel vor, dass wenig Raum für Projektionsfläche bleibt. GTA IV ist einerseits zwar ein Nachbau von der realen Welt, andererseits aber auch so flach, dass man sehr viel hineinprojizieren kann.

Anne: GTA passt auch sehr gut zu dem Roman, den wir für das Stück adaptieren, weil es auch mit der Realitätsverschiebung spielt. Da wird dann New York nachgebaut, aber man packt der Freiheitsstatue eben einen Starbucks-Becher in die Hand.

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Benjamin: In dem Buch Chronic City wird die Frage nach der Simulation eines Lebens sehr subtil aufgeworfen und dem haben wir uns beispielsweise auch zu Beginn des Stücks, wo sich Extraleben als Firma vorstellt, bedient. Tatsächlich hatten wir erst das Spiel, bevor wir den Roman gefunden haben. Da war die größte Challenge, zu überlegen, wofür das Spiel als Symbol stehen kann und was wir eigentlich erzählen wollen. Es geht nicht darum, einfach zusammen irgendetwas zu zocken.

Anne: Der Gedanke war auch: Was ist denn, wenn man sich in einem Spiel, in dem man eigentlich ganz andere Aufgaben hat und Autos stiehlt oder sich prügelt, einfach mal umschaut? Gerade weil es so viele tolle Referenzen gibt. Was wäre, wenn wir eine Stadtführung machen? In der Probephase war es ein richtiggehender Prozess, dass wir uns erst einmal sehr intensiv in dem Spiel umgeschaut haben.

Benjamin: Wir haben richtiges Location-Scouting gemacht und mittlerweile habe ich beinahe das Gefühl, New York als Stadt richtig zu kennen. Obwohl ich noch nie da war.

Location-Scouting in einem Videospiel? Wie kann ich mir das vorstellen?
Anne: Wir hatten uns die Karte von GTA riesig groß ausgedruckt und sie an die Wand gehängt, haben uns Nadeln und Pins gekauft und sind dann wochenlang zu mehreren Leuten durchs Game gelaufen. Immer, wenn wir was gefunden haben, was zum Roman passen könnte, haben wir das auf der Karte markiert und noch einen Screenshot dazugepackt. Wir wussten zum Beispiel, dass wir eine Bühne für Chase' ersten Auftritt oder einen Wohnort für Perkus brauchen, und sind dann auf die Suche gegangen. Wir haben uns vorgestellt, wo diese Person leben könnte, haben uns alle möglichen Orte angeschaut und dabei alte Verliese und so was gefunden. Das war natürlich auch ein Anreiz für uns: interessante, neue Dinge in GTA zu entdecken, die man vielleicht gar nicht findet, wenn man einfach nur der Haupthandlung folgt.

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Benjamin: Es waren bestimmt insgesamt drei bis vier Monate, die wir täglich in diesem Spiel verbracht haben. Vor allem unser Mitglied Fiona, die auch Timings herausfinden musste. Wie lange dauert es, mit dem Boot von A nach B zu fahren? Können wir die Gruppe da lang laufen lassen oder gibt es Gefahren auf dem Weg? Ist es klug, die an diesem Kanal entlang zu führen, weil wir die Leute nicht mehr rauskriegen, wenn einer reinfällt? Sie hat auch den Glitch entdeckt, der am Schluss zeigt, dass sich unser Hauptcharakter nicht in einer realen Welt befindet. Vergleichbar mit dem Moment, wo Truman mit dem Boot an den Rand seiner Studiokulisse stößt.

Gerade Spiele wie GTA provozieren den Spieler ja dazu, aus dem auszubrechen, was das Spiel ihm vorgibt, und die Grenzen des Machbaren zu testen. Ich kann mir vorstellen, dass es unter diesen Umständen ziemlich schwer ist, auf das Live-Publikum zu reagieren.
Anne: Das ist auch absolut der Fall. Wir haben das immer wieder live getestet und uns immer wieder ein bisschen neu ausgerichtet. Man lernt bei jeder Aufführung neu dazu, mit jedem neuen Publikum hat man wieder einen neuen Gedanken. Es ist eine Balanceakt zwischen den Regeln, die man aufstellen muss, damit jeder der Story folgen kann, und der Freiheit, die man den Leuten natürlich gerne geben möchte. Diese Momente, in denen die Leute den Controller aus der Hand legen müssen, haben wir zum Beispiel einführen müssen, weil sonst niemand mehr der Handlung gefolgt ist.

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Benjamin: Es ist manchmal wirklich schwierig, alles im Auge zu behalten. Ich steuere zum Beispiel Perkus, den Irren, muss aber gleichzeitig auch wissen, wo sich alle gerade befinden. Deswegen verfahre ich mich in der Hektik auch öfter mal und Fiona muss mir dann den Controller aus der Hand reißen und wieder auf Kurs bringen. Es hat mal jemand geschafft, während der Storyline einen Helikopter zu kapern und dann ein Dauerfeuer in die Gruppe reinzuschießen. Das war während einer Liebesszene, die wir mittlerweile nicht mehr mit drin haben.

Glaubt ihr, dass Yet Another World eine Art Wegbereiter dafür sein könntet, dass Videospiele zukünftig mehr im Bereich der Hochkultur stattfinden?
Anne: Das klingt vielleicht ein bisschen hochgegriffen, aber ich könnte mir das schon vorstellen. Es gibt ja mittlerweile viele Versuche des Theaters, sich interaktiver Strukturen zu bedienen, aber dass wir jetzt mal von der anderen Seite rangehen und ein Game wirklich in den Bühnenraum holen, das ist schon was relativ Neues. Wir waren damit jetzt eher in der Off-Szene unterwegs, aber trotzdem hatten viele unserer Besucher zum ersten Mal einen Controller in der Hand und das waren dann die, die besonders ausgeflippt sind.

Benjamin: Wir haben jetzt keinen missionarischen Hintergrund, aber für uns ist das ganz klar ein Kulturgut. Viel spannender war es allerdings, die Feststellung zu machen, dass es nicht nur ein Kulturgut, sondern auch ein Kulturraum ist. Es war für uns wahnsinnig spannend, diesen Raum, den wir ja an sich nicht verändern können, für uns umzudeuten und zu decodieren—auch in dem Bewusstsein, dass wir bei unseren Besuchern auf Leute treffen, die eine ganz andere Erinnerung an diesen Raum haben und dieses Spiel vielleicht eher mordend und massakrierend erfahren. Und dann müssen die mit uns auf einmal bei jeder blöden Ampel halten. [Gelächter] GTA ist ein Kulturraum, in dem tatsächlich reale soziale Interaktionen stattfinden und Menschen reale Erfahrungen machen, auch wenn es ein virtueller Raum ist. Deswegen muss man dieses Spiel auch ernst nehmen.

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