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Vice Blog

Wir sind den gängigsten Vorurteilen zu Flüchtlingen auf den Grund gegangen

Abfälliges Gerede über Wirtschaftsflüchtlinge, die Müll produzieren und unser Essen nicht zu schätzen wissen, nimmt zu. Wir haben versucht, diese Mythen mit Fakten zu entkräften.
Foto von VICE Media

Es hätte ein Sommerloch wie jedes andere davor werden können—die Politiker haben Ferien und die heimische Nachrichtenlage dreht sich in erster Linie um Hitzerekorde und Wespenplagen, während uns das alles noch mehr als üblich zeigt, das wir auf einer sonnigen Insel der Seligen schwimmen.

Heuer kam es dann aber doch ein bisschen anders. Die großen globalen Konflikte haben mit den zunehmenden Flüchtlingszahlen endgültig auch unser Land erreicht. Das sorgte für viel Aufregung und eher wenig Besonnenheit und führte dazu, dass mehr und mehr Vorurteile in der Debatte ihren Platz finden. Wir haben uns einige dieser Vorurteile genauer angeschaut—und dabei einiges relativiert und widerlegt.

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Vorurteil 1: Wirtschaftsflüchtlinge

Foto: Screenshot Youtube

„Wir sind nicht das Sozialamt der Welt", meinte der deutsche CSU-Politker Horst Seehofer Anfang des Jahres. Er befeuerte dabei das Totschlagargument des Wirtschaftsflüchtlings, ohne das die Debatte rund um die Flüchtlinge (leider) nicht mehr auszukommen scheint—sei es in TV-Talkrunden, am Stammtisch oder im Parlament. Wirtschaftsflüchtlinge werden als Personen angesehen, die aus vermeintlich sicheren, aber armen Ländern kommen und sich hierzulande nur unter dem falschen Vorwand einer Verfolgung eine bessere Existenz aufbauen wollen. Sie sind also das, was die politische Rechte gerne „Scheinasylanten" nennt.

Die FPÖ-Abgeordnete Dagmar Belakowitsch-Jenewein hat im Juni in der vermutlich geschmackloseste Parlamentsrede des bisherigen Jahres—wir erinnern uns an die Forderung, Militärmaschinen für Abschiebungen zu verwenden, denn da könnten die Betroffenen „so viel schreien und toben wie sie wollen"—auch nebenbei eine ganz bestimmte Zahl genannt: 70 Prozent der Flüchtlinge seien in Wahrheit Wirtschaftsflüchtlinge, hätten damit keinen Asylgrund und sollten folglich gefälligst abgeschoben werden. Die Zahl, betonte sie damals, sei von offizieller Seite; nämlich aus dem Bundesamt für Asyl.

Ein Anruf im Innenministerium widerlegt diese Aussage jedoch. Innenministeriums-Sprecher Grundböck schlüsselt gegenüber VICE die tatsächlichen Zahlen auf: Im ersten Halbjahr Jahr 2015 gab es bisher insgesamt 17.472 Asylstatus-Entscheidungen, davon waren 34 Prozent positiv. „Der Umkehrschluss, dass 66 Prozent negativ sind, ist aber unzulässig" erklärt der er. Denn diese seien noch einmal zu unterscheiden in:

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  • 16 Prozent (ca. 3000 Fälle) sogenannte Prognose-Entscheidungen über Familiennachzug

  • 10 Prozent der Fälle, in denen subsidiärer Schutz gewährt wurde—also zwar kein Asyl auf Dauer, aber Schutz auf Zeit
  • 20 Prozent Verfahrenseinstellungen—Personen die das Verfahren nicht weiter mitverfolgen, sondern weiterziehen und behördlich nicht mehr greifbar sind
  • Und 20 Prozent tatsächlich negative Entscheidungen, von denen aber nicht alle aufgrund sogenannter wirtschaftliche Gründe entschieden worden sind.

Von den 70 Prozent, die Belakowitsch-Jenewein nannte, bleiben also offiziell nicht einmal 20 Prozent sogenannter „Wirtschaftsflüchtinge" übrig. Und Sprecher Grundböck ergänzt zudem: „Der Begriff Wirtschaftsflüchtling wird als solcher von der Asylbehörde in der Prüfung überhaupt nicht verwendet."

Falsche Zahlen in der Flüchtlingsthematik sind bei der FPÖ keine Seltenheit. Erst im letzten ORF-Sommergespräch behauptete Heinz-Christian Strache, dass die meisten Asylanträge („26 Prozent") in der EU aus dem Kosovo kommen—einem Land, wo kein Krieg herrsche und es sich also nur um Wirtschstsflüchtlinge handeln müsse. Laut Eurostat sind jedoch nur 6 Prozent der Anträge aus dem Kosovo; die zahlenmäßig größte Gruppe kommt mit Abstand aus Syrien (20 Prozent).

Man muss sich eigentlich nur die Länderangaben ansehen, aus denen die meisten Anträge stammen, um zu sehen, dass der Mythos Wirtschaftsflüchtling aktuell völlig übertrieben ist: Bis einschließlich Juni 2015 stammten die meisten Anträge in Österreich aus Syrien (7.692), Afghanistan (5.749), dem Irak (3.806), Kosovo (2.298), Pakistan (1.183) und Somalia (1.163).

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Mit Ausnahme des Kosovos (wo die Zahlen seit Februar aber massiv rückläufig sind) spiegeln diese Länder fast haargenau jene Staaten wieder, die im jährlich erscheinenden Global Peace Index als am gefährlichsten und konfliktreichsten zu beurteilen sind, nämlich absteigend: Syrien, Irak, Afghanistan, Süd-Sudan, Zentralafrikanische Republik, Somalia, Sudan, Kongo, Pakistan, Nordkorea.

Die Menschen, die also hierzulande um Asyl ansuchen, stammen nicht aus den wirtschaftlich ärmsten Ländern, sondern ganz einfach aus den gefährlichsten.

Vorurteil 2: Männliche Flüchtlinge

Foto: Anonym für VICE

Bei der großen Mehrheit der Flüchtlingen handelt es sich tatsächlich um Männer. Das Verhältnis hält sich aktuell bei 78,57 Prozent gegenüber 21,43 Prozent weiblicher Anträge. Und die Vorwürfe dazu sind bekannt: Wie können Männer nur ihre Frauen und Kinder in den angeblichen Kriegsgebieten zurücklassen? Warum kämpfen sie nicht daheim anstatt zu wegzurennen? Wären nicht Frauen und Kinder die eigentlichen Schutzbedürftigen?

Beim UNHCR Österreich nennt man gegenüber VICE drei Hauptgründe, wieso das Verhältnis derzeit so unausgewogen ist: Zunächst ist da die große Gefahr, die mit den Flüchtlingsrouten aus Nordafrika und dem Nahen Osten verbunden ist. „Sehr oft gehen die Männer voran und versuchen später, bei positivem Asylbescheid ihre Frauen, die etwa in Flüchtlingslagern vor Ort warten, nachzuholen", erklärt uns eine Sprecherin. „Zusätzlich zur Gefährlichkeit der Strecke kommen auch noch besondere Risiken für Frauen und Mädchen, wie körperliche Übergriffe."

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Ein weiterer Grund sind bestimmte kulturelle Faktoren, die vorsehen, dass Mädchen im Schutz der Familie oder der Eltern bleiben müssen und ohne männliche Begleitung gar nicht losziehen dürfen. Oft werden gezielt die kräftigsten oder bestgebildeten Söhne losgeschickt und mit den verfügbaren finanziellen Mitteln ausgestattet. Drittens gebe es laut UNHCR auch bestimmte männerspezifische Risiken, die zur Flucht bewegen: „Es herrscht Rekrutierungsdruck oder andernfalls Verfolgung—sei es durch das offizielle Heer oder durch Milizen, wie in Afghanistan oder Somalia."

Wie gefährlich der Weg nach Europa ist, zeigt das Datenjournalismus-Projekt The Migrant Files, das recherchiert hat, dass seit dem Jahr 2000 bis zum heutigen Tag 30.429 Personen auf ihrem Fluchtweg verschwunden oder gestorben sind. Allein heuer gab es durch die Schiffskatastrophen im Mittelmeer schon rund 2.300 Tote.

Vorurteil 3: Flüchtlinge beschweren sich über das Essen

Foto: VICE Media

Anfang Juni gab es Wirbel um eine Meldung aus dem Flüchtlingslager in Linz. „Flüchtlinge bewerfen Polizisten mit Essen" titelte die Krone und ÖSTERREICH sprach von einem „Aufstand im Flüchtlings-Zeltlager wegen Essen". Schon bald darauf wurde bekannt, was eigentlich passiert war: Ein einzelner Flüchtling rastete aus, drohte sich selbst mit einem Buttermesser umzubringen und beschwerte sich, dass es zu wenig (warmes) Essen im Lager gebe.

Der Vorwurf, Flüchtlinge würden das Essen und die Versorgung der heimischen Einrichtungen nicht zu schätzen wissen, hält sich seitdem hartnäckig—und das, obwohl kein einziger anderer Fall bekannt ist, bei dem ein Flüchtling auf diese Art reagiert hätte.

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Bei einem Lokalaugenschein von VICE in Traiskirchen gab es von Flüchtlingen unterschiedliche Meinungen hinsichtlich des Essens zu hören—für manche ist es in Ordnung, für manche weniger. Ein Aufstand oder große Aufregung wegen der Mahlzeiten steht jedenfalls sicher nicht bevor. Problematischer seien eher die langen Wartezeiten bei der Essensausgabe. Im jüngsten Bericht von Amnesty International zum Flüchtlingslager Traiskirchen wird darauf ebenfalls kritisch eingegangen: „Nach Angaben der AsylwerberInnen dauert das Anstellen zum Essen zwei Stunden", heißt es dort.

Dass zuletzt ein Gericht mit Speck und Reis serviert wurde (dies wäre für die Vielzahl an muslimischen Flüchtlingen keine Option) konnte widerlegt werden. Auch solche Falschmeldungen gibt es aus Traiskirchen, Missverständnisse herrschen auf allen Seiten. Das gilt etwa auch für kohlensäurehaltige Getränke wie Mineralwasser, das die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten schlichtweg nicht kennen und nicht für genießbar halten. Derartige kulturelle Unterschiede sind aber nicht nur normal (und in die andere Richtung genauso gängig), sie sind darüber hinaus auch kein Grund, gleich populistische Schlagzeilen zu zimmern, nur weil dem einen oder anderen Flüchtling das Essen nicht passt.

Viele freiwillige Helfer und Bewohner von Traiskirchen bringen privat selbst Nahrungsmittel zum Lager. Da kommt es oft vor, dass die Waren aufgrund der Wetterlage und des mangelnden Platzes zur Lagerung verderben oder nicht zubereitet werden können, weil dafür Kochstellen fehlen.

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Man sieht: Die Probleme rund um die Essensversorgung beziehen sich vor allem auf die logistisch schwierige Situation in den überfüllten Lagern, nicht auf die geschmacklich hohen Ansprüche der Flüchtlinge.

Vorurteil 4: Das Müllchaos

Foto: Screenshot Facebook

Bei den Vorwürfen zur Müllsituation in den Flüchtlingsheimen verhält es sich ähnlich wie bei der Essensversorgung. In sozialen Netzwerken wurden in den vergangenen Tagen immer mehr Bilder gepostet, auf denen unter falschem Vorwand die Müllsituation in Traiskirchen und anderen Zeltlagern angeprangert, und die Flüchtlinge dafür in ziemlich verächtlichem Ton dafür verantwortlich gemacht werden.

Besonders ein Bild, das ein chaotisches Zelt im neuen Lager in Althofen zeigt, wurde über 30.000 mal gesharet und mit dem Titel „Geht man so mit Spenden um und macht solchen Saustall wenn einem geholfen wird?" von empörten Usern bis nach Deutschland verbreitet. Dass das Foto völlig aus dem Zusammenhang gerissen war und die Flüchtlinge für den unordentlichen Zustand nicht verantwortlich gemacht werden können, haben wir hier bereits aufgedeckt.

Dasselbe gilt für Traiskirchen. Zum einen hat das schlechte Wetter der letzten Tage viel Dreck und Unordnung mit sich gebracht, zum anderen tragen auch sicher die eigentlich gut gemeinten und sehr zahlreichen Sachspenden von Bewohnern Traiskirchens und Freiwilligen zum Chaos beitragen. Wir haben beim Besuch in Traiskirchen zahlreiche Autos vorfahren gesehen, aus denen Menschen ihre Sachspenden ausladen. Das Meiste davon sind nützliche Dinge, die aber leider mangels Personal nicht vernünftig koordiniert, gelagert und verteilt werden können und am Straßenland landen. Ein kleiner Teil ist es aber auch einfach Gerümpel, das nicht wirklich verwendet werden kann.

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Fazit:

Vorurteile gegenüber Flüchtlinge verbreiten sich schnell (via sozialen Netzwerken), sie verbreiten sich oft mutwillig (von diversen Politikern und Medien) und sie bleiben leider zu oft dauerhaft in den Köpfen der Menschen hängen.

Die Grundlage dafür schuf sicherlich das lange Zögern der Politik und die Ballung der Flüchtlinge auf einige wenige Aufnahmezentren, unter denen Traiskirchen mittlerweile über die Landesgrenzen hinweg traurige Berühmtheit erlangt hat. Die Errichtung von Zeltstädten war ein Tabubruch, aber mittlerweile scheint hier ein Gewöhnungseffekt eingetreten zu sein. Weitere Zeltstädte wurden errichtet, wie zuletzt in Althofen in Kärnten. Daraus entstammen dann nicht selten Fotos oder Meldungen, die mit verzerrten Infos verbreitet werden und so ein Bild erzeugen, das die Menschen denken lässt, unser gesamtes Land platze vor Flüchtlingen aus allen Nähten.

In der Bundespolitik hat man sich zuletzt auf ein Durchgriffsrecht geeinigt, das eine Verteilung und eine Quotenerfüllung endlich realisieren soll. Es ist höchste Zeit, dass das konzentrierte „Problem" zerstreut wird—und mit ihm die dazugehörigen Vorurteile.

Thomas auf Twitter: @t_moonshine