Wo Mädchen von Bäumen versenkt und geschwängert werden

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Wo Mädchen von Bäumen versenkt und geschwängert werden

Pfingstblüttler sind wandernde Bäume, die Frauen in den Ettinger Dorfbrunnen werfen. Das Fruchtbarkeitsritual gefällt auch militanten Atheisten.

Die drei Gestalten sind perfekt getarnt: Komplett mit Buchenlaub bedeckt lauern sie dem ersten Opfer an einer Ecke auf. Das Mädchen bemerkt nicht, dass keine normalen Gewächse neben ihr stehen. Dann rennen die Bäume los—wie die Ents aus Herr der Ringe, doch nicht so träge. Die Baum-Menschen packen die kreischende junge Frau und werfen sie in den nächsten Brunnen. Beim Auftauchen wird aus dem Kreischen ein Lachen: Die Erfrischung am heissen Junitag hat gutgetan.

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Beim Pfingstblüttlern, einem Fruchtbarkeitsbrauch, kommt Action in die Baselbieter Gemeinde Ettingen. Die Tradition ist wenig bekannt, doch einzigartig. Am Pfingstsonntag kleiden sich jeweils drei Typen mit Buchenreisig ein. Als Faune, wilde Waldgeister, gehen sie morgens auf Mädchenjagd. Jede Frau, die ins kühle Nass getunkt wird, soll bald schwanger werden—zumindest nach dem einstigen Volksglauben.

Die 15-jährige Sina hat es als Erste erwischt: Sie ist extra aus Zürich angereist, um in den Brunnen geworfen zu werden. "Ich hab nicht damit gerechnet, dass sie mich schon so schnell einfangen—doch es war schön", meint sie durchnässt. Die drei bäumigen Gesellen geistern weiter auf der Hauptstrasse umher. Jetzt haben sie eine junge Mutter auf dem Radar. Die Pfingstblüttler gratulieren ihr schon mal im Voraus zum nächsten Kind. "Das heisst nun ab sofort kein Sex mehr", sagt sie nach der Landung im Brunnen lachend.

"Es ist ein Riesengaudi", meint der 22-jährige Philipp, der dieses Jahr als "Gastblüttler" mitmacht. "Alles was jung ist, kommt in den Brunnen", ist sein Credo. Sein Kollege Sandro ist zum vierten Mal dabei. "Wir erhalten einen Brauch aufrecht—und trinken erst noch gratis", schmunzelt er. In der Tat: Die Frauenjäger werden bei ihren Zwischenstationen mit Bier und selbstgebranntem Quittenschnaps versorgt. Trotz reichlich Alk und den vielen Ästen können die Pfingstblüttler einen ordentlichen Sprint hinlegen, um die rennenden Mädchen zu schnappen.

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Die Faune suchen neue Beute. Die Jagd geht an verdutzten Bus-Fahrgästen und Autofahrern vorbei. Bei einer Weide werden sie selbst zu Verfolgten, da ein paar Ziegen dem wandelnden Buchenlaub auf den Fersen sind. Schon haben die Pfingstblüttler zwei Mädchen in Shorts erspäht. Die lassen sich aber nicht einfach fangen. Bald sind sie trotzdem umzingelt und im Brunnen versenkt.

Ein prominenter Gast wohnt dem wilden Treiben bei: André, der bekennende Atheist und Schachspieler ist in Basel wegen seinen selbstbeschrifteten Blasphemie-Shirts bekannt. Gerne provoziert er Leute, die an Infoständen missionieren—ob die Zeugen Jehovas oder den Islamischen Zentralrat. Seine eigene Interpretation des Ettinger Pfingstbrauchs: "Das wurde gegen die Kirche erfunden, um sich den Verboten zu widersetzen."

Der ausgefallene Fruchtbarkeitsbrauch der Pfingstblüttler, die auch als Pfingstblitter bekannt sind, geht ins 19. Jahrhundert zurück. "Wann genau er aufkam, wissen wir aber nicht", erklärt Constantin Stöcklin vom Kulturhistorischen Verein Ettingen. Nach einem Versuch in den 30er-Jahren wurde er um 1976 vom Kulturhistorischen Verein neu zum Leben erweckt.

Ursprünglich wollten die Baum-Männer die Ettinger Mädchen nach der Kirche abpassen und mit dem Brunnenwasser segnen. Heute kommen die Mädchen als Freiwild extra ins Dorf. "Einst wurden sie nur angespritzt, mit der Zeit landeten sie ganz im Wasser", sagt Constantin Stöcklin. Am Ende ist alles, was jung und weiblich ist, platschnass. Die Geburtenrate kann in Ettingen also explodieren. Die Pfingstblüttler genehmigen sich nach getaner Arbeit einen weiteren Drink in der Hitze. "Das war ein guter Jahrgang—wir haben viele erwischt."

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