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The Road to Nowhere Issue

Zwei Wodka und ein Eiskaffee mit Salman Rushdie

,Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte': 27 Jahre nach der Fatwa gegen ihn veröffentlicht Rushdie einen neuen Roman.

Porträt von Michael Marcelle

Aus der Wir blicken in den Abgrund Ausgabe 2015

In Salman Rushdies Romanen haben Moguln schon Ehefrauen ins Leben geträumt und Männer Stürze aus Flugzeugen überlebt, um daraufhin skandalöse alternative Biografien Mohammeds zu träumen. Der letztere der beiden Träume stammt aus Die Satanischen Verse und überschritt 1989 die Grenze zwischen Fiktion und Realität. Ajatollah Chomeini sagte, das Buch sei „gegen den Islam, den Propheten und den Koran", und rief in einer Fatwa zur Tötung Rushdies auf.

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Rushdies eigene Träume haben keine solche Macht. „Sehr langweilig", sagt der Schriftsteller über sie, als er im Russian Tea Room in New York an seinem Eiskaffee nippt. „Ich glaube, ich brauche die ganze Traumkraft in meiner täglichen Arbeit auf, deshalb träume ich vom Zeitunglesen und Spazierengehen. Ich schlafe immer sehr gut."

Es war kurz nach 17:30 Uhr an einem Wochentag im Juli und Rushdie befand sich seit ein paar Wochen in der speziellen Phase zwischen der Fertigstellung eines Buchs und seiner Veröffentlichung. Er hatte mir zwei Stunden gegeben, und die verbrachten wir bei Drinks und einem Imbiss in einer der markanten rotledernen Sitznischen. Der Russian Tea Room, lange bekannt als ein Ort, an dem sich reiche und bedeutende New Yorker trafen—Rushdie wurde dort Mitte der 1980er von seinem Agenten Andrew Wylie geworben—war an jenem Tag fast leer. Das Café wirkte mit seinen antiken Samowaren, Kronleuchtern und vergoldeten Phönixen wie ein Mausoleum der Dekadenz.

Die Bewegungen des 68-jährigen, in In­dien geborenen Romanautors waren von einer routinierten Zurückhaltung—eine Art Schutzmaßnahme, wie sie jemandem in seiner öffentlichen Position vermutlich zur Gewohnheit wird. Doch er schien auch eine Zerbrechlichkeit zu besitzen, die vor allem seine kleinen und zarten Hände ausstrahlten. Ich hatte fast Scheu, sie zu schütteln, genau wie ich auch sonst nervös war. Rushdie war der Autor einiger meiner Lieblingsromane, und er ist auch jemand, über den man Geschichten hört. Drei verschiedene Leute—die ihn allesamt noch nie getroffen hatten—hatten mich gewarnt, er könne manchmal ein Arschloch sein. Jemand anderes kannte wieder jemanden, der mit ihm per E-Mail oder vielleicht SMS kommuniziert hatte, wobei es mutmaßlich zum Einsatz von Emoticons kam, wie sie sich für einen mit dem Booker Prize ausgezeichneten Knight Commander of the Order of the British Empire nicht ziemen.

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Als Rushdie mit seinem Eiskaffee fertig war, fragte ich ihn, was er davon hielte, dass man Geschichten über ihn erzählte—und das oft sehr öffentlich. „Ich interessiere mich ganz ehrlich einen Dreck dafür", sagte er. „Ich habe das Glück, eine gute Schriftstellerkarriere zu haben. Ich habe sehr positive Reaktionen auf meine Arbeit bekommen und das hat mir ein gutes Leben beschert."

Selbst wenn die Geschichten, die andere über ihn erzählen, Rushdie egal sind, beschäftigt ihn der überdauernde, instinktive Hunger der Menschheit nach Geschichten. „Ich fand es immer bemerkenswert", sagte er, „dass Geschichten das Erste sind, wonach Kinder verlangen, wenn sie sich geliebt und satt fühlen. Wenn sie ein Dach über dem Kopf haben, ist eines ihrer ersten Bedürfnisse: ‚Erzähl mir eine Geschichte.' Sie wollen nicht, dass du sagst: ‚Ich erzähle dir von Oma, als sie noch jung war.' Sie wollen: ‚Es war einmal vor langer Zeit …'" Die Art, wie wir Geschichten erzählen und warum wir sie so dringend brauchen, sind die Fragen, um die sich Rushdies neuestes Buch, Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte, dreht. Der Roman ist sein zwölfter und erzählt von einem fast apokalyptischen Konflikt zwischen der Menschheit und den Dschinn, mythischen Kreaturen, die laut dem Koran aus „rauchlosem Feuer" bestehen und aus einer Welt kommen, die, wie Rushdie schreibt, „von unserer durch einen Schleier getrennt" ist. Zwei Jahre, wie Rushdie es kurzerhand nennt, lebt von den großen Wundererzählungen aus Indien und Nahost—das Kathasaritsagara oder „Ozean der Märchenströme", das Hamzanama, das Panchatantra, Tausendundeine Nacht. Seit seiner Kindheit ist er von diesen Büchern voller Dschinn-Geheimnissen fasziniert, und sie durchziehen seine eigenen Werke spätestens seit Mitternachtskinder (1982). In seinem neuen Roman sind sie nun sogar namensgebend: Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte ergeben insgesamt 1001 Nächte.

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Rushdie begann den Roman nach der Veröffentlichung von Joseph Anton (2012), seiner Autobiografie in der dritten Person. „Ich hatte wirklich eine emotionale Reaktion darauf, damit fertig zu sein", sagte er. Er sehnte sich danach, „zur Fiktionalität der Fiktion zurückzukehren".

Unser Kellner kam und wir bestellten Essen—kalten Borschtsch für mich und mit Fleisch gefüllte Crêpes für Rushdie. Ich bat Prinz Wladimir—so der Name des Kellners, den ich später auf der Quittung las—mir einen Wodka, pur und kalt, zu empfehlen. Rushdie bestellte daraufhin seinen Kaffee ab und tat es mir gleich, nur nahm er seinen Wodka mit Tonic.

„Die meisten dieser Geschichten waren nicht für Kinder gedacht", fuhr er fort. „Genau wie Grimms Märchen nicht für Kinder waren." In Joseph Anton erinnert er sich, wie sein Vater den Kindern in Bombay vorlas, wo Rushdie nur acht Wochen nach der indischen Unabhängigkeit geboren wurde.

„Er las nicht so wirklich", erklärte Rushdie. Prinz Wladimir kehrte mit zwei Gläsern Jewel of Russia, dem „Drink der Zaren", zurück. Wir stießen an. „[Mein Vater] erzählte die Geschichten auf seine eigene Art."

Rushdie sagte, er habe sich vorgestellt, wie er die Geschichten für einen „Erwachsenenroman" verwenden könnte—etwas, das nicht „im alten Bagdad spielt, mit Harun al-Raschid und Leuten in Pluderhosen". Für das Eindringen der mythischen alten Folklore in die Gegenwart waren die Dschinn die perfekten Übermittler. Mit ihrer vorislamischen Geschichte und Tradition seien die übernatürlichen Gestalten „seltsam amoralisch", sagte Rushdie, „Wesen, für die Ethik bedeutungslos ist, die einfach launenhaft und wunderlich sind".

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Rushdie pries die indischen und nahöstlichen Geschichten für ihren Mangel an Moral und Religion. Sie handeln von „der menschlichen Natur, von Leuten, die listig, hinterhältig und gierig handeln—und manchmal auch tugendhaft und mutig. Sie sind nicht voll von Heiligen und Engeln. Es gibt Kobolde und Drachen, was mir viel lieber ist."

Wo wir bei Drachen sind: Rushdie sagte, er habe die Serie Game of Thrones „mit großem Interesse" verfolgt, doch mit der letzten Staffel habe er dieses Interesse verloren. „Ich mag Peter Dinklage. Ich mag das Mädel mit den Drachen. Ich will irgendwie, dass sie gewinnen. Ich will, dass sie heiraten und die Drachen haben", sagte er und pickte etwas Salat auf. „Sie haben eine Luftwaffe, und das hat sonst niemand. Ich will, dass ihre Luftwaffe ankommt und schlechten Menschen furchtbare Dinge antut." In diesem Jahr hat Rushdie bisher weniger als großer Schriftsteller denn vielmehr als streitlustiger Hardliner von sich Reden gemacht. Im April verkündeten sechs Schriftsteller—Peter Carey, Teju Cole, Rachel Kushner, Michael Ondaatje, Francine Prose und Taiye Selasi—sie würden nicht zur jährlichen PEN-Gala erscheinen, da die Literaturorganisation ihren Freedom of Expression Courage Award dem französischen Satiremagazin Charlie Hebdo verleihen wolle, dessen Büro im Januar wegen seiner Mohammed-Karikaturen von Terroristen angegriffen worden war. Ein erboster Rushdie nannte die Protestierenden „Weicheier" und „sechs Autoren auf der Suche nach etwas Charakter".

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Ich mutmaßte, seine Erfahrung mit dem Leben unter einer Fatwa könne zu seinem Groll beigetragen haben. „Der Eindruck den ich bekam", antwortete er, „war, dass die Leute verdammt noch mal gar nichts gelernt haben. Oder schlimmer, sie haben die falsche Lektion gelernt. Eine Lektion des Appeasements, anstelle der Erkenntnis, dass die Frage nach Meinungsfreiheit eine Ja-oder-Nein-Frage ist: ‚Glaubst du daran?' Sobald du ein ‚aber' dranhängst, hast du aufgehört, daran zu glauben."

Seine heftige Kritik verursachte „ziemlich tiefe Klüfte". Einige der sechs waren alte Freunde. Heute, sagte er, „wollen sie nicht mehr mit mir sprechen".

Rushdie, der von 2004 bis 2006 Präsident von PEN war, sagte, als er Cole konfrontierte, habe dieser erklärt, der Unterschied zwischen Rushdies Fall und Charlie Hebdo sei, dass das Hebdo-Massaker eine Reaktion auf vermeintlichen Rassismus gewesen sei. Rushdie widerspricht dem entschieden: „Sie wurden für vermeintliche Blasphemie hingerichtet. Das meine ich mit der falschen Lektion. Wer weiß, wo all diese Leute stehen würden, wenn Die Satanischen Verse heute erscheinen würde." Rushdie bleibt von all dem unbeeindruckt auf seine Arbeit konzentriert. Beim zweiten Wodka Tonic erzählte er von möglichen TV-Projekten und „einem kleinen Faden", der ihn zu seinem nächsten Roman führen könne. „Aber ich weiß nicht, wohin."

Der Erzähler in Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte sagt, Geschichten seien nicht das Werk eines einzelnen Geistes, sondern „Erfahrung, erzählt von vielen Zungen, denen wir manchmal einen einzelnen Namen geben". Tausendundeine Nacht zum Beispiel hat keinen einzelnen Autor, und es sind die Geschichten selbst, die bekannt sind, nicht die Autoren.

Ich fragte Rushdie, ob ihm ein solches Verschwinden hinter den Kulissen gefiele. „Wenn die Arbeit meiner Zeitgenossen sowie meine eigene ein paar Jahrtausende überdauern sollten, werden unsere Texte vielleicht auch autorenlos", sagte er. „Das wäre nichts Schlechtes. Mir gefällt die Vorstellung, dass die Autoren berühmter Bücher anonym bleiben."