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Sex

Warum ihr regelmäßig glaubt, in euren besten Freund verliebt zu sein

Ein Gespräch mit Paartherapeut Christian Thiel über Phantom-Verliebtheit und andere Liebes-Fails unserer Generation—und weshalb wir trotzdem noch nicht verloren sind.

Foto: Stefanie Katzinger

"Ich weiß, vermutlich bilde ich mir das jetzt gerade nur ein, aber ich glaube, ich habe mich in Jonas verliebt." Wenn unsere Freunde und Freundinnen uns ihre Liebesprobleme erzählen, mutieren wir zu Sigmund Freuds geistigen Erben und können in Blitzgeschwindigkeit komplette Psychoanalysen durchführen. So reagierte ich auch auf das Geständnis meiner Freundin Sarah, sich in ihren besten Freund Jonas verliebt zu haben, mit ungläubiger Herablassung. Sogar sie selbst meinte: "Ja, vermutlich bin ich einfach nur phantom-verliebt."

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Ich kenne das Gefühl auch selbst, einsam und frustriert zu sein und diesen einen Freund plötzlich mit ganz anderen Augen zu betrachten. Meistens hat das Ganze nur in eine Richtung geführt: ins Verderben.

Dennoch kenne ich sie auch, diese Geschichten. Geschichten von Frauen, die am Ende doch noch mit dem Typen zusammengekommen sind, den sie ewig in der Friendzone hatten. Die plötzlich erkannten, dass der Schatz, den sie immer gesucht haben, die ganze Zeit direkt vor ihren Füßen lag.

Phantom-verliebt-sein ist ziemlich leicht zu verwechseln mit echtem Verliebtsein. Aber wie ein Phantom ist es eben einfach nur eine Illusion. "Sich in den besten Freund zu verlieben, ist ein Mythos. Das funktioniert nur bei Klaus Lage [Anm. d. Red.: Ihr wisst schon, der Sänger von "1000 und 1 Nacht"] und in Hollywood-Filmen", sagt Paartherapeut und Buchautor Christian Thiel. Ja, alle verwirrten Romantiker und Phantom-Verliebten da draußen, ich muss euch leider mitteilen: Das, was ihr denkt zu fühlen, ist Schwachsinn.

Warum ihr euch phantom-verliebt habt (vielleicht sogar schon zum wiederholten Mal) und was ihr nun tun solltet, hat uns Christian Thiel erklärt. Und außerdem, warum die Generation Y liebestechnisch noch nicht komplett verloren ist.

VICE: Warum phantom-verlieben wir uns?
Christian Thiel: Weil man keine Lust hat, auf die Suche zu gehen, und sich davor fürchtet oder zu faul ist zu entdecken, was das Leben zu bieten hat. Wobei ich finde, dass diese Verliebtheit kein richtiges Phantom ist, da sie sich ja real anfühlt mit allen Konsequenzen. Die Liebe, die daraus entsteht, ist das Phantom.

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Eine Volksweisheit besagt: "Gelegenheit macht Liebe."
Ja, aber dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung und das ist nicht Liebe: Menschen sind hormongesteuert und nicht dafür gemacht, keinen Sex zu haben. Andere Lebewesen können das—der Gorilla hat beispielsweise so gut wie nie Sex. Der Mensch kann das aber nicht.

Also "verliebt" er sich in irgendjemanden, der gerade daherläuft. Das ist der eigentliche Hintergrund dieser Volksweisheit. Ich sage das alles nicht, weil ich es moralisch ablehne, sich in Freunde, Arbeitskollegen etc. zu verlieben, sondern weil es so unerfolgreich ist. Ich habe in 18 Jahren Berufserfahrung noch nie erlebt, dass das funktioniert.

Aber ist es nicht natürlich, sich in Menschen zu verlieben, mit denen wir täglich zu tun haben? Es verbindet einen ja Einiges.
Nein, das ist nicht natürlich. Wir verlieben uns eigentlich in Fremde und eben nicht in unseren Bruder oder Leute, die wir gut kennen. Natürlich entsteht eine gewisse Intimität zwischen uns und den Menschen, mit denen wir viel Zeit verbringen. Diese Intimität wird dann oft mit Verliebtheit verwechselt.

Das hört sich total unromantisch an.
Nein, ist es nicht. Das liegt nur daran, dass das Bild von Romantik direkt in Verbindung mit Hollywood-Filmen steht. Da klappt ja immer alles, je unrealistischer und komplizierter desto romantischer! Aber das ist einfach nicht die Realität. Keine große Romanze handelt davon, dass wir lange auswählen und gut überlegen sollten, wen wir uns da aussuchen.

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Aber wenn man nie auf sein Herz hören würde, dann würde man sich ja nie verlieben!
Hören Sie einfach niemals auf Ihr Herz, wenn es Ihnen sagt, dass nach 100 Jahren Normalität Ihr bester Freund plötzlich derjenige sein soll. Selbst Speed-Dating ist erfolgreicher.

Wenn es uns so leicht fällt, uns Liebe einzureden, funktioniert es dann auch umgekehrt: Können wir uns Liebe ausreden?
Es hilft, den Kontakt einzuschränken, aber im Allgemeinen: nein. Wie auch bei richtiger Verliebtheit, die unerfüllt bleibt, ist es ein Prozess, diese zu überwinden. Da muss man dann einfach durch. Wenn Sie sagen, es liegt an unserer Faulheit und Angst, dass wir auf unsere näheren Vertrauten als potenzielle Partner ausweichen, gibt es dann vielleicht auch einen Zusammenhang zu der angeblichen Bindungsunfähigkeit, die der Generation Y nachgesagt wird?
Den Vorwurf, diese Generation sei bindungsunfähig, halte ich für völlig falsch. Das ist bis jetzt nicht empirisch belegt worden. Ihre Generation ist nicht mehr oder weniger bindungsunfähig als die zuvor. Sie bindet sich nur später, was mit ihrer veränderten Lebensrealität zusammenhängt. Da kann die junge Generation ja nichts dafür, dass die Länge der Ausbildung und der Unsicherheit nach der Ausbildung größer geworden ist. Sie deswegen als bindungsunfähig zu denunzieren, finde ich skandalös!

Aber das Dating-Verhalten hat sich doch schon verändert. So wie die Welt schnelllebiger geworden ist, sind doch auch die Beziehungen schnelllebiger beziehungsweise austauschbarer geworden.
Nein, früher oder später binden sich ja dann doch alle. Natürlich kann das sein, dass man sich eine Zeit lang von einer Affäre in die nächste tindert. Das kann man ja auch alles machen. Aber eigentlich haben alle irgendwann das Ziel, einen Partner zu finden, an den sie sich langfristig binden können.

Aber die Auswahl an potenziellen Partnern ist doch so viel größer heute. Das erschwert doch das "Auswahlverfahren"!
Es gibt keinen empirischen Beweis für diese These. Laut Studien binden wir uns heute 2 Jahre später als vor 25 Jahren. Aber bindungsunfähiger sind wir nicht.

Sie meinen also, dass wir potenzielle Beziehungen nicht leichtfertiger aufgeben, weil wir denken: "Vielleicht kommt ja noch was Besseres"?
Im Gegenteil: Es ist doch absurd, sich auf jemanden einzulassen, an dem einen zehn Dinge stören, nur weil die Medien einem sagen, man wäre heutzutage zu anspruchsvoll. Es ist sogar so, dass fast alle Frauen, die zu mir kommen, fast keine Ansprüche haben! Dabei muss jemand, der wirklich für einen langen Zeitraum passen sollte, unglaublich viele Dinge erfüllen.

Was ja wiederum zu unserem Ausgangspunkt zurückführt, dass wir auf unsere engeren Vertrauten als potenzielle Partner zurückgreifen. "Ach, den kenn ich ja so gut, wär ja eigentlich ganz praktisch."
Ja, die Anspruchslosigkeit spielt da auch mit rein. Wir wissen aus der Forschung, dass Partnerschaften haltbarer sind und glücklicher, je mehr Dates ein Paar hatte, bevor es sich füreinander entschieden hat. Der Hauptpunkt, den Leute tatsächlich bei der Partnersuche heute falsch machen, ist, dass sie sich keine Zeit lassen.

Hier findest du Christian Thiels Bücher.