​Verursachen deutsche Waffenexporte Flüchtlingsbewegungen?
Ein Leopard-2-Panzer | Foto: imago | Christian Seitz

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​Verursachen deutsche Waffenexporte Flüchtlingsbewegungen?

Deutschland liefert fast nie direkt in Krisengebiete. Was ist also an dem Argument dran, es trage Mitschuld an den aktuellen Krisen?

Die Bekämpfung von Fluchtursachen gehört bekanntermaßen nicht unbedingt zu den Hauptsorgen österreichischer und deutscher Politiker. Die jüngste Ankündigung der deutschen Bundeskanzlerin, den syrischen Diktator Assad als Verhandlungspartner zu rehabilitieren, legt diesen Schluss ebenso nahe wie die Verdoppelung deutscher Kriegswaffenausfuhren zu einer Zeit, in der so viele Menschen auf der Flucht sind wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.

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Doch was ist dran am derzeit beliebten Argument, deutsche Waffenexporte seien ein Mitgrund für Flucht, weshalb Deutschland allein deshalb in der Pflicht sei, mehr Flüchtlinge aufzunehmen—wie mittlerweile selbst auf dem Hauptstadtportal berlin.de zu lesen ist? Das Argument fühlt sich intuitiv richtig an, aber ist es das auch?

Vorausgeschickt: Es gibt durchaus einfachere Fragen in der derzeitigen Flüchtlingsdebatte. Die Antworten darauf sind so lückenhaft wie die zu dem Thema verfügbaren Daten. Das liegt einerseits an der zum Teil intransparenten Handhabe auf Seiten der Politik, die im geheim tagenden Bundessicherheitsrat Rüstungsentscheidungen trifft und das Parlament nur mit den nötigsten Informationen versorgt. Andererseits an einer hermetisch abgeriegelten Rüstungsbranche, deren tatsächliche Lieferwege bisweilen den eigenen Darstellungen widersprechen. Und trotzdem lohnt es sich, sich das Verhältnis mal genauer anzuschauen.

Deutschland liefert fast nie direkt in Krisengebiete

Offiziell steht der militärische Export in Krisengebiete unter strengen Auflagen. Das Kriegswaffenkontrollgesetz (KrWaffG) und das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) legen fest, welche Rüstungsgüter einer Genehmigungspflicht bedürfen. Expertengremien entscheiden von Fall zu Fall, ob eine Auslieferung den Vorgaben entspricht oder nicht. Laut dem Friedensforscher von der Uni Hamburg, Michael Brzoska, genehmigt der Staat nur in Ausnahmefällen den Export in ein Krisengebiet. Im September dieses Jahres wurden beispielsweise Lenkwaffensysteme, Handgranaten und Sturmgewehre im Wert von 65 Millionen Euro an die kurdischen Peschmerga geliefert, um sie gegen den Ansturm des Islamischen Staates zu rüsten.

Die Peshmerga wurden auch in Deutschland an der MILAN ausgebildet. Foto: imago | epd

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Die Rüstungsexportberichte seit 1999 sprechen eine ähnliche Sprache. Ihnen ist zu entnehmen, dass die momentanen Hauptherkunftsländer von Flüchtlingen—Syrien, Afghanistan, Somalia, Sudan, Südsudan—keine deutschen Waffen in nennenswerter Höhe erhalten haben. Ausnahmen wie die Lieferung von Fahrzeugteilen in den Irak im Jahr 2005 oder Minenräumgeräten nach Afghanistan 2008 bestätigen die Regel. Exporte an Länder mit fragwürdiger Menschenrechtsbilanz—Katar, Kuweit, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate, um nur einige wenige zu nennen—sind zwar politisch brisant und vor der Kritik, hier werden Profit- und geostrategische Interessen vor Menschenrechte gestellt, nicht gefeit. Aber als Beleg für den Zusammenhang zwischen deutschen Rüstungsgeschäften und den aktuellen Fluchtbewegungen taugen sie nur bedingt—mit der Ausnahme von Katar, das schon länger im Verdacht steht, islamistische Gruppen sowohl in Libyen als auch in Syrien mit direkten Waffenlieferungen zu unterstützen. Allerdings liefert Deutschland an Katar vor allem Leopard-2-Panzer und riesige Panzerhaubitzen—mit denen mischt sich das Land zwar möglicherweise im Jemen ein, es wird sie aber wohl kaum an irgendwelche Rebellenmilizen abgeben. Mit Ausnahme der Unterstützung für die Kurden gibt es also wirklich keine direkten Lieferungen deutscher Waffen in die Krisengebiete des Nahen Ostens.

Die Haltung der deutschen Bundesregierung stützt diese Sicht. Flucht habe vielfältige Ursachen, stellt Regierungssprecher Seibert klar, ein Zusammenhang mit deutschen Ausfuhren sei, vor allem mit Hinblick auf die Syrien-Krise, nicht erkennbar.

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Es zählt nicht nur die Gegenwart

Fall abgeschlossen? Nicht ganz. Denn die Spannungsgebiete von heute waren nicht selten die befreundeten Diktaturen von gestern, mit denen man in der Vergangenheit gerne Geschäfte gemacht hat. Das syrische Assad-Regime beispielweise erhielt in den 70er Jahren MILAN-Raketen aus deutsch-französischer Herstellung, die im Libanon-Krieg gegen Israel eingesetzt wurden. Auf Seiten der Rebellen sind die Raketenwerfer genauso im Einsatz.

Auch der Iran, damals noch unter der westlich gestimmten Schah-Diktatur, wurde üppig mit deutschen Rüstungsgütern versorgt. Das Regime erhielt Ende der 70er Waffen im Wert von 1,1 Mrd. Mark, darunter Handgranaten, Pläne für die Produktion von Panzerketten sowie komplette Gewehr- und Munitionsfabriken. Gleichzeitig wurde der Erzfeind Irak in den 80er Jahren regelrecht mit deutschen Rüstungsgütern überflutet—Bauteile, ganze Anlagen, Substanzen sowie Gerät für die Entwicklung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen: Insgesamt 80 deutsche Firmen, darunter Daimler-Benz, MAN und Siemens, halfen bei der Hochrüstung des Saddam-Regimes. Eine besonders unrühmliche Rolle spielte die Chemiefabrik in Samara, die mit deutscher Hilfe gebaut wurde. Saddam Hussein nutzte sie für die Produktion von Giftgas, das er gegen die irakischen Kurden einsetzte. Seine militärische Offensive kostete 200.000 Kurden das Leben und vertrieb rund 1,5 Millionen.

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Friedens-Aktivist vor dem Reichstag in Berlin | Foto: imago | CommonLens

Dass diese und andere Beispiele nicht leichtfertig mit „Fehlverhalten in der Vergangenheit" abgetan werden können, liegt an der Natur des Exportgutes: Raketen, Panzer und Mörser haben eine sehr lange Haltbarkeit. Auch wenn Länder wie Katar und Saudi-Arabien momentan mit eiserner Hand regiert werden und den Anschein von Stabilität ausstrahlen, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, dass sie nicht schon Jahre später Schauplatz eines bewaffnetes Konfliktes sein werden—und die zuvor gelieferten Waffen die Opferzahlen in die Höhe treiben. Das ist das eine Problem.

Das andere ist, dass die Wege auch der legalen Waffenausfuhren nicht immer nachvollziehbar sind. Häufig tauchen sie an einem anderen Ort auf, an dem sie gemäß Vertrag gar nicht sein dürften. Waffen wandern. Der jüngste Skandal über in den verbotenen Regionen Mexikos aufgetauchte G36 aus deutscher Herstellung ist nur ein Beispiel von vielen.

Das gilt insbesondere für die mobilsten und gefährlichsten aller Tötungsmaschinen: Kleinwaffen. Laut einer UN-Studie gehen 60 bis 90 Prozent der Opfer in bewaffneten Konflikten auf das Konto von Sturmgewehren, Pistolen und Handgranaten. Sie sind einfach zu bekommen, vergleichsweise kostengünstig und, buchstäblich, kinderleicht in der Bedienung. Obwohl die Letalität dieser Waffen internationaler Konsens ist und laut Schätzungen von Amnesty International bereits 639 Millionen Exemplare auf dem Globus verstreut sind, erhalten deutsche Rüstungsfirmen alljährlich Genehmigungen für weitere Exportkontingente.

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Exportschlager: Das Sturmgewehr G36 der Firma Heckler & Koch | Foto: imago | Stefan Zeitz

Schon in den 80er Jahren veröffentlichte die deutsche Bundesregierung nach mehrmaliger parlamentarischer Nachfrage, dass die G3-Sturmgewehre der deutschen Waffenschmiede Heckler & Koch (HK) an über 80 Länder geliefert werden. An wen genau blieb „zum Zwecke der Wahrung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen" unter Verschluss. Bekannt wurde außerdem, dass die Bundesregierung Lizenzen für die Eigenproduktion des Sturmgewehrs an 15 Länder verkauft hat, darunter Iran, Pakistan und Saudi-Arabien. Obwohl die Lizenzvergabe an die Bedingung geknüpft war, den Re-Export in andere Länder zu vermeiden, gelangten die Waffen in Konfliktregionen in Afrika, Asien und Südamerika. Mit Ausnahme der Kalaschnikow ist das G3 das am weitesten verbreitete Gewehr auf der Welt.

HK-Gewehre werden überall benutzt, überall verkauft, überall gekauft.

Während Rüstungskonzerne und staatliche Kontrolleure ihre Verantwortung auf die formelle Einhaltung der deutschen Exportstandards und die Vereinbarungen mit ausländischen Kunden beschränken, ist der illegalen Weitergabe deutscher Rüstungsprodukte de facto Tür und Tor geöffnet. Die so genannte Endverbleibskontrolle ist in großen Teilen illusionär, da, erklärt Brzoska, es der Bundesregierung „physisch unmöglich ist", die Weitergabe zu verhindern. Hilmar Linnenkamp von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vergleicht die Proliferation der Kleinwaffen mit der umfassenden Verfügbarkeit von Drogen: Die Nachfrage bestimme über alle illegalen Wege. Auch der Direktor des SIPRI-Instituts, Dan Smith, bestätigt gegenüber VICE: „HK-Gewehre werden überall benutzt, überall verkauft, überall gekauft, legal und illegal, offen und geheim. Sie kommen in allen Konflikten der Gegenwart zum Einsatz."

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Das, selbstverständlich, sind alles keine neuen Fakten. Sowohl auf den Regierungsbänken der letzten Jahrzehnte als auch in den Chefetagen der deutschen Rüstungsproduzenten ist man sich dieser Tatsache bewusst. Daran geändert hat sich, wie der Mexiko-Skandal oder die Lizenzvergabe des G3-Nachfolgers G36 an Saudi-Arabien im Jahr 2008 zeigen, erstaunlich wenig. Man räumt „Lücken bei der Exportkontrolle" ein, aber da ist das Gewehr schon ein paar Jahre in Produktion und bereits in den jemenitischen Bürgerkrieg gewandert.

Anders als Wikipedia oder die Genfer Small Arms Survey, die die Zahl bei 7 Millionen ansetzt, schätzt Jürgen Grässlin, dass derzeit mindestens 15 bis 20 Millionen G3-Gewehre weltweit im Umlauf sind. Für den Autor und Sprecher der Kampagne Aktion Aufschrei - Stoppt den Waffenhandel! ist klar: „Wer Waffen sät, wird Flüchtlinge ernten." Denn die Länder Sudan und Somalia, die zu den Top 5 der Herkunftsländer von Flüchtlingen in Deutschland gehören, hätten über Jahrzehnte die deutschen Sturmgewehre importiert, so Grässlin. Während sie nach Somalia über die Lizenz-Fabriken in Saudi-Arabien und Iran gelangten, bezog sie der Sudan von der westdeutschen Regierung—ganz legal. Deutschland kommt laut einer Recherche des Journalisten-Netzwerkes „The Niles" der zweifelhafte Ruhm zu, automatische Kleinwaffen in das Bürgerkriegsland eingeführt zu haben, in dem zuvor hauptsächlich britische Karabiner vorhanden waren. Schon 1959 baute die bundeseigene Waffenschmiede Fritz Werner eine Munitionsfabrik am Stadtrand von Khartum. In der Logik des Kalten Krieges wurde das politische Wohlwollen der sudanesischen Regierung mit Waffen gekauft. Zehntausende G3-Sturmgewehre landeten so in den Händen einer Bürgerkriegspartei—so viele wie die sudanesische Armee Soldaten zählten. In den Folgejahrzehnten wurde so die gesamte Region mit den tödlichen Kleinwaffen beliefert. Dem Kleinwaffenexperten Roman Deckert zufolge sei in der unaufhaltsame Zustrom von Kleinwaffen in das Land erst der entscheidende Katalysator für das Andauern des blutigen Bürgerkrieges gewesen.

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Ein Südsudanese, dessen Dorf 2012 komplett zerstört wurde. In dem Konflikt werden immer noch deutsche Gewehre eingesetzt. Foto: imago | epd

„Wenn man in eine Weltkarte den Verbreitungsgrad von HK-Waffen zeichnen würde", so Grässlin, „blieben nur zwei freie Flecken übrig: das Gebiet des ehemaligen Warschauer Paktes und die Antarktis." Zwei Millionen Menschen seien bisher laut seinen Recherchen durch HK-Waffen getötet worden, acht Millionen weitere verkrüppelt. Terrorgruppen von Hamas über die Hisbollah bis hin zu den Taliban würden heutzutage über die Lizenzfabriken in Pakistan und Iran an HK-Waffen kommen. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis auch der Islamische Staat mit deutschen Waffen auf Fotos posieren werde.

People kill people, but guns help them kill more

Lässt sich aus den Rüstungsexporten der Vergangenheit in den Irak, den Iran und nach Syrien oder aus der Verbreitung der tödlichen Kleinwaffen schließen, dass die deutsche Rüstungsindustrie die heutigen Fluchtbewegungen mitverursacht? Nicht zwingend. Denn Waffen beginnen keine Kriege und zwingen nicht per se Menschen in die Flucht. Auch sagt die Weitergabe von Waffen noch nichts über deren Verwendung aus—oder welche Folgen ihr Einsatz haben wird.

Ein Kindersoldat 1992 in Somalia—mit einem deutschen G3 | Foto: imago | Rainer Unkel

Im Beispiel der nordirakischen Kurden haben Waffenlieferungen einen Aggressor zurückschlagen können und damit womöglich eine weitere Vertreibungswelle durch den IS verhindert. Doch laut Friedensforscher Brzoska ist dieser Effekt eine Ausnahme, denn es bestehe immer die Gefahr, „dass die Stabilisierung nur vorübergehend ist." Seine Analyse, dass sich Konflikte durch Rüstungsimporte häufig „auf einem höheren Niveau der Bewaffnung" fortsetzen, stützt auch der SIPRI-Chef Smith.

Auch wenn Waffen keine Kriege und Vertreibungswellen initiieren, gebe es einen direkten Zusammenhang zwischen der massenhaften Verfügbarkeit vor allem von Kleinwaffen und Kriegen, die kein Ende sehen. Vor allem in den Konflikten des 21. Jahrhunderts, in denen verstärkt nicht-staatliche Akteure auf den Plan treten, ist die unkontrollierbare Weitergabe der Kleinwaffen ein Hauptfaktor in den aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen.

Das Argument, Deutschland liefere nicht direkt in die Krisengebiete der Gegenwart, gibt daher nur wenig Aufschluss über den Zusammenhang zwischen Waffenausfuhren und Flüchtlingszahlen. Viel entscheidender sind die über Jahrzehnte genehmigten Exporte in Diktaturen sowie die laxe Lizenzvergabe bei der Kleinwaffenproduktion. Dieser deutsche Beitrag zum aktuellen Konfliktgeschehen—und damit zu den aktuellen Fluchtbewegungen—lässt sich nicht leugnen.