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Wie der Lyssenkoismus die sowjetische Wissenschaft in die Steinzeit zurückschleuderte

Die Geschichte eines einflussreichen Scharlatans, der Genetik als unsozialistisch abtat, Weizen in Roggen verwandeln wollte und dessen absurde Ideen zu zahllosen Missernten in der UdSSR führten.
Lyssenko (links) spricht im Kreml unter den billigenden Augen Stalins (ganz rechts). Bild: Wikimedia Commons | Gemeinfrei

Der Lyssenkoismus ist eines der bizarrsten Kapitel in der Geschichte der modernen Wissenschaft. Das etwas sperrige Wort bezieht sich auf den (Pseudo-) Agrarwissenschaftler Trofim Lyssenko, der die Geschicke der UdSSR maßgeblich prägte und die eigentlich vielversprechende sowjetische Wissenschaft in die Steinzeit zurückkatapultierte. Das hat bis heute Relevanz: Auch George W. Bush war ein talentierter Lyssenkoist.

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Ähnlich, wie Einsteins Relativitätstheorie während der Nazizeit durch „Deutsche Physik" ersetzt werden sollte und geleugnet wurde (Einstein war schließlich ein Jude), half Lyssenko fleißig, die Erkenntnisse der Wissenschaft in der UdSSR den absurden Utopien des Arbeiter- und Bauernstaats unterzuordnen.

Lyssenko war ein ukrainischer Bauernsohn, ein rücksichtsloser Scharlatan, Stalin-Verehrer und Liebling der Sowjet-Presse. Nach ein paar kurzen Zwischenstopps am Genetikinstitut in Odessa wurde der Agrarwissenschaftler 1940 Vorsitzender der sowjetischen Wissenschaftskademie. Zwischen 1940 und 1964 hielt er eine tonangebende Stellung in der UdSSR und ließ seine Gegner reihenweise umbringen. Wie konnte das passieren?

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Nun, der Diamat, der dialektische Materialismus (die vorherrschende Geschichtsauffassung in der UdSSR) lehrte, dass sich alle Dinge—auch der Mensch—in Wechselwirkung mit der Umwelt verändern. Also: Änderst du die die gesellschaftlichen Verhältnisse (gern auch radikal), entwickelt sich wie von Zauberhand ein neuer Mensch. Lyssenko musste nur eine Biologie hinbiegen, die mit dieser Auffassung irgendwie vereinbar war und konnte sich so eine felsenfeste Machtposition sichern. Diamat kennt keine Zufälle und spontanen Mutationen—alles ist lenkbar.

Die Genetik, inklusive dem evolutionären survival of the fittest tat der ideologisch verbrämte Lyssenko als „faschistische und bourgeoise Pseudowissenschaft" ab und spuckte dafür zuverlässig absurde Ideen aus:

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  • So zum Beispiel die Theorie, dass Bäume „kooperieren" würden, wenn man nur genügend auf einen Raum quetschte. Also überbevölkerte er Waldstücke und nahm an, dass sich die Setzlinge, gezwungen zur Zusammenarbeit wie in einer Kolchose, noch schneller und effektiver vermehren würden, die Evolution also nur ein wenig externe Stimulation benötigte. (Was sie natürlich nicht taten, stattdessen starben die Bäume weg.)
  • Vererbung sei eine Eigenschaft des gesamten Organismus. Gene oder diskrete Erbanlagen existierten nicht—diese seien unsozialistisch und deshalb nicht existent.
  • Erbveränderungen, so behauptete er, könnten durch veränderte Umweltbedingungen ausgelöst werden. So könne man zum Beispiel Weizen in Roggen umwandeln. Das hätte alles schon prima geklappt, behauptete Lyssenko: Kiefern zu Tannen, Weizen zu Gerste, Roggen zu Hafer; alle diese Zaubertricks seien kein Problem in der Lyssenko-Welt.
  • Er propagierte zudem einen „Superdünger" aus Kalk und Superphosphat, der komplett wirkungslos war, weil sich die beiden Substanzen zu Calciumphosphat verbanden und damit unlöslich wurden.

Was heute wahrscheinlich jedem Siebtklässler den Magen umdreht, der schon mal von Mendel und Darwin gehört hat, war auch schon in den 1940er Jahren völlig überholt; die Doppelhelix als Träger des Erbmaterials war längst entdeckt—allerdings von US-Wissenschaftlern.

Im Arbeiter- und Agrarstaat passten Lyssenkos Ideen jedoch wunderbar ins Bild des geschickten Bauern, der sich ohne schädliche Kontakte zum imperialistischen Ausland und zur verpönten Wissenschaftselite eine unantastbare Reputation durch Fleiß, Demut und geniale Ideen erarbeitet hatte—und folglich von der Staatspresse zum allwissenden Genie verklärt wurde.

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Um ganze 900.000 Hektar war die Anbaufläche in der Sowjetunion zurückgegangen, seit man das angebliche Genie ans Ruder gelassen hatte.

Lyssenko mochte keine Statistiken, aber war trotzdem nie um eine knackige Antwort verlegen, wenn es darum ging, seine desaströse „Forschung" zu rechtfertigen. Die Felder sind von Unkraut überwuchert? Das Unkraut kommt aus dem Weizen selbst! Die Felder tragen keine Früchte? Ausländische Saboteure sind schuld!

Die Effekte waren katastrophal. Es folgten schwere Ernteeinbußen, die Hungersnöte auslösten. Gleichzeitig versprach Lyssenko stets massige Erträge: „Die öden Felder des Transkausasus werden erblühen", dichtete die Prawda—leider passierte genau das Gegenteil. Missernten und Brachen, wo früher Feldfrüchte wuchsen, wurden zur Norm. „Viel Feind, wenig Ähr'", kalauerte der Spiegel dazu 1954.

Ganz besonders kurios ist die fast uneingeschränkte Macht, die ihm verliehen wurde: Direktor von vier landwirtschaftlichen Forschungsstationen, Vizepräsident des obersten Sowjet, Präsidialmitglied der sowjetischen Akademie für Wissenschaften. 1948 schrieb er auf einer Jahrestagung seine kruden Zucht- und Vererbungsauffassungen als alleingültige Lehrmeinung der Sowjetunion fest. Ungarische Lyssenko-Jünger verbrannten daraufhin gezüchtete Fruchtfliegen-Kulturen als Symbol des Widerstandes gegen die „amerikanisch-kapitalistische" Genforschung. Und im tschechischen Brünn pflügten ein paar Vollidioten Mendels Klostergarten um und verwüsteten die Gedenkstätte des Vaters der Vererbungslehre.

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Schlimmer noch: Lyssenko nutzte seine Machtposition gnadenlos und ziemlich hinterhältig aus, um missliebigen Gegnern Sabotage zu unterstellen und ließ seine größten Zweifler, die Genetiker und Evolutionstheoretiker, erbittert verfolgen. Eine große Anzahl Wissenschaftler wurde verhaftet und ermordet, weil man ihnen allein durch ihre Erkenntnisse leicht vorwerfen konnte, mit dem „Feind" zu kooperieren. Dass sie nur das taten, was Wissenschaftler tun sollten—evidenzbasierte Forschung betreiben und sich auf die gesicherten Erkenntnisse anderer stützen—spielte keine Rolle. Ein Beispiel hierfür war der renommierte Biologe Nikolai Wamilow, der durch Lyssenkos gute Beziehungen zum sowjetischen Geheimdienst als britischer Spion verhaftet und in den Gulag geschickt wurde. Er überlebte seine Zeit im Straflager nicht und starb drei Jahre später in Sibirien.

Die sowjetische agrarwissenschaftliche Akademie VASKhNIL, der Lyssenko vorsaß. Bild: Wikimedia Commons | Gemeinfrei

Gegner gab es aber letztlich und glücklicherweise auch aus den eigenen Reihen: Nikita Chruschtschow selbst stellte die angeblich bahnbrechenden Erkenntnisse in Frage: „Gedankenlos und unökonomisch" sei der Fruchtwechsel, der auf Lyssenkos Ratschlägen beruhte. Er stellte auch fest, welche verheerenden Auswirkungen auf die Landwirtschaft Essenkos Theorien hatten: Um ganze 900.000 Hektar war die Anbaufläche in der Sowjetunion zurückgegangen, seit man das angebliche Genie ans Ruder gelassen hatte.

Und auch der Physiker und Erfinder der Wasserstoffbombe Andrei Sacharow fand 1964 im Kreml deutliche Worte gegen Lyssenko: „Er ist verantwortlich für die schändliche Rückwärtsgewandtheit der sowjetischen Biologie und der Genetik im Besonderen, für die Verbreitung von pseudowissenschaftlichen Lehren und (…) für die Diffamiereung, Entlassung, Verhaftung und sogar den Tod vieler echter Wissenschaftler."

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Ein Paradebeispiel für modernen Lyssenkoismus: Die Regierung unter George W. Bush

Nach Stalins Tod 1953 verlor Lyssenko seinen Hauptunterstützer. Erst elf Jahre später nach dem Sturz Chruschtschows jedoch (dem die Missernten der vergangenen Jahre zur Last gelegt wurden), kam die Kehrtwende: Lyssenko wurde zur Persona non grata erklärt. Die Presse war plötzlich voll von negativen Artikeln gegen Lyssenko in den 60er Jahren; er wurde in ein kleines, unauffälliges Institut in den Moskauer Lenin-Hügeln abgeschoben, das bald darauf aufgelöst wurde.

Dass es keine praktische Anwendung dieser kruden Thesen in der DDR gegeben hatte, ist vor allem dem mutigen Einsatz von Genetikern und Evolutionsbiologen zu verdanken. Sensibilisiert durch Bevormundung in der NS-Zeit und gestärkt durch die Unterstützung ihrer westdeutschen Kollegen wurden die Theorien Lyssenkos in der Lehre und im Wissenschaftsdiskurs der DDR großflächig vermieden.

Leider hat die Geschichte auch heute trotzdem noch Relevanz. Die Bush-Administration und ihre systematische Manipulation wissenschaftlicher Studien zu Bleivergiftungen, Klimawandel und Aufforstung zu Gunsten ihrer eigenen Agenda ist ein perfektes Beispiel für den modernen Lyssenkoismus. Gerade die konservative, bibeltreu-verklemmte Regierung unter George W. Bush kopierte ironischerweise die ziemlich versponnen kommunistisch-verbohrten Methoden eines flammenden Stalinisten. So schlitterten die USA langsam aber sicher in Richtung eines Außenseiter-Staates auf den Gebieten der Bioethik, der Astronomie, der Stammzellenforschung und der Medizin. Die Union of Concerned Scientists gab damals ein Statement heraus, das beklagte, wie wenig Respekt die Regierung für die Wissenschaft habe, um ihre verschrobe-christliche Agenda durchzusetzen.

„Wenn die Politiker die Wissenschaft diktieren, verheddern sie sich in ihren eigenen Täuschungen", schrieb Bruce Sterling 2004 in der Wired zu diesem Thema. Man könnte auch sagen: Sie schießen sich selbst ins Bein.