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11.000 Retweets sind keine Bildungsdebatte

Eine 17-Jährige beschwert sich auf Twitter über das Schulsystem und die Leute wittern eine Revolution. Warum das absoluter Blödsinn ist.
Foto: Mosieur J. | Flickr | CC BY-SA 2.0

Foto: Mosieur J. | Flickr | CC BY-SA 2.0

Es ist schon ein bisschen her, dass ich in die Schule gegangen bin und um ehrlich zu sein: Ich vermisse diese Zeit ein wenig. Egal wie oft man abschätzig das Gesicht verzogen hat, wenn einem Ältere gesagt haben, dass das Leben nie wieder so leicht sein wird wie als schulpflichtiger Teenager—es stimmt einfach. Das versteht man nicht, wenn man noch Tag für Tag die Schulbank drückt, sich mit seinen Freunden über die letzte Matheprüfung aufregt und zusätzlich vielleicht auch noch ein bisschen Angst vor der großen unbekannten Welt, die einen außerhalb des Klassenzimmers erwartet, hat.

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Dementsprechend ist es auch nicht überraschend, dass einer dieser Teenager seine allgemeine Besorgnis, irgendwo zwischen hämischen Kommentaren zu YouTube-Stars und Gedanken über den eigenen Hauttyp, auf Twitter geäußert hat:

Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann 'ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.

— Naina (@nainablabla)10. Januar 2015

Umso überraschender, wenn nicht sogar komplett unverständlich, ist allerdings die Reaktion mehrerer Medien auf diese Aussage: „Schülerin löst mit Tweet Diskussion über Schulbildung aus", „Schülerin prangert Schulsystem an", „Schülerin löst mit Tweet Bildungsdebatte aus". Unwillkürlich muss ich an meine eigene Schulzeit zurückdenken und frage mich, welch weite Kreise mein Rumgebitche in den Pausen über Lehrer, Hausaufgaben oder die verkackte Matheschularbeit wohl gezogen hätte, wenn es damals schon Twitter gegeben hätte.

Ist das ein Problem unserer übermedialisierten Zeit, dass allem irgendeine Art von Relevanz zugeschrieben wird, wenn es nur oft genug in sozialen Netzwerken geteilt wird? Besagter Tweet von „Nainablabla" wurde über 11.000 Mal geretweetet und 20.000 Mal favorisiert. Heißt das, dass diese 17-Jährige da einer ganz heißen Sache auf der Spur ist und in der Tat eine längst überfällige Diskussion lostritt? Oder bedeutet das nicht viel eher, dass die Diskussion um den Sinn und Unsinn gewisser Lehrplaninhalte ähnlich alt ist wie unser Schulsystem und somit zwingend einen Nerv treffen muss?

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Was genau verlangen wir da eigentlich von der Schule als Bildungsinstitution? Meine erste Steuererklärung habe ich mit 19, ein Jahr nach meinem Abschluss, gemacht und es war furchtbar. Ich habe cholerische Wutanfälle bekommen und nach mehreren Telefonaten mit meinem Vater und dem Finanzamt vor Frustration angefangen zu weinen. Hätte mir ein spezielles Fach in der Schule dabei geholfen, meine Unterlagen besser zu sortieren? Nein, wahrscheinlich nicht. Wusste ich auch ohne gesondertes Leistungsfach im Bereich „die großen Weisheiten des Lebens", dass ich ab irgendeinem Punkt meines Erwachsenenlebens anfangen muss, Miete zu bezahlen? Ja, absolut.

Klar, wir lernen in der Schule wichtige Sachen. Aber niemand bringt uns bei, wie man später auf eigenen Beinen steht.

— Naina (@nainablabla)10. Januar 2015

Angeblich hört man im Leben nie auf zu lernen. Vielleicht ist es dementsprechend an der Zeit, sich bei unserem Schulsystem dafür zu bedanken, dass es uns nicht nur auf die wirtschaftlichen Faktoren unserer kapitalistischen Gesellschaft vorbereitet, sondern auf positive Art und Weise dazu zwingt, unseren Horizont zu erweitern. Bist du endgültig in der Arbeitswelt angekommen, ist dein Kopf kein Brutkasten mehr für alternative Gedanken, faszinierende geschichtliche Vorgänge, die Feinheiten der deutschen Sprache und was aktuell sonst noch so auf dem Lehrplan steht.

Dann geht es nur noch darum, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, die dich—und deinen Arbeitgeber—wirtschaftlich weiterbringen. Bildung sollte in einem gewissen Maße, ja muss sogar, zweckfrei sein dürfen. Damit man daran wächst und sich, zehn Jahre später, auf Twitter darüber aufregen kann, dass das Leben plötzlich voll ist von Steuern, Miete oder Versicherungen. Und so gar kein Platz mehr dafür ist, sich über Gedichte Gedanken zu machen. Ein Tipp von mir, liebe Naina, die ich 8 Jahre älter bin als du und immer noch keine Haftpflichtversicherung abgeschlossen habe: Niemand kann dir beibringen, wie es ist, auf eigenen Beinen zu stehen und sein Leben in den Griff zu kriegen. Das musst du ganz für dich alleine rausfinden. Tut mir leid.

Natürlich ist Lisa auch bei Twitter. Folgt ihr.