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Sport

90 Minuten Schwimmen, Laufen und nach der Arbeit drei Stunden Fahrrad: Aus dem Leben eines Sportsüchtigen

"Ich trainiere, weil ich es muss."

Foto: imago | Zuma Press

Während Andreas mit seinem Fahrrad über die Strecke rast, klatscht ihm der Regen ins Gesicht. Der Boden ist rutschig. Es ist der 31. Juli 2016, Triathlon in Maastricht an der niederländisch-belgischen Grenze. Mehr als 1.700 Athleten sind an den Start gegangen. Sie alle müssen 3,86 Kilometer schwimmen, dann 180 Kilometer Radfahren und zuletzt noch über 40 Kilometer laufen. Einer von ihnen ist Andreas aus Köln. Das Schwimmen hat er bereits hinter sich. Andreas tritt kräftig in die Pedale. Weil es auf der Fahrradstrecke viele 90-Grad-Kurven gibt, muss er ständig abbremsen und neu beschleunigen. Andreas friert. Dann beginnen die Schmerzen.

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Ein Stechen in seiner Hüfte, auch der rechte Fuß tut ihm beim Treten in die Pedale weh. Andere Sportler hätten bei solchen Schmerzen vielleicht aufgehört, Andreas nicht. Er reiht Kilometer an Kilometer. Aufgeben kommt für ihn nicht in Frage. Denn er hat noch nie einen Wettkampf abgebrochen. Auch nicht in Frankfurt im vergangenen Jahr. 36 Grad heiß war es damals; ein Teilnehmer starb, weil er zu wenig Salz zu sich genommen hatte.

Nach 180 Kilometern geht es vom Rad zum Laufen. Nach 20 Kilometern muss er vor Schmerzen Gehpausen einlegen. Wäre er vernünftig gewesen, wäre er gar nicht erst angetreten. Sechs Monate lang war er zuvor verletzt. Im Januar stolpert er auf dem Rückweg vom Einkauf über eine Treppenstufe. Er knickt mit dem rechten Fuß um. Der Fuß schwillt an. Am nächsten Tag geht Andreas zum Arzt, Diagnose: Außenbandriss oder -anriss im Sprunggelenk. Andere mit so einer Verletzung hätten eine Trainingspause eingelegt, Andreas nicht. Jedes Mal wenn er schwimmt und sich am Beckenrand abstößt, schmerzt sein rechter Fuß. Er könne nicht aufhören, sagt er. Andreas glaubt, dass er sportsüchtig ist.

Seit fünf Jahren ist Andreas Triathlet, trainiert täglich. Der 41-Jährige fährt, schwimmt und läuft die Langdistanz, das, was man als "Ironman" kennt. Morgens 90 Minuten Schwimmen, dann zur Arbeit und abends noch mal drei Stunden auf der Rolle im Keller Radfahren; für Andreas, der freiberuflich bei einer Eventfirma in Köln arbeitet, ein ganz normaler Tag.

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"Sportsucht ist eine nicht so wirklich definierte Krankheit, es gibt noch keine allgemein akzeptierten diagnostischen Kriterien", erklärt Karsten Henkel, Oberarzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Aachen. Ob jemand sportsüchtig ist, lasse sich am einfachsten über die Symptome herausfinden. Denn nicht jeder, der viel Sport treibt, ist auch sportsüchtig. "Ein deutlicher Hinweis sind Entzugserscheinungen, die auftreten, wenn der Sportler mal einen oder mehrere Tage keinen Sport macht", sagt Henkel. Könne ein Sportsüchtiger wegen einer Verletzung längere Zeit nicht trainieren, so fühle er sich unausgeglichen, hilflos oder sogar aggressiv. Auch Schlafstörungen könnten auftreten. "Man nimmt an, dass rund ein bis drei Prozent aller Leistungssportler unter Sportsucht leiden. Vier bis fünf Prozent gelten als gefährdet." Bei Menschen, die extremen Ausdauersport wie Triathlon machen, könne der Anteil der Betroffenen sogar bei 20 bis 30 Prozent liegen. Auch in Fitnessstudios gebe es Sportsüchtige, so der Arzt. Genauere Zahlen zu dieser Krankheit gibt es nicht. Sportsucht ist bisher nur wenig erforscht.

Andreas konnte damals gar nicht aufhören. Er kann auch jetzt nicht aufhören. Denn wenn er keinen Sport macht, fühlt sich der 41-Jährige unausgeglichen, ist schnell gereizt. "Ich trainiere, weil ich es muss", sagt er. Wenn Andreas mal keine Lust auf Training hat, macht er es trotzdem. Das schlechte Gewissen ist sonst zu groß. "Manchmal mache ich schon vor der Arbeit Sport", sagt er. Eine Runde Laufen gehen oder Stabilisationsübungen, je nachdem, was der Trainingsplan ihm vorgibt. Um genug Zeit zum Trainieren zu haben, verschiebt er Verabredungen mit Freunden oder sagt sie ganz ab.

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"Dieser Spruch‚ 'gesunder Geist gleich gesunder Körper', so leicht ist das nicht", sagt Psychiater Karsten Henkel. Das Ziel sich ständig zu verbessern, könne irgendwann kippen. Den Sportlern entgleitet dann die Kontrolle, der Sport kann zum Ritual oder Zwang werden. "Jede freie Sekunde wird mit Sport gefüllt", sagt der Arzt. Sportsüchtige machten Sport nur noch aus schlechtem Gewissen, um nicht unruhig zu werden oder wieder gute Stimmung zu haben.

Zu Andreas' Leben gehört Sport von Anfang an dazu. Und dass, obwohl er in seiner Kindheit sogar etwas dicklich gewesen sei, sagt er. Während der Grundschule kickt er im Fußballverein, später kommt Tennis dazu. Als er beginnt, Theater, Film- und Fernsehwissenschaften in Köln zu studieren, wechselt er die Sportarten. Der Kölner beginnt mit Taekwondo und Laufen. Bald ist der erste Marathon dran. Zunächst rennt er 50 bis 60 Kilometer die Woche, dann 70 bis 80. Nach fünf Marathons reicht ihm das nicht mehr, er will seine Grenzen kennenlernen. "Ab einem gewissen Punkt steht man vor der Frage, ob man noch schneller laufen könnte oder noch weiter", sagt Andreas. Die Unzufriedenheit ist ein schleichender Prozess. Nur lange Strecken laufen, das wird Andreas zu langweilig. Wie weit kann er gehen? Vor fünf Jahren hat Andreas eine neue Herausforderung gefunden: Triathlon. Hier kommt er regelmäßig an seine Grenzen, kann sich ständig steigern. So viel Sport hat Andreas bisher noch nie gemacht.

Dass der Kölner vermutlich krank ist, wissen nur seine Freundin und wenige Freunde. Mit ihnen hat darüber gesprochen. Darüber, dass etwas mit ihm und seinem Sport vermutlich nicht stimmt und darüber, dass er zu einem Arzt gehen möchte. Seinem Triathlon-Trainer hat er es nicht erzählt, er glaubt aber, dass der etwas ahnt. Warum sonst habe der ihm gesagt, dass er auch dann ruhigen Gewissens in einen Wettkampf gehen könne, wenn er nur 80 Prozent seines Wochenplans erfüllt habe. Aber das kann Andreas nicht. "Bei mir ist das so", sagt er. "Wenn da steht: '100 bis 130 Kilometer Radfahren', dann habe ich bei 129 Kilometern ein schlechtes Gewissen und fahre vorsichtshalber 131 Kilometer." Steht in seinem Trainingsplan, dass er Pause machen soll, macht Andreas statt Pause Stabilitätsübungen. Wenn er so darüber rede, dann sei auch ihm klar, dass er zu viel mache, sagt er. Nur etwas daran zu ändern, das sei verdammt schwierig.

"Eine Essstörung gehört häufig mit dazu", sagt Karsten Henkel. Viele Sportsüchtige fühlten sich zu dick, obwohl sie objektiv sogar untergewichtig seien. In der Behandlung gehe es zunächst darum, dass die Sportsüchtigen einen realistischen Blick auf die eigene Situation bekommen. Dann müssten sie lernen, die Kontrolle über ihre Handlungen zurückzubekommen. Therapeut und Sportsüchtiger stellen dann einen gemeinsamen Plan auf. Ziel ist es, weniger Sport zu machen. Manchmal würden auch Medikamente zur Beruhigung eingesetzt.

Andreas wiegt sich täglich. Zufrieden ist er nur, wenn dort eine kleinere Zahl steht als am Tag zuvor. Mit seinen 1,80 Meter wiegt er um die 70 Kilogramm. Ab 65 gilt man nach dem Body Mass Index als magersüchtig. Abends gemeinsam Essen gehen, das machen seine Freundin und er immer seltener. Es mache ihr keinen Spaß, sagt Andreas. Im Restaurant bestellt er sich höchstens eine Suppe. Seine Freundin ist dann genervt. Zusammen gemeinsam Kochen, das geht auch nicht. Andreas macht sich lediglich seinen Salat, seine Freundin kocht sich etwas anderes. Früher, da mochte er gerne Sushi. Das einzige Gericht, bei dem er mehr gegessen hat als seine Freundin. Doch irgendwie sei das jetzt vorbei, sagt Andreas. Das schlechte Gewissen, wenn er viel esse, sei zu groß. Auch Fleisch isst der 41-Jährige nicht. Er nimmt kaum Kohlenhydrate zu sich, wenig Reis, kaum Kartoffeln oder Nudeln. Brot so gut wie gar nicht. Nur viel Rohkost.

Den Triathlon in Maastricht hat Andreas trotz der Schmerzen bis zum Ende durchgezogen. Zufrieden mit seiner Leistung war er nicht. Das schlechte Wetter, die kurvenreiche und rutschige Strecke, seine Schmerzen, so hatte er sich das eigentlich nicht vorgestellt. Dabei wäre Andreas gerne zufrieden mit sich und gelassener. Anfang nächsten Jahres möchte er sich in Behandlung begeben. Jedoch nicht, um weniger Sport zu machen, sondern, um sich noch weiter zu steigern.